Wimpern und Nägel: Geschlecht ist auch nur eine Performance

Super Safe Space „Gender-Affirming Care“ nennt sich in der Transgeschlechtlichkeit die geschlechtsbestätigende Behandlung. Das ist auch cisgeschlechtlichen Personen nicht unbekannt: Ob Nägel lackieren oder Gewichte heben – so performen wir unser Geschlecht
Ausgabe 13/2024
Für den entzückenden Augenaufschlag: Long Lashes
Für den entzückenden Augenaufschlag: Long Lashes

Foto: Giorgio Trovato/unsplash

Neulich habe ich mir die Wimpern liften lassen. Bei diesem recht lustigen Vorgang werden die Wimpern nach oben gebogen und chemisch fixiert. Dann färbt man sie schwarz und hat eine Art dauerhaften Wimperntusche-Effekt. Ich will ehrlich sein: Es macht keinen weltbewegenden Unterschied. Trotzdem fühle ich mich besser. Nicht unbedingt hübscher oder attraktiver, einfach besser. Wenn ich im Spiegel den marginal auffälligeren Wimpernkranz begutachte, kommt ein Glücksgefühl in mir auf. Ich konnte mir das nicht ganz erklären, bis ich mich am selben Nachmittag mit meiner Freundin Lilith traf.

Lilith war im vergangenen Jahr zu Besuch in den USA und hat sich dort aus lauter Langeweile Acrylnägel machen lassen. Die Nägel werden dabei künstlich verlängert und verstärkt. Kommentare wie „Ich mag es ja lieber natürlich“ gibt es als steuerfreie Zuwendung obendrauf. Jedenfalls, erzählte Lilith, vermisse sie ihre langen Nägel, damit habe alles mehr Spaß gemacht. Das Tippen auf dem Handy, das Gestikulieren. Sie habe sich irgendwie besser gefühlt. In diesem Moment ging mir ein Licht auf. Ich blinzelte mit meinen frischen Klimperwimpern. „Ist das Gender Euphoria?“ Trans Menschen berichten vom Gefühl innerer Zufriedenheit, wenn ihre Geschlechtsidentität bestätigt wird. Diese Bestätigung kann von außen kommen, aber es gibt auch die körperliche Euphorie. Das Gefühl, in den Spiegel zu blicken und eine Frau zu sehen oder eben einen Mann. Gerade für trans Jugendliche kann dieses Erlebnis lebensrettend sein.

Eine derart wichtige Funktion erfüllt „Gender Euphoria“ bei cisgeschlechtlichen Frauen wie Lilith und mir natürlich nicht. Cisgeschlechtlich sind Menschen, deren Geschlechtsidentität mit dem anhand der Genitalien zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt. Wir kennen das Gegenstück nicht, die Genderdysphorie, bei der man ständig als eine Person behandelt wird, die man nicht ist. Die Erleichterung, wenn dieser Leidensdruck abfällt, ist sicher nicht vergleichbar mit Liliths Freude über ihre Nägel. Trotzdem bin ich überzeugt, dass beides aus der gleichen Quelle kommt.

Ob wir cis oder trans, männlich oder weiblich, binär oder nichtbinär sind, wir sind in erster Linie Menschen. Wichtiger als jedes Schönheitsbedürfnis ist Menschen die soziale Bindung, die Gewissheit, Teil einer Gruppe zu sein. Um unseren Platz in der Gruppe zu sichern, wollen wir ihren Erwartungen entsprechen. Deshalb, so mein Verdacht, erfüllt es mich mit Glück, Maßnahmen an mir vornehmen zu lassen, die meine Erscheinung als Frau unterstreichen. Geschwungene Wimpern, lange Nägel, meine Gruppe hat mir beigebracht, dass so eine Frau aussieht. Also freue ich mich, wenn ich diese Erwartungen mit Fleißbienchen erfüllen kann. Für diese Maßnahmen gibt es übrigens auch eine Bezeichnung, die ursprünglich aus der Transgeschlechtlichkeit kommt: Gender-Affirming Care, also geschlechtsbestätigende Behandlung. Meiner Auffassung nach tun das cisgeschlechtliche Menschen tagtäglich, auch wenn wir es nicht so nennen. Oder wie ist das, wenn der 15-jährige Knirps plötzlich ins Fitnessstudio rennt, um breit und stark zu werden? Welche Funktion erfüllen Brustvergrößerungen? Haarentfernung? Breitbeiniges Sitzen, Krawatten, hochhackige Schuhe? „We’re all born naked, the rest is drag“, sagte der als Dragqueen bekannte US-amerikanische Schauspieler RuPaul einmal. Geschlecht ist eine Performance. Meine Wimpern performen jetzt ein kleines bisschen besser.

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Geschrieben von

Özge İnan

Redakteurin, Social Media

Özge İnan hat in Berlin Jura studiert. Währenddessen begann sie, eine Kolumne für die Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline zu schreiben. Nach ihrem ersten juristischen Staatsexamen folgten Stationen beim ZDF Magazin Royale und im Investigativressort der Süddeutschen Zeitung. Ihre Themenschwerpunkte sind Rechtspolitik, Verteilungsfragen, Geschlechtergerechtigkeit und die Türkei.

Foto: Léonardo Kahn

Özge İnan

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