Schutzschirm für alle, Entmündigung inklusive

Kommunale Finanzen Der hessische Rettungsschirm ist das mit einer konkreten Bedingung behaftete Angebot, das eigentlich eine Nötigung ist, die öffentlich als Demütigung verstanden wird

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Ab unter den Rettungsschirm?
Ab unter den Rettungsschirm?

Foto: Adam Berry/ AFP/ Getty Images

Hanau kündigt einen rigorosen Sparkurs an, streicht Großprojekte, Kassel schließt drei Büchereien, erhöht Kita-Gebühren, hebt die Parkgebühren an, verlangt mehr Spielautomatensteuer. Offenbach will am liebsten das sowieso chronisch defizitäre kommunale Klinikum loswerden. Hattersheim baut Arbeitsplätze ab und kürzt massiv Zuschüsse für Soziales und Kultur. In über 100 hessischen Gemeinden wird gestrichen und gekürzt, gestritten und diskutiert − Hurra! Der kommunale Rettungsschirm ist da!

Was ist der Rettungsschirm überhaupt?

1. Die Basis der Hilfen ist die Auffassung darüber, dass eine regional sehr unterschiedliche Finanzkraft der Gemeinden vorhanden ist, es aber einen Grundkanon an zu erfüllenden Aufgaben gibt. Daher müssen finanziell in Schieflage geratene Kommunen in die Lage versetzt werden, diesen Grundkanon auf einer soliden Finanzbasis erfüllen zu können.

2. Gelder für Schuldentilgungen und Gelder für Zinsbeihilfen werden zur Verfügung gestellt. Das Gesamtvolumen beträgt etwa 3,2 Milliarden Euro.

3. In einem einigermaßen unübersichtlichen Verfahren werden folgende Prinzipien verfolgt: Notleidende Kommunen werden identifiziert (etwa ein Viertel aller Gemeinden Hessens). Knapp die Hälfte der Schulden werden übernommen sowie recht kompliziert Zinszahlungen. Im Gegenzug müssen mit dem Land Konsolidierungsziele und konkrete Konsolidierungsmaßnahmen vereinbart werden, die einen auf Dauer ausgeglichenen Haushalt sichern helfen.

4. Ein Frühwarnsystem wird aufgebaut, das Kommunen identifiziert, denen eine gewisse Überschuldung droht.

5. Von den 106 in Frage gekommenen Gemeinden haben 101 (von 426 möglichen) an dem Programm teilgenommen: Biebesheim am Rhein, Bischofsheim, Florstadt, Neuberg und Schmitten wollten trotz angeblicher Bedürftigkeit nicht mitmachen.

Problem bei alledem: Viele Vorschläge, die aus den Städten und Gemeinden wie Wasser aus Brunnen sprudeln, sind schlicht Streichungen und „andere“ Schwerpunktsetzungen beschlossener Maßnahmen: Denn die Einnahmen der Kommunen generieren sich hauptsächlich aus der Gewerbesteuer, dem Einkommensteueranteil, der Grundsteuer, dem Umsatzsteueranteil sowie Verbrauchs- und Aufwandssteuern (die bekanntesten dürften wohl die Hundesteuern, Kurtaxen oder Vergnügungssteuern sein). Aber auch Gebühren und Beiträgen sowie Zuweisungen des Bundes. Dies sind die wesentlichen Stellschrauben, an denen gedreht werden kann, und nur einige wenige sind seitens der Kommunen beeinflussbar. Also muss die jeweilige Ausgabenseite durchforstet werden, will man die eigenen Bürger nicht durch maßlose Grundsteuererhöhungen verärgern oder potentiell ansiedlungswillige Unternehmen durch hohe Gewerbesteuerhebesätze abschrecken.

