„Als vor 100 Jahren Noske fliehen musste“

Walter Müller Unter diesen Namen erschien 1930 die realpolitische Utopie einer siegreichen Novemberrevolution. Das Buch ist wieder erhältlich, der Autor unbekannt

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9. November 1918: Sozialisten stürmen über den Hof des Königlichen Schlosses in Berlin
9. November 1918: Sozialisten stürmen über den Hof des Königlichen Schlosses in Berlin

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Es war sowieso schon lange still geworden um das Jubiläum der Novemberrevolution. In der ersten Jahreshälfte war der 100 Jahrestag Anlass für manche sinnvolle Ausstellung und manchen lehrreichen historischen Spaziergang. Vor allem der Chronist der linken Geschichte Bernd Langer, der am 5. Januar mit seinen Spaziergang vom Brandenburger Tor zum Rosa Luxemburg Platz die Jubiläumsveranstaltungen eröffnete (siehe: https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/alle-macht-den-raeten-noch-immer-aktuell) und hier ein Video von dem Spaziergang (https://zweischritte.berlin/post/189461592308/alle-macht-den-räten), muss hier erwähnt werden. Ebenso der Historiker Dietmar Lange, der mit einer Ausstellung und mehreren Spaziergängen an den Terror der Staatsgewaltgegen rebellische Arbeiter*inne im März 1919 erinnerte, der mindestens 1200 Todesopfer gefordert (https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/der-vergessene-terror-im-maerz-1919-in-berlin) hat. Lange hat auch aufgezeigt, dass die Konterrevolution auf Befehl von Noske und Co. die Arbeiter*innenquartiere bombardieren lies.Doch was wäre gewesen, wenndie Revolutionär*innen1918 gesiegt hätten? Eigentlich verbieten sich solche spekulativen Fragen in der Historie.Doch bereits 1930 hat ein Walter Müller diese „realpolitische Utopie“ aufgeschrieben. So lautete der Untertitel im Malik Verlag veröffentlicht Buch „Wenn wir 1918 ….“. Hinter den drei Pünktchen kann man vervollständigen, nicht den Kriegssozialdemokrat*innen auf den Leim gegangen wären, ihren Lügen nicht geglaubt hätten, mit den alten Gewalten Schluss gemacht hätten, wie in Russland 1917, könnte man ergänzen. Denn das Buch beginnt mit zahlreichen Meldungen im Telegrammstil unter dem Signet des SPD-Parteiorgans Vorwärts. Da heißt es scheinbar noch historisch korrekt am 10.November 1918 „Die Ketten sind gebrochen. Die Macht des Kaiserreichs ist zusammengebrochen wie ein Kartenhaus“. Doch schon ein Tag vorher setzt die realpolitische Utopie an. Am 9.November 1918 lautet die Meldung: „Sieg der Revolution! Noske in Kiel von roten Matrosen festgenommen“ Ebert im Flugzeug nach Holland entflohen!“Dort hätte der Sozialdemokrat von Kaisers Gnaden auch weniger Schaden angerichtet. Im Telegrammstil geht es weiter und schon am 16.November 1918 wird die Ankunft von Lenin in Berlin vermeldet. Dass macht deutlich, welch enormen Einfluss die Revolution 1917 in Russland auf die Linke in Deutschland jener Jahre hatte und wie hoch im Kurs vor allem Lenin persönlich für viele Menschen stand, die keine Kommunist*innen waren. Von dem Autor ist wenig bekannt, allerdings, dass er bis zum Schluss SPD-Mitglied und Gewerkschaftsfunktionär in Breslau gewesen sei.

