Varian Fry (Mitte, mit Brille) vor der Villa Air Bel in Marseille, wo er Verfolgte versteckte, bevor er ihnen zur Flucht verhalf
Fotos: Andre Gomes/United States Holocaust Memorial Museum, privat (unten)
Es war eine der größten Fluchtbewegungen in der Geschichte Europas: 1940 überfiel die Wehrmacht Frankreich. Die Nazis waren der geistigen Elite, die sich nach 1933 in dem Land vorerst in Sicherheit gewähnt hatte, auf den Fersen. Viele Intellektuelle saßen am Ende in Marseille fest. Unter ihnen Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Hannah Arendt, Heinrich Mann. Uwe Wittstock fügt in Marseille 1940 – nach seinem Bestseller Februar 33 über die ersten Tage von Hitlers Diktatur – die Einzelschicksale vieler Emigranten zu einer kollektiven Tragödie zusammen. Deren zentrale Figur ist der Amerikaner Varian Fry, der mit seiner Organisation Emergency Rescue Comittee namhaften Intellektellen und Künstlern Ausreise und Flucht ermöglichte.
der Fre
öglichte.der Freitag: Herr Wittstock, beim Lesen des Klappentextes von „Marseille 1940“ gewinnt man den falschen Eindruck, Sie interessierten sich ausschließlich für die Fluchtgeschichten deutschsprachiger Literatinnen und Literaten wie Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Anna Seghers oder Walter Benjamin. Dabei beschreiben Sie ebenso detailliert, was mit französischen Künstlern wie Marc Chagall, André Breton oder Marcel Duchamp geschah.Ein kurzer Klappentext kann nie den ganzen Inhalt eines Buches wiedergeben. Weshalb die Nazis die Juden und deutsche Hitlerfeinde in Frankreich jagten, ist selbst auf den wenigen Zeilen leicht zu erklären. Weshalb sie auch französische Künstler verfolgten, ist schwerer begreiflich zu machen. Also habe ich mir das für die Geschichten aufgehoben, die ich im Buch erzähle.Wie haben Sie beim Schreiben des Buches die tagespolitischen Diskussionen über die sogenannte Flüchtlingskrise wahrgenommen?Natürlich habe ich die Diskussionen verfolgt. Aber ich glaube, schon wenn man von „Krise“ spricht, fällt man auf die Propaganda der AfD herein. Ohne Migration wäre der Wohlstand in unserem Land gar nicht aufrechtzuerhalten. Natürlich sind da auch Probleme, aber ohne Migration stünden wir vor noch viel größeren Schwierigkeiten.Sie haben zahllose Schauplätze Ihres Buches bereist. Was glaubten Sie dort – fast 85 Jahre nach den Geschehnissen – zu finden?In Marseille 1940 geht es mir darum, das Elend der Exilanten während des Kriegs so lebendig und eindringlich wie möglich zu schildern. Ich erzähle von ihrer Not – und jeder, der erzählt, braucht nicht nur Fakten, sondern auch so viele sinnliche Eindrücke wie möglich. Ich bin immer wieder nach Frankreich gefahren, um die Schauplätze von damals zu sehen, die Landschaften und Ortschaften. Ich bin auf dem Pfad, auf dem Walter Benjamin 1940 über die Pyrenäen nach Spanien floh, über die Berge gegangen.Klingt anstrengend …Ja, meine Hochachtung vor Benjamin ist noch weiter gestiegen. Oder ich habe das Château Pastré in Marseille besucht, in dem damals das amerikanische Konsulat untergebracht war und wo die halbe literarische Elite der Weimarer Republik angestanden hat, um US-Visa zu bekommen. Das war schon deshalb eine eindrucksvolle Erfahrung, weil die Pracht dieses Schlosses in einem schmerzhaften Kontrast stand zu der Not der Fliehenden.Im Vorwort schreiben Sie: „für alles, was hier erzählt wird, gibt es Belege, nichts wurde erfunden“. Manchmal schlüpfen Sie in die Innenperspektive der Figuren, beschreiben, was sie in einem Moment gerade denken. Ist das nicht ein wenig heikel?Ich erzähle von den Fluchten aus Frankreich ganz eng entlang der Erinnerungen, die die historischen Personen in Briefen, Tagebüchern, Autobiografien, Interviews hinterlassen haben. Es ist ein Buch, das die Dramen dieser Flucht anhand der Erinnerungen der Beteiligten rekonstruiert. Nicht jede dieser Erinnerungen ist hundertprozentig präzise, das sind Erinnerungen nie. Deshalb würde ich nie behaupten, es handele sich in jedem Punkt um historische Tatsachen. In der Genauigkeit, die man fürs Erzählen braucht, lassen sich historische Geschichten ohnehin nicht ermitteln. Aber wenn eine der Schriftstellerinnen oder einer der Künstler in seinen Erinnerungen von der Angst berichtet, die sie oder er in einer bestimmten Situation erlebt hat, oder von ihren Gedanken, dann kann ich im Buch auch von dieser Innenperspektive erzählen.Alle von den USA aus agierenden Hilfskomitees hatten strikte Order, Kommunisten und mit Kommunisten