Im Zentrum des Schutzschirmes steht ein ausgeglichener Haushalt, es dominiert also der fiskalpolitische Aspekt, was fehlt ist ein inhaltlicher Plan für die Zukunft: mit Investitionen, die zu einer erhöhten Einnahmenseite führen. Beispielsweise fehlen Komponenten zum Aufbau einer speziellen Wirtschaftsförderung oder die für ein obligatorisch einzuführendes Stadtmarketing. Darüber hinaus: Wieso gibt es kein Modul dafür, einen Teil der Schuldenübernahmegelder nicht nur zur Schuldentilgung zu verwenden, sondern beispielsweise zusätzlich in Strukturinvestitionen einzubauen. Wohlgemerkt: Unter Strukturinvestitionen sind nicht Gelder für den „Bau“ von Straßen, Brunnen oder neuen Schildern gemeint, die zudem sowieso nur Architekturbüros, Baufirmen und sonstige übliche Geldempfänger der Gemeindefinanzen mästen. Liegt das Fehlen solcher Module an einer fehlenden Grundsatzdebatte über bisherige Strukturinvestitionsmuster? Und daran, dass in der Folge eine Diskussion über „Strukturförderungen im 21. Jahrhundert“ angestanden hätte?

Was ist der Rettungsschirm noch?

Der Rettungsschirm beinhaltet interessanterweise eine Logik der falschen Gegenseitigkeit: Das mit einer konkreten Bedingung oder Erwartung behaftete Angebot, das eigentlich eine Nötigung ist, die öffentlich als Demütigung verstanden wird. Wie man es auch betrachten mag: Das Angebot ist nicht auf ein gegenseitig vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut, bei dem man eine angemessene Gegenleistung erwartet. Es ist ein Angebot, das zahlreiche Folgen und Entwicklungen nach sich zieht und auf knallhartem politischem Kalkül basiert, da die Annahme einen Druck auf die Kommunen erzeugt, dessen Auswirkungen deren Bürger sofort und nachhaltig spüren.

Weshalb dies so ist, lässt sich anhand der Perspektiven des Landes, der Perspektiven der Kommunen und der Perspektiven der Bürger beschreiben, die so auch für andere Bundesländer in ähnlich gelagerten Fällen gelten können.

Die Perspektiven der Kommunen:

1. Liegt hier etwa eine belehrende Wirkung vor? Auch wenn die Absprachen für die Konsolidierung des Haushalts immer auf die jeweilige Kommune zugeschnitten, also individuell gestaltet sein sollen, so erinnert der Schutzschirm an das Verhältnis eines Lehrers zu seinen Schülern: Der von seinem Lehrer als schlecht eingestufte Schüler hat ausführlich Rechenschaft über seine Leistungen und seine Lernpläne abzulegen. Ist dies im schulischen Bereich vielleicht noch erträglich, so wirkt dies bei politisch ausgewachsenen und teils erfahrenen Kommunalpolitikern recht unerträglich: Bevormundung á la Schule anstatt Moderation auf Erwachsenenebene. Die Maßregelung wegen schlechter Leistungen ist die öffentliche Demütigung, durch die Tür der Rettung eintreten zu dürfen.

2. Kommunen werden politisch teilkastriert: Zum einen verlieren die Kommunen ganz klar die Haushaltsautonomie. Vordergründig natürlich nicht, aber letztlich muss alles abgesegnet bzw. abgesprochen werden – ob direkt oder indirekt −, da man sich unter Dauerbeobachtung befindet. Maßstab ist die Haushaltskonsolidierung, ein Ausgleich des Haushalts. Es können also keine finanziellen Risiken eingegangen oder Abwägungen vorgenommen werden: Vielleicht einmal hier eine Investition dafür, dass neue Branchen ansiedeln, einmal da eine riskante, aber potentiell zukunftsträchtige Investition in einen speziellen Bau als touristisch orientiertem Anziehungspunkt. Was bleibt ist biederes, solides Haushalten des Status quo, eine politisch bedingte Kastration.

Zum anderen aber sagen die Kommunen auch: „Wir können nicht anders“, und schieben die Schuld auf abstrakte Notwendigkeiten, kastrieren sich also überraschenderweise selbst. So betonte der Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky nach dem Entschluss, unter den Rettungsschirm zu schlüpfen, dass man sich „auf einen schwierigen, unpopulären Weg“ machen würde und man „nicht umhin [könne], unseren Bürgerinnen und Bürgern auch schmerzhafte Einschnitte zuzumuten“. Aber ist dieser „unpopuläre“ Schritt wirklich so schwierig oder ist es nicht doch einfacher, politische Verantwortung an andere zu delegieren? So werden aus starken Politikern biedere Verwalter.

