Vor zehn Jahren starteten die Berliner Filmfestspiele die Reihe NATIVe – A Journey into Indigenous Cinema. Diese Plattform für die „Vielfältigkeit der indigenen Filmkunst“, mit aktuellen und historischen Spiel- und Dokumentarfilmen, verschwand mit dem Wechsel der Festivalleitung 2019. Dem deutschen Wikipedia-Eintrag zur Berlinale ist sie, im Gegensatz zum Kulinarischen Kino etwa, nicht mal eine Erwähnung als ehemalige Veranstaltungsreihe wert. Es bleibt der kleinere Rahmen, in Leipzig läuft noch bis Ende des Monats das globalisierungskritische Filmfestival globaLE, einen Monat später werden in Rostock die 11. Tage des Indigenen Films stattfinden. Im größeren Kontext sind aktuelle Produktionen über indigene Themen derzeit auf dem Human Rights Festival in Berlin zu sehen. Zwei von ihnen, sie werden auch als Stream online verfügbar sein, erzählen vom Kampf gegen die Ausbeutung des Amazonas-Regenwalds, aber auch von den Tücken der Bilder, von Aushandlungsprozessen um Deutungshoheit und den fließenden Grenzen zwischen dokumentarischem Film und Aktivismus.
In Holding Up the Sky begleitet die Kamera Davi Kopenawa, einen Schamanen und Sprecher der Yanomami, über mehrere Jahre auf seinen Reisen zwischen den Welten. Auf der einen Seite spricht er in Europa vor Parlamenten, mit Abgeordneten und Journalisten. Er begrüßt sein Publikum mit „Liebe Weiße!“ und wirbt im Kopfschmuck aus bunten Federn für die Interessen seines Volkes. Das erregt Aufsehen in der aalglatten Maschinerie des politischen Betriebes. Eilfertig richten wohlmeinende Gastgeberinnen im Business-Kostüm ihrem Gast das Mikrofon, gleich darauf wird er auf seine streng limitierte Redezeit hingewiesen: Er möge doch bitte während seiner Rede auf den Countdown achten (der läuft auf einem Tablet ab) und pünktlich zum Schluss kommen.
Der Kontrast zu den Szenen im Regenwald im Norden Brasiliens könnte kaum größer sein. Hier, in seiner Heimat, hockt Kopenawa vor einem Jahrhunderte alten Baum und gibt den Schöpfungsmythos der Yanomami zum Besten. Er handelt von einer göttlichen Doppelspitze, dem weisen Omama und dem tollpatschigen Yoasi. Letzterer war für die Erfindung des Bösen zuständig und wurde von Omama dazu verdonnert, alle Krankheiten gleich wieder zu vergraben. Irgendwann kamen aber die Weißen, rissen die Erde auf und setzten damit auch die Krankheiten wieder frei.
Das Blut der Yanomami
Der belgische Dokumentarfilmregisseur Pieter Van Eecke gibt dieser spirituellen Sicht auf die Ausbeutung von Bodenschätzen und nicht zuletzt auf den Ausbruch der Corona-Pandemie viel Raum. Er zeigt auch traditionelle Tänze und Rituale, als wollte er zunächst klischeehaften Vorstellungen einer indigenen Idylle entsprechen, bevor dann, nach 40 Minuten, klar wird, dass auch in einem Dorf mitten im Regenwald Smartphones längst zum Alltag gehören. Es sind dann auch Bilder von Handy-Kameras, die zeigen, wie Goldsucher in den illegalen Abraumhalden den Boden ausheben, in Motorbooten am Dorf vorbeirasen und auf die Bewohner schießen. Bald darauf in Paris: Nach einer Anhörung vor Parlamentariern ist die kleine Delegation der Yanomami in einen riesigen Prunksaal geladen. Kopenawa lässt sich fotografieren, sein Sohn Dario wehrt angesichts der goldbesetzten Wände schockiert ab: „Das ist das Blut der Yanomami“, sagt er. „Ich brauche kein Bild von mir an diesem Ort.“
Dass der Film Bilder finden kann, die seinen Protagonisten gerecht werden, zieht er mitunter selbst in Zweifel, etwa wenn er zeigt, wie Davi Kopenawa in seiner Hängematte Richtung Kamera einen kleinen Monolog hält: „Ihr Weißen filmt uns, aber versteht ihr uns? Ihr sucht nach etwas anderem, ihr habt nur Augen für materielle Dinge. Dinge, die uns nichts bedeuten.“
Daran gemessen dürfte sich We Are Guardians eher auf der sichereren Seite wähnen. Hier führte, gemeinsam mit Chelsea Greene und Rob Grobman aus den USA, Edivan Guajajara Regie, ein Filmemacher aus Arariboia, einem indigenen Territorium im Nordosten Brasiliens. Auch in diesem Film geht es um den Kampf gegen die Ausbeutung des Regenwalds und gegen das Ignorieren der Selbstverwaltungsrechte in den indigenen Territorien, die in der brasilianischen Verfassung eigentlich garantiert sind – und erst vor wenigen Wochen vom Obersten Gericht Brasiliens erneut bestätigt wurden.
Gegen die Agrarwirtschaft
Im Zentrum von We Are Guardians steht aber keine Lobbyarbeit, sondern die direkte Aktion vor Ort. Weil sie von staatlichen Ordnungsorganen ignoriert werden, gehen selbst ernannte indigene Wächter des Regenwaldes selbst auf die Jagd – meistens nach illegalen Holzfällern, die erste Schneisen durch den Wald schlagen, auf denen dann die Räumfahrzeuge von Holzhändlern und Agrarunternehmen anrollen können. Es werden aber auch unbefugte Pflücker jener Açai-Beeren gestellt, die man sich in hippen Cafés zwischen Los Angeles und Berlin als Superfood auf die Frühstücksbowls streuen lässt.
Einmal kommt es zu einem längeren Disput zwischen den Pflückern und der Aktivistin Puyr Tembé, die zwischen ihrem Heimatdorf und ihrer politischen Arbeit in der Stadt pendelt. Am Ende lässt Tembé die Ertappten mit ihrer Ernte und einer letzten Ermahnung davonziehen. In sicherer Entfernung dreht sich deren Wortführer in seinem Kanu noch einmal um und ruft: „Ihr solltet euch lieber um die großen Farmer kümmern, nicht um uns arme Siedler.“
Der Film nimmt sich auch bemerkenswert viel Zeit, um einen der Holzfäller zu porträtieren, der keinen anderen Job finden würde, um seine Familie zu versorgen. Solche Momente machen spürbar, dass die Probleme vor Ort nicht allein gelöst sind, indem man Walmart, Rewe und Nestlé boykottiert, oder all die anderen Konzerne, die hier als Profiteure der Abholzung des Regenwalds genannt werden.
Wie Holding Up the Sky verzichtet auch We Are Guardians auf jeden Kommentar. Zu Wort kommen ausschließlich die Menschen vor der Kamera. Und doch zieht sich der Film nicht auf die Position des neutralen Beobachtens zurück. Wenn die Guardians um ihren 32-jährigen Anführer Marçal Guajajara mit Kriegsbemalung und Tarnjacken auf ihren Motocrossrädern über Trampelpfade rasen, sieht das wirkungsvoll inszeniert aus, wie für einen Spielfilm.
Der abschließende Monolog Guajajaras über die Bedeutung seines Kampfes („Wir Indigine stellen fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber wir beschützen achtzig Prozent der Biodiversität auf dem Planeten“) ist mit Bildern von Sonnenuntergängen unterlegt, in Zeitlupe springen fröhliche Kinder in den Fluss. Mit solchen plakativen Werbeeffekten hätte der Film auf einem Festival wie der Berlinale kaum landen können. Andererseits: Ist das Pochen auf die Einhaltung dokumentarischer Reinheitsgebote vielleicht kaum mehr als cinephile Dekadenz, gemessen an der Dringlichkeit der hier vertretenen Anliegen?
KiKa-Moderator Tobi am Amazonas
Apropos: Auch vor breitem Publikum wird im deutschen Kino gerade aus dem brasilianischen Regenwald berichtet, in einer Episode von Checker Tobi und die Reise zu den fliegenden Flüssen, dem zweiten abendfüllenden Film rund um den beliebten KiKa-Moderator Tobias Krell. Im Vergleich zu den Produktionen auf dem Human Rights Film Festival fällt auf, wie sich Regisseur Johannes Honsell hier bemüht, Bilder zu vermeiden, die als klischeehaft wahrgenommen werden könnten. In dem Dorf der Jupaú, das Tobi auf seiner Schnitzeljagd durch die halbe Welt besucht, ist kein Federschmuck zu sehen, es gibt keine traditionellen Tänze. Stattdessen wird ein süßer Welpe gestreichelt und mit Kindern Fußball gespielt.
Auf vermeintlicher Augenhöhe mit seinem Kernpublikum kultiviert Tobi seine kindliche Begeisterungsfähigkeit: „Wahnsinn, was für Pflanzen und Lebewesen es hier gibt … und viele davon sind einfach unglaublich schön.“ Dabei betont er stets, dass er auf einer „Abenteuerreise“ sei, obwohl der Film eigentlich nur die visuellen Höhepunkte eines reibungslos organisierten Backpacker-Trips aneinanderreiht und mögliche Herausforderungen, wie unterschiedliche Sprachen oder Währungen, einfach ignoriert.
Als Versuch, den eigenen Blick zu dekolonialisieren, ist das durchaus anzuerkennen. Der unbedingte Wille, hier nichts als „fremd“ zu konnotieren, mündet allerdings in eine gewisse Oberflächlichkeit. Und wenn Tobi sich von dem 20-jährigen Bitate zu einer illegal gerodeten, verkohlten Waldfläche führen lässt, ist die Betroffenheit natürlich groß. Das hindert den deutschen TV-Moderator aber nicht daran, Bitate als jemanden zu beschreiben, für den „der Regenwald einfach alles ist“ – als wäre der Kampf gegen die Holzfäller lediglich die Folge einer persönlichen Leidenschaft und hätte mit uns in den Kinosesseln nichts weiter zu tun.
Human Rights Film Festival 11. bis 22. 10. 23 humanrightsfilmfestivalberlin.de
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