Kein linkes Wolkenkuckusheim

Wer nun erwartete, dasshier eine kommunistische Idylle aufgebaut wird, sei gleich gewarnt. Das Buch ist auch insofern eine realistische Utopie, als kein linkesKuckucksheim aufgebaut wird. Denn schon bald nach dem Erfolg der Revolution erklärt die Entente Rätedeutschland und seinen Verbündeten den Krieg. Es kommt zu blutigen und verlustreichen Schlachten. Die Berichte lesen sich wie Heeresberichte. Da werden Truppen verschoben und da wird wieder mal eine Division vernichtet. Da könnte man auch von einer realen Dystrophie sprechen, wenn sich das Ganze dann sogar zu einem Weltkonflikt ausweitet und am Ende nur knapp die sozialistische Seite siegt. Da könnten sich die Reformist*innen im Nachhinein bestätigt sehen, die ja die revolutionären Veränderungen auch mit der Begründung abgelehnt hatten, dann würden die Entente-Mächte in Deutschland einmarschieren. Auch über Arbeitszwang und manch andere diktatorische Maßnahme, diehier vorgeschlagen wurde, stolpert die Leserin und der Leser heute. Doch es gibt auch schon den Vorschein der Utopie, wenn darüber geredet wurde, dass aktuell noch Arbeitszwang zum Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Gebiete nötig ist, bald aber dieZeit, die für die Lohnarbeit aufgebracht werden muss, immer mehr gesenkt werden kann. In dem Buch sind solche Schritte schon angekündigt. Es handelt sich also nicht um ein Verschieben auf eine ferne Zukunft. Interessanterweise spielen nationale Grenzen in dem Buch keine Rolle, es wird global gedacht. Der Autor ging wohl selbstverständlich davon aus, dass es den Sozialismus in einen Land nicht geben kann. Da gab es dann auch schon Überlegungen, wie mit den realen Unterschiede der Kontinente und Länden in Bezug auf Klima, Bodenschätze etc. umgegangen werden sollte. Da gab es schon die vernünftige Ansicht, dass es in einer kommunistischen Weltgesellschaft keine Rolle spielen darf, ob jemand in einen Land mit vielen oder mit gar keinen Bodenschätzen geboren wurde und ob es sich um eine Wüste oder um eine Kornkammer handelt. Es ist selbstverständlich, dass in denGebieten mit der am weitesten entwickelten Industrie die Güter für alle Menschen in der Welt hergestellt werden soll und die Landwirtschaft in den Kornkammern sorgt auch für die Bewohner*innen in Wüsten –oder Hochwassergebieten. Die Menschen wären also nicht mehr gezwungen für ein menschenwürdiges Leben in die Gebiete der ersten Welt zu fliehen und dort, wenn sie überhaupt ankommen und bleiben können, am untersten Rand leben müssen. Vielmehr sorgt die Technologie der ersten Welt auch für die Menschen, der Gegend, für die es dann keinen Grund mehr gibt, sie dritte Welt zu nennen.