3. Mehr Kreativität seitens der Kommunen ist gefordert. Zwar ist der politische Spielraum geringer, da die Einnahmenseite weniger Spielräume bieten und die Ausgaben teils zwingend vorgegeben sind. Doch kann die Phase des Schutzschirmes auch die große Chance sein für kreative Köpfe und eine Zeit der „neuen Wege“. Einher gehen diese Kreativitätsschübe aber nicht mit Rezepten aus den 50er, 60er oder 70er Jahren mit den üblichen Ideen altbackener Planungs- und Architekturbüros, bauliche Dorferneuerungsmaßnahmen inklusive. Einher gehen müssen neue Wege des Stadtmarketing, effektive Schritte des Bürgerservice oder kluge Ideen zur Einbindung der Bürger in hoheitliche kommunale Aufgaben. Hierzu gehört auch die Überwindung der Angst vor dem präzisen Aufzeigen der vorherrschenden Probleme und auch das Ablegen der Bedenken vor einem „zu viel“ an Bürgern, die sich einmischen, also einem „zu viel“ an demokratischen Prozessen. Denn wer es schafft, den Bürgern die zu gehenden Wege einer Kommune so darzustellen, dass diese verstanden und als notwendig erachtet werden und von der eigenen Bevölkerung auch als „eigene zu lösende Probleme“ – der darf mit einem Produktivitätsschub auch in Sachen Demokratie rechnen.

Die Perspektiven der Bürger:

1. Werden die Wähler etwa entmündigt?
Ein grundsätzliches und wenig thematisiertes Problem des Schutzschirmes ist, dass nicht alle Bürger diejenigen gewählt haben, die nun für die schlechte Finanzsituation der Kommune verantwortlich waren oder sind: Nicht alle haben diejenigen gewählt, die unfähig regiert haben bzw. die nun unter den Rettungsschirm wollen. Teilweise werden die Regierenden nicht einmal von der Hälfte der Bevölkerung gewählt, je nach Wahlbeteiligung. Nun könnte man sagen, dass dies die Schuld derer sei, die nicht gewählt haben, aber es gibt eben immer wieder „zähe Minderheiten“, die die zahlreichen Wege, die sich in ihrer Gesamtheit nun als falsch erwiesen haben, nicht mitgehen wollten. Und auch einige Bürgermeister der Kommunen, die nun unter den Schutzschirm gehen, wurden erst kürzlich gewählt und müssen nun Folgen tragen für Ursachen, die nicht in deren Einflussbereich lagen.

Unbehaglichkeit sollte ebenfalls bei dem Gedanken auftauchen, dass die Bürger in ihrer Wahlentscheidung für ein kommunales Parlament haushaltspolitisch entmündigt werden. Die Wahlstimme wird einem in haushaltspolitischen Fragen teilkastrierten Gremium oder kommunalen Pseudo-Entscheidungsträger gegeben, dessen Spielraum im Verhältnis zu einer Kommune, die bei allem frei entscheiden kann, geringer ist. Wie ist eine solche Wählerstimme zu bewerten?

2. Werden etwa Wähler bestraft und dadurch domestiziert?
Denkt man an die Wählerbeschimpfungen der Politiker, die eine angeblich „falsche“ Partei oder „nutzlose“ Partei oder „spinnerte“ Partei gewählt haben, so wäre die Frage durchaus legitim, ob der Schutzschirm nicht auch ausdrückt: So, ihr lieben Wähler, nun werdet ihr durch zahlreiche Ausgabenkürzungen im sozialen und kulturellen Bereich dafür bestraft, dass ihr jahrelang eine Politik gewählt habt, die nicht richtig gewesen ist. Im Wahlbürger könnte während seiner künftigen Wahlentscheidungen folgende Frage mitschwingen: Wen wähle ich das nächste Mal richtig, sodass die Auswirkungen des Schutzschirmes weniger schmerzhaft werden oder wir keinen benötigen, wenn es nochmals einen geben sollte. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

3. In den kommenden Jahren kommt es zu Greifarm-Wahlen:
Bereits im September 2013 und danach in den kommenden Kommunalwahlen müssen die Wahlen der Kommunen und die Wahl des Landesparlaments „zusammen“ betrachtet werden. Beide bilden eine Einheit, nicht nur finanzpolitisch gesehen, auch inhaltlich, da Finanzen fast sämtliche Inhalte beeinflussen. Der hessische Bürger wird seine Wahlentscheidungen danach treffen, welche Landespolitik in welcher Form Einfluss auf den Schutzschirm oder künftige Neuerungen daran nehmen wird. Und auch danach, wie sich die kommunale Politik zum Schutzschirm positionieren wird. Da die einschneidenden Maßnahmen etliche Bereiche betreffen, die bis in die Kita-Politik hineinwirken oder die alltäglichen Bereiche wie Schwimmbäder, Gesundheitsversorgung oder Kultur- und Jugendangebote umfassen, scheint das Ineinandergreifen von Kommunalwahlen und Landeswahlen und deren wechselseitige Beeinflussung durch den Schutzschirm nicht abwegig. Ob diese zusätzlichen Zusammenhänge politisch förderlich sind oder nicht bleibt abzuwarten.

Die Perspektiven des Landes:

1. Der kommunale Schutzschirm ist ein Katalysator, also Beschleuniger, im politischen Wirken, indem er politische und demokratische Entscheidungsprozesse durch Argumente des Zwangs und der äußeren Notwendigkeiten ersetzt. Der Zwang zu einem ausgeglichenen Haushalt aufgrund von Kürzungen in Bereichen, die beeinflussbar sind, und Bereichen, die aufgrund nationaler und internationaler Verflechtungen seitens der Kommunen nicht änderbar sind, verändert das politische System hin zu einer Politik, die durch abstrakte Notwendigkeiten (Fiskalpolitik) und unabänderlichen Gegebenheiten (Globalisierung und internationaler Wettbewerb) ohne eigene Wahl in die ein oder andere Richtung gedrängt wird. Die Notwendigkeit, „nicht mehr auszugeben als einzunehmen“, obwohl man volkswirtschaftlich gesehen die Gleichung „nicht mehr ausgeben als einnehmen“ nachweislich zyklisch betrachten müsste, eliminiert die Wahl der Bürger für eine Politik, die Fehler machen kann, die Risiken und Chancen selbst abwägt und einzugehen bereit ist, die selbstbestimmend die politische Richtung einschlägt. Dieser Prozess, dass äußere und nicht beeinflussbare Kräfte das eigene Dasein zu einem Spielball sein lassen, und dass die eigenen Entscheidungskräfte geschwächt werden, führt zu einer schleichenden Entdemokratisierung. Der Schutzschirm ist somit die logische Folge zahlreicher Vorgänge auf internationaler Ebene im Rahmen der Finanzkrise.

2. Das Land kann noch gezielter auf kommunaler Ebene Schwerpunkte setzen.
Durch das Recht, nun gezielt auf haushaltspolitische Entscheidungen der Kommunen einwirken zu können, ist es den Ländern möglich, demokratisch teils langwierige Entscheidungsfindungen und schwierige Diskussionen zu umgehen und gewünschte Schwerpunktsetzungen zu beschleunigen. So können in der Folge aus der Landesperspektive mögliche Ungleichgewichte der Regionen ausgeglichen werden. Ein Krankenhaus hier weniger, ein Flughafen hier weg, eine kommunale Förderung anders strukturiert.

3. Eine Vereinheitlichung von Strukturen wird möglich.
Ebenso wie vor knapp einem Jahrzehnt ein Mindesthebel für die Gewerbesteuer in Deutschland von 200 % eingeführt wurde, um einigen Ungleichgewichten vorzubeugen und mehr gleichwertige kommunale Verhältnisse zu schaffen, ermöglicht der Schutzschirm eine Konzentration auf wesentliche, für alle Kommunen gleichwertige Strukturen. Es ist zu erwarten, dass durch die Mitwirkung des Landes bei den haushaltspolitischen Konsolidierungsmaßnahmen auch die „Angebote“ der Kommunen auf Notwendigkeiten überprüft werden und darauf, was sinnvoll und weniger sinnvoll ist. Und zwar aus einