Nikolaus Lelle über Begriff von Arbeit in der NS-Zeit: „Was davon lebt bis heute fort?“
Interview Ist unser Begriff von Arbeit von der NS-Zeit geprägt? Diese Frage untersucht der Philosoph Nikolaus Lelle in seiner Forschung. Im Gespräch erzählt er von seinen Erkenntnissen
Aufs Mitmachen eingeschwört: Angehörige des Reichsarbeitsdienstes (RAD) üben für einen Aufmarsch
Foto: Berliner Verlag/dpa
Hartnäckig hält sich auch 90 Jahre nach der sogenannten Machtergreifung, dass die Deutschen ein besonderes Verhältnis zur Arbeit hätten. Wie diese Ideologie mit Nationalsozalismus und Antisemitismus zusammenhängt und was das für die Gegenwart der Arbeit bedeutet, hat der Philosoph Nikolas Lelle untersucht.
der Freitag: Herr Lelle, wie kamen Sie dazu, sich mit dem Stellenwert von Arbeit in der NS-Ideologie zu befassen?
Nikolas Lelle: Ich habe mich mit Kritischer Theorie beschäftigt und bin schnell zu der Frage gelangt, welche Rolle Ökonomie im Antisemitismus spielt. In der Holocaust-Forschung ist mir eine Lücke aufgefallen: Es gibt kaum Texte zur Rolle von Arbeit. Und das, obwohl „Arbeit macht frei“ über dem Tor von Auschwitz steht
Und das, obwohl „Arbeit macht frei“ über dem Tor von Auschwitz steht.In Ihrem Buch „Arbeit, Dienst und Führung“ untersuchen Sie die Ideologie der deutschen Arbeit. Was macht sie aus?Zur Arbeitsauffassung der Nationalsozialisten gehört die Behauptung, die Deutschen hätten ein besonderes Verhältnis zur Arbeit. Aber das haben die Nazis nicht erfunden. Schon im 19. Jahrhundert wurde die Frage virulent, was eigentlich deutsch ist. Geht man zu Martin Luther zurück, findet man den Anfang des modernen Antisemitismus. Er behauptet, dass „wir Deutschen“ ehrliche Arbeit leisten, wie Luther es nennt, während die Juden und Jüd*innen, so Luther, faul wären und in Reichtum lebten, ohne zu arbeiten.Was folgt aus dieser Ideologie?In dieser Vorstellung wird deutsche Arbeit als Dienst an der Volksgemeinschaft definiert. Die Anti-Arbeit wird den Juden zugeschrieben: eine Rastlosigkeit, die zersetzt. Im Antisemitismus und seiner Vernichtungsideologie ergibt sich der Schluss, es gäbe Menschen, bei denen es nicht reicht, sie zur Arbeit zu zwingen.Diese Vernichtungsfantasien gibt es im 19. Jahrhundert noch nicht, oder?Manche Antisemitismusforscher sagen, dass der Judenhass immer schon voll von Vernichtungsfantasien ist. Die Vernichtungsideologie hat zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder eine Rolle gespielt. Die Nazis radikalisieren diese Vorgeschichte, weil sie den Begriff der Volksgemeinschaft ins Zentrum stellen und klarmachen: Jede*r, der*die sich ihr entzieht, verrät sie.Welchen Zweck erfüllt diese Ideologie im deutschen Faschismus?Man muss zwischen den Jahren 1933 bis 1945 und der Zeit davor unterscheiden. Denn der Nationalsozialismus fällt nicht vom Himmel. Er entsteht in München, nach dem Ersten Weltkrieg, als sich neben vielen anderen rechtsradikalen Gruppen die NSDAP konstituiert. Die fängt direkt an, ihren Antisemitismus über Arbeit aufzuziehen. Ab 1933 geht es darum, die deutsche Bevölkerung aufs Mitmachen einzuschwören: Aufmärsche, Deutsche Arbeitsfront, Praktiken der Erfahrbarmachung von deutscher Arbeit. Der Antisemitismus ist die Grundlinie und nach dem Ausschluss der Jüd*innen und Juden konnte man sich in der Volksgemeinschaft überall zur Mitarbeit verpflichten.Gemeinschaft und das „für Andere“ waren wichtig für die Selbstbeschreibung der Nazis.Hitler sagte 1920, deutsche Arbeit wäre eine Arbeit, die man nicht für sich selbst tut, sondern „für Andere“. Aber das heißt nicht für alle anderen. Wenn er von gemeinnütziger Arbeit spricht, meint er Gemeinnutz für die Volksgemeinschaft. Der Fluchtpunkt dieser Argumentation ist der Soldatentod – das Leben für die antisemitisch konzipierte Gemeinschaft zu geben.Ein anderer Satz im Nationalsozialismus ist schwer verständlich: „Arbeit macht frei“. Der Autor und Auschwitz-Überlebende Primo Levi fragte sich, wessen Freiheit da eigentlich gemeint ist. Was denken Sie?Wessen Arbeit macht wen frei – so müsste man die Frage stellen. In Sachsenhausen hieß es, es gäbe nur eine Freiheit, und zwar durch den Schornstein. In einem Text von 1943 schreibt aber ein Deutscher: Unsere Arbeit macht uns frei. Das war offensichtlich nicht nur eine zynische Parole, um diejenigen zu verhöhnen, die man zu brutalster Arbeit gezwungen hat. Es ist eine