Der unbekannte Autor

Der Autor war ein Sozialdemokrat und Gewerkschafter aus Breslau. Er und auch sein Buch waren total in Vergessenheit geraten, bis vor fast 20Jahren die sozialistische Historikerin DorisKachulle sich auf die Suche nach den verschwundenen Buch gemacht hat. Es gab nur einen Eintrag in der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ der NS-Behörden. Dort heißt es: Mueller, Walter: „Wenn wir 1918“ Berlin Malik Verlag-Verlag 1930“ Über den vergessenen Autor des Buches schrieb Kachulle2003 in der jungen Welt einen Artikel, der am Schluss des Buches abgedruckt ist: „Von Walter Müller wissen wir nur, dass er im damaligen Breslau Gewerkschaftsfunktionär war, dass er offenbar bis zuletzt der SPD angehörte und 1933 von den Nazis ermordet wurde“. Kachulle kritisierte mit Recht, dass von den SPD-nahen Institutionen keine Mühe aufgewandt wurden, umüber ihren Parteigenossen zu forschen. Doch warum sollten wir das von einer Stiftung fordern, die den Namens jenes Friedrich Ebert trägt, den Müller schon am 9.November 1918 ins Exils schickte? Es gibt doch zum Glück auch parteiunabhängige Historiker*innen und Forschungsstellen, die sich dieser Aufgabe widmen könnten. Es stellt sich vielmehr die Frage, warum ist so gut wie nichts über den Autor bekannt, der das Buch schließlich 1930 im in linken Kreisen nicht unbekannten Malik-Verlag herausbrachte? Gab es keine Reaktionen auf das Buch, in Form von Rezensionen oder von Reaktionen der Partei, in der der Autor anscheint bis zum Schluss war, obwohl er ausweislich des Buches politisch das Gegenteil wollte? Da sollten wir uns vielleicht auch mal die Frage stellen, ob der Name nicht ein Pseudonym ist und es deshalb bisher nicht gelungen ist, den gar nicht existierenden Walter Müller aus Breslau zu finden. Die Überlegung klingt plausibel. Kann ein SPD-Mitglied, dazu noch hauptberuflicher Gewerkschaftsfunktionär, ein solches Buch unter seinen Namen verfassen, ohne massive Konsequenzen bei Beruf befürchten zu müssen? Wohl kaum. Da lag doch ein Pseudonym sehr nahe. Dem BS-Verlag-Rostock ist zu danken, dass das Buch wieder erhältlich ist. Es ist allen zu empfehlen für die das Jubiläum der Novemberrevolution kein Tourismusevent war. Leider wird der Verlag zum Jahresende Geschichte sein, wie auf der Homepage zu lesen ist. Das Buch kann allerdings auch bestellt werden.

Bernd Langer in der Nachfolge von Bernd Engelmann

Wie es dann nicht in der realpolitischen Utopie sondern in der deutschen Realität weitergegangen ist, erzählt uns der Chronist der linken Geschichte Bernd Langer in seinen in einigen Wochen im Unrast-Verlag erscheinenden Band „Kapp-Putsch und antifaschistischer Widerstand 1920-1921“. Es ist die Fortsetzung des im letzten Jahr im gleichen Verlag erschienenen Buch „Flamme der Revolution“ über die Kämpfe der Arbeiter*innen in den Jahren 1918/19. Hier erweist sich Langer, der sich in der Göttinger Antifabewegung politisiert hat (https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/eine-linke-geschichte), als Nachfolger von Bernd Engelmann. Der hattein den 1970er Jahren mit seinen drei Anti-Geschichtsbüchern, die damals im Fischer-Verlag erschienen, seinen Beitrag dazu geleistet, dass junge Menschen Lust bekamen, sich mit Geschichte zu beschäftigen. Denn Engelmann verstand es, linke Geschichte so spannend zu erzählen, dass der Leser oder die Leserin den Eindruck hatte, sie oder er wäre dabei gewesen.Nun hat er mit Langer einen Nachfolger gefunden, die über die Tage und Wochen im März 1920 erzählt, als die Vorläufer der Nazis nicht durch kamen.

Peter Nowak

Müller Walter, Wenn wir 1918…. Eine realpolitische Utopie,BS-Verlag Rostock,282 Seiten, ISBN 9783899540215

https://www.mv-taschenbuch.de/shop/nach-buchtitel/w/406_wenn-wir-1918-.html

Zu den beiden Büchern des linken Chronisten Bernd Lager:

Flamme der Revolution, Unrast Verlag, 440 Seiten, 24, 80 Euro, ISBN 978-3-89771-234-8

https://www.unrast-verlag.de/neuerscheinungen/die-flamme-der-revolution-detail

Erscheint wenigen Wochen:

Kapp-Putsch und antifaschistischer Widerstand 1920-1921, Unrast Verlag, 24 Euro, ISBN978-3-89771-279-9

https://www.unrast-verlag.de/vorankuendigungen/kapp-putsch-und-antifaschistischer-widerstand-detail

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Geschrieben von

Peter Nowak

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