sympathisierende Asylsuchende nicht ins Land zu lassen. Es reichte schon der Verdacht, „links“ zu sein. Für viele kam das einem Todesurteil gleich. Begann schon hier die Ära einer Hexenjagd, die in den 1950ern vom Kommunistenjäger McCarthy geprägt werden sollte?Das müsste man wohl besser einen Historiker fragen, der auf amerikanische Geschichte spezialisiert ist. Jedenfalls waren die amerikanischen Behörden in ihrer Furcht vor politischen Extremisten auffällig einseitig: Jeder Flüchtling musste, wenn er ein Visum wollte, beantworten, ob er jemals in einer kommunistischen Partei war. Nach der Mitgliedschaft in einer faschistischen Partei wurde nie gefragt.Der Publizist Walter Mehring nimmt einen großen Platz in Ihrem Buch ein. Sein wohl berühmtestes Werk ist die „Verlorene Bibliothek“ aus dem Jahr 1951, in der er untersucht, „welche ererbten Werte weiter gültig sind für uns und welche unerfüllten Hoffnungen sie uns gaben“. Konnten Sie bei Ihren Recherchen Ihnen bislang unbekannte Werke für Ihre eigene Bibliothek hinzugewinnen?Ja, ich habe bei den Recherchen zu Marseille 1940 viele großartige Bücher kennengelernt, die ich noch nicht gelesen hatte. Walter Mehrings Chronik der Lustbarkeiten zum Beispiel.... die Sammlung der Gedichte, die Mehring in der Weimarer Republik schrieb.Ja, das sind sehr witzige, satirische Texte, in denen er schon früh die Nazis aufs Korn nahm. Oder die Erinnerungen Mein Weg über die Pyrenäen von Lisa Fittko, einer Kommunistin, die zusammen mit ihrem Mann Hans unter Einsatz ihres Lebens ein halbes Jahr lang Flüchtlinge über die Pyrenäen nach Spanien schmuggelte. Sie war nicht nur eine echte Heldin, sondern auch eine gute Schriftstellerin. Oder die Autobiografie von Mary Jayne Gold, einer Mitarbeiterin von Varian Fry, die in Marseille eine sehr eigensinnige Liebesgeschichte erlebte, eine Amour fou mit einem zehn Jahre jüngeren Deserteur, der sie bestahl und sie doch über die Maßen liebte. Leider ist Golds Buch nie in Deutschland verlegt worden und die englische Originalausgabe fast nicht mehr zu bekommen.Die Technik, filmisch zu erzählen, die Einzelschicksale geschickt zu einer Schicksalsgemeinschaft miteinander zu montieren, haben Sie schon in Ihrem Vorgängerbuch „Februar 33. Der Winter der Literatur“ angewandt. Auch Florian Illies hat dieses erzählerische Verfahren perfektioniert. Gibt es hierfür ein besonderes Vorbild – etwa die Studie „1926. Ein Jahr am Rand der Zeit“ des Literaturwissenschaftlers Hans Ulrich Gumbrecht?Ich schätze das Buch von Gumbrecht und auch die Bücher von Florian Illies. Aber letztlich war es der Stoff, der mir die Form diktierte. Ich schildere die Fluchtgeschichten von ungefähr einem Dutzend Personen und den Aufbau einer Fluchthilfeorganisation zuerst in New York, dann in Marseille. Um die zahllosen Zwischen- und Wechselfälle auf diesen vielen Wegen verständlich und in der chronologischen Reihenfolge einleuchtend darzustellen, musste ich fast zwangsläufig auf eine szenische Schnitttechnik kommen, um den Fortgang der Handlung auf zwei Kontinenten und in den Biografien so vieler Menschen einleuchtend zu erzählen. Wenn das Ganze dann den Eindruck fast filmischer Anschaulichkeit einstellt, nehme ich das als ein schönes Kompliment.Haben Sie – wohl abgesehen vom Fluchthelfer Varian Fry – eine Lieblingsfigur in Ihrem Buch?Neben Lisa und Hans Fittko, diesem unfassbar mutigen Paar, ist das wohl Mary Jayne Gold. Sie war anfangs eine Art It-Girl, bildschön und Erbin eines riesigen Vermögens. Um ja nichts zu versäumen, hatte sie sich in den 30er Jahren ein Flugzeug zugelegt, mit dem sie als Pilotin zu jeder wichtigen Party des Kontinents flog. Gestern St. Moritz, heute Cannes, morgen Venedig. Als die Deutschen Frankreich angriffen, verschenkte sie das Flugzeug an die französische Armee und blieb im Land, das sie so sehr liebte. In Marseille wurde sie – die noch nie gearbeitet hatte – Mitarbeiterin von Varian Fry, übernahm heikle Aufträge für ihn und spendete über eine halbe Million Dollar für Frys Organisation. Und damals hatte der Doller einen x-fachen Wert des Dollars von heute. Dazu kam diese unglaubliche Liebesgeschichte mit dem Soldaten der Fremdenlegion. Er hatte den bezeichnenden Spitznamen „Killer“. Er desertierte und machte als Gangster Karriere in der Unterwelt Marseilles. Die beiden wohnten in einem Bordell und bevor sie abends ins Bett gingen, legte „Killer“ seinen geladenen Revolver auf den Nachttisch. Filmreif.
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