ganz zentrale Devise des Nationalsozialismus, die man mit „Jedem das Seine“ zusammendenken muss, der Parole in Buchenwald. Das heißt, für die verschiedenen Gruppen, die die Nazis in ihrem Kopf entwickelt haben, gibt es angepasste Arten zu arbeiten. Einige sollten zur Arbeit erzogen, manche gezwungen und andere sollten durch Arbeit vernichtet werden.Sie schauen sich Texte von Hitler, Martin Heidegger und Ernst Jünger an – denn alle drei haben über Arbeit geschrieben.Zunächst ist irritierend, dass ich so viel über Hitler spreche, denn die Forschung zum Nationalsozialismus hat – zu Recht – jahrzehntelang gegen die Vorstellung angeschrieben, Hitler wäre zentral für den Nationalsozialismus. Aber für die Arbeitsauffassung ist Hitler schon wichtig, weil er früh Grundformeln setzt, die dann immer wieder benutzt werden. Trotzdem spielen andere auch eine Rolle. Der Schriftsteller Jünger hat schon in den 1920ern ein Buch über Arbeit geschrieben – Der Arbeiter –, in dem die Deutschen eine Vorreiterrolle einnehmen. Heidegger hat als Präsident der Freiburger Universität Reden über Arbeit gehalten. Er spricht vom Dienen, unter anderem vom Wissensdienst, den die Studierenden verrichten. Aber ich gucke mir vor allem Texte von weniger berühmten Leuten an.Dabei ist Reinhard Höhn interessant. Er hat einen Begriff von Arbeit, den man nicht unbedingt mit einer militarisierten Gesellschaft assoziiert.Wenn der Dienst an der Volksgemeinschaft in Arbeitspraktiken übersetzt wird, geht es kaum noch um das Dienen, und wenn die Nationalsozialisten in Betrieben über ihre Arbeit nachdenken, dann müssen sie auf Begriffe wie Eigenverantwortung, Freiheit, Leistung zurückgreifen. Als sie glaubten, sie wären unter sich, als alle Jüd*innen und Juden, alle Bummelanten ausgeschlossen waren, setzten sie darauf, dass die Leute eher mitmachen, wenn sie tun, was sie ohnehin wollen. In den 30ern gab es Experimente, bei denen Arbeiter*innen Produkte selbst testeten, in späteren Versuchen setzten sie ihre eigenen Akkordlöhne fest.Höhn trägt diese zeitgenössisch klingenden Ideen dann in die Nachkriegszeit.Manche können nach 1945 weitermachen, wenn sie bestimmte Sachen weglassen, und Höhn ist so eine Figur. 1956 wurde er Chef der Bad Harzburger Akademie für Führungskräfte. Dort entwickelte er ein Modell, das zu jener Zeit berühmt war. Ende der 60er kommt raus, was ein offenes Geheimnis war – dass Höhn hohe SS-Posten hatte und von Himmler protegiert wurde. Er tat nach dem Krieg so, als hätte er seine Ideen im Gegensatz zum autoritären Führungsmodell entwickelt. Damit war allerdings die Kaiserzeit gemeint, denn es gab im Nationalsozialismus einen antiautoritären Strang. Ein Beispiel ist der Film Die Feuerzangenbowle. Dort sagt der alte Lehrer zum jungen, die Schüler sollen das Denken den Pferden überlassen, der antwortet, alle sollen mitdenken und mitmachen. Der junge Lehrer ist der Nationalsozialist. Das war ein System mit vielen Führern auf verschiedenen Ebenen.Gibt es heute eigentlich Utopien der Arbeit, die nicht auf diese ideologisch überdeterminierten Begriffe zurückgreifen?Die Frage ist: Was davon lebt bis heute fort? Der Nationalsozialismus hat eine extrem brutale Arbeitsauffassung etabliert. Es gab keine Form der Verweigerung. Dieser weite Arbeitsbegriff integrierte zum Beispiel auch Care-Arbeit. Es tut heute gut, das für eine Kritische Theorie von Arbeit mitzudenken. Adorno schreibt in den Minima Moralia, an die Stelle von Prozess, Tun, Erfüllen könnte treten, auf dem Wasser zu liegen und friedlich in den Himmel zu schauen.Manche würden sagen, dass es dafür das Bedingungslose Grundeinkommen braucht.Die Idee dahinter ist, Essen und Arbeiten zu trennen, damit die Menschen frei entscheiden können, ob und wo sie arbeiten wollen. Als Gedankenexperiment würde es die Verhältnisse ein wenig aus den Angeln heben, aber ich bezweifle, dass das eine radikal andere Gesellschaft wäre.Abschließend schreiben Sie über Automatisierung. Liegt darin Hoffnung für die Zukunft der Arbeit?Die Hoffnung gab es schon im 19. Jahrhundert. Heute werden viele Tätigkeiten durch Roboter ausgeführt, trotzdem arbeiten wir nicht weniger – eine komische Abschaffung von Arbeit, bei der die Arbeit nicht ausgeht! Dabei könnte man die frei gewordene Zeit nutzen, um die Welt besser zu gestalten.Placeholder infobox-1
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