Ist Claus Weselsky jetzt „aus der Zeit gefallen“ oder seiner Zeit voraus? Derzeit führen er und seine Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) jedenfalls eine Auseinandersetzung, die richtungsweisend ist. Damit ist die GDL nicht allein. Jüngst haben bei der IG Metall die Tarifverhandlungen für die Beschäftigten der nordwest- und ostdeutschen Stahlindustrie begonnen, und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi verhandelt seit Ende Oktober gemeinsam mit GdP, GEW, IG BAU und der Tarifunion des Deutschen Beamtenbundes über einen neuen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Bundesländer.
Drei Stunden weniger bei vollem Lohnausgleich
Die GDL hat bereits wenige Tage nach der ersten Verhandlungsrunde bei der Deutschen Bahn mit einem 20-st
ige Tage nach der ersten Verhandlungsrunde bei der Deutschen Bahn mit einem 20-stündigen, flächendeckenden Warnstreik ihre Kampfbereitschaft demonstriert, zu dem nicht nur Lokführer, sondern auch Zugbegleiter, Fahrdienstleiter, Disponenten, Werkstattmitarbeiter und weitere Berufsgruppen bei DB Netz aufgerufen waren. Auch bei der IG Metall und im öffentlichen Dienst ist noch in diesem Jahr mit Warnstreiks zu rechnen.Das klingt nach einem vertrauten Prozedere, doch die laufenden Tarifkämpfe weisen eine wichtige Besonderheit auf. Denn während Verdi eine deutliche Entgelterhöhung von 10,5 Prozent und dabei mindestens 500 Euro pro Monat fordert, steht bei der IG Metall und der GDL eine andere Forderung im Mittelpunkt: die Verkürzung der Wochenarbeitszeit um jeweils drei Stunden bei vollem Lohnausgleich, verbunden mit der Perspektive einer Vier-Tage-Woche.Damit beißen die beiden bei den jeweiligen Arbeitgeberverbänden bislang auf Granit. Begründet wird dies nicht nur mit hohen Kosten, sondern vor allem mit dem Verweis auf den Fachkräftemangel, der die bei einer Arbeitszeitverkürzung notwendig werdenden Neueinstellungen verunmögliche.Das sind Argumente, die die Gewerkschaften nicht gelten lassen. Die IG Metall verweist auf die bessere Motivation und die höhere Produktivität von Beschäftigten, wenn deren enorme Belastung gerade in besonders anstrengenden Berufsfeldern wie in der Stahlindustrie verringert werde. Ähnlich argumentiert auch der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky: Es seien eben die extrem belastenden Arbeitsbedingungen in Schichtdienst-Berufen wie bei den Lokführern, die dazu führten, dass immer weniger Nachwuchskräfte gewonnen werden und bei den älteren Kollegen der Krankenstand steigt. Allein bei der Deutschen Bahn AG fehlen laut GDL derzeit über 1.000 Lokführer, Tendenz steigend, weil die Verrentungswelle in den kommenden Jahren wohl noch Fahrt aufnehmen wird.„Erfolgsboni“ für Bahn-ChefsNur mit attraktiven Vergütungen und Arbeitsbedingungen könne diese Lücke mittel- und langfristig geschlossen werden, sagt Weselsky. In Bezug auf die „untragbaren Kosten“ einer Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich für alle Schichtarbeiter verweist der GDL-Chef auf die Bahn-Vorstände, deren Bezüge sich im vergangenen Jahr gegenüber 2021 inklusive „Erfolgsboni“ (wofür eigentlich?) mehr als verdoppelt haben. Zum Beispiel beim Personalchef Martin Seiler, der jetzt auch die Tarifverhandlungen für den Konzern führt, von 659.000 auf 1,39 Millionen Euro pro Jahr.Während die Tarifrunden in der Stahlindustrie und im öffentlichen Dienst derzeit noch relativ ruhig verlaufen, sind sie bei der Bahn gleich schon eskaliert. Da sich das Management kategorisch weigert, über die geforderte Absenkung der Wochenarbeitszeit auch nur zu verhandeln, zündete die GDL bereits in diesem frühen Stadium die nächste Stufe und leitete jetzt eine Urabstimmung über unbefristete Streiks ein. Auch weitere Warnstreiks bis weit in die Adventszeit sind nicht ausgeschlossen, Streiks an Feiertagen hingegen schon.Trotzdem wird das der GDL – gelinde gesagt – nicht nur Sympathien einbringen. Ein Stahlarbeiterstreik tangiert das Alltagsleben kaum, ein Streik bei der Bahn dagegen erheblich. Doch bei allem verständlichen Frust über möglicherweise wackelnde Reisepläne sollten die Betroffenen der anschwellenden Hetze gegen den „Egomanen Weselsky“ und seine „gierige“ Gewerkschaft, die die Gesellschaft „in Geiselhaft“ nähmen, nicht auf den Leim gehen. Denn die GDL kämpft – härter und konsequenter als manch andere Gewerkschaft – für ein Anliegen, das jeder abhängig beschäftigte Mensch aus vollem Herzen unterstützen sollte: nicht nur angemessene Entlohnung, sondern gute Arbeitsbedingungen für eine gute Lebensqualität.