Soja nun nicht

Ernährung Valentin Thurn nimmt in der Dokumentation „10 Milliarden“ dem Thema Nachhaltigkeit das Landlustige
Ausgabe 16/2015

Vor der Frage, wie unsere Lebensmittel produziert werden und werden sollten, gibt es im Fernsehen kaum ein Entkommen. Ob Dokus oder Magazine, das Thema wird in vielen Facetten aufgegriffen, gern unter Verwendung gruseliger Bilder aus der Massentierhaltung. Symptomatisch vielleicht, dass erst vor zwei Wochen gleich zwei Filme aus dem Spektrum an einem Tag zu sehen waren: bei Arte Wege des Fleisches und in der ZDF-Reihe 37 Grad eine Reportage über Ökolandbaunovizen.

Über die bestmögliche Ernährung grübeln längst nicht mehr nur Bildungsbürger und Gentrifizierungsgewinnler, die sonst keine Sorgen haben. Sonst ließe das ZDF nicht in einer Primetime-Doku den Grinseteddy Dirk Steffens als Teilzeit-Ökobauer agieren (Projekt Hühnerhof) und der SWR nicht den Tatort-Kommissarsdarsteller Andreas Hoppe nach traditionsreichem Obst und Gemüse fahnden (Wo sind die guten alten Sorten?).

Der Kölner Dokumentarfilmer Valentin Thurn, der in seinem neuen Film 10 Milliarden – Wie werden wir alle satt? die Folgen des bis 2050 zu erwartenden Bevölkerungswachstums in den Blick nimmt, erreicht auch ein breites Publikum, weil er längst nicht mehr nur Regisseur ist, sondern auch Aktivist beziehungsweise „Food-Fighter“, wie ihn die Presseheftdichter nennen.

Nach Taste the Waste, einer Dokumentation über Lebensmittelverschwendung, wurde er zum Podiumsdiskussionsreisenden in Sachen Essen und initiierte den Verein foodsharing. Die Recherchen für seinen neuen Film haben Thurn nun animiert, Taste of Heimat zu gründen, eine vielleicht nicht optimal benannte Online-Plattform, die einen Überblick über regionale Lebensmittel-Direktvermarkter liefert.

Thurn gibt dem Film als Erzähler und „Reiseleiter“ (Selbstauskunft) eine Struktur, in den Vordergrund spielt er sich nicht; hauptsächlich ordnet er an den jeweiligen Drehorten das Recherchierte ein. Sein Trip führt ihn anfangs zu diversen Visionärsdarstellern, etwa dem Leiter einer Fabrik in Japan, die Pflanzen unter künstlichen Bedingungen produziert. Schön und gut, sagt Thurn, aber Arme werden sich die Hightech-Lebensmittel nicht leisten können.

Wadendicke Oberarme

Die Massentierhaltungsbilder fehlen auch in 10 Milliarden nicht. Sie stammen aus Indien, wo der Anteil der Fleischesser gerade wächst, was den Vorstandsvorsitzenden eines örtlichen Wiesenhof-Klons entzückt. Thurn sagt aber, Indien und China könnten „unsere“ Dummheiten gar nicht wiederholen, „da ihnen eine ‚Vierte Welt‘ fehlt, deren Ressourcen sie ausbeuten können, wie wir es getan haben“.

Im zweiten Teil seines klug gebauten Films tastet sich Thurn zu den Ideen vor, die er für instruktiv hält: Er besucht die Pioniere des Urban Farming und Guerilla Gardening in Milwaukee und Todmorden/Yorkshire, die zumindest in den USA und Großbritannien viele Nachahmer gefunden haben. Diese Bewegungen stehen für die Idee, freie städtische Flächen für den Anbau von Obst und Gemüse zu nutzen. Angesichts des Verfalls mancher US-Metropolen – in Detroit wird derzeit die Hälfte der Stadtfläche nicht genutzt – liegt es nicht fern, in der Stadt Bauernhöfe anzusiedeln. Der frühere Basketball-Profi Will Allen tut das in Milwaukee und sagt, man brauche weltweit lokale Ernährungssysteme, um der Energie- und Transportkostenverschwendung Einhalt zu gebieten.

Die Botschaft von 10 Milliarden kennt man zwar (möglichst oft regionale Bio-Produkte kaufen, möglichst wenig Fleisch), die Recherchetiefe des Films ist aber beeindruckend. In Afrika hatte Thurn sogar Stringer im Einsatz, lokale Mitarbeiter, die sonst in der tagesaktuellen Krisenberichterstattung eine Rolle spielen. In diesem Fall trugen sie ihren Teil bei zu Dreharbeiten über Selbsthilfeprojekte in Malawi oder von Landraub betroffene Soja-Bauern in Mosambik, deren Leid letztlich aus dem Tierfuttermittelbedarf der first world resultiert.

Thurn will dem „Trend zur Nachhaltigkeit das Niedliche, Landlustige nehmen“. Bodenständige Ärmelaufkrempler wie Will Allen, der sich als Öko-Landwirt wadendicke Oberarme erarbeitet hat, oder die Guerilla-Gardening-Vorreiterin Mary Clear könnten dazu beitragen.

Film

10 Milliarden – Wie werden wir alle satt? Valentin Thurn Deutschland 2015, 106 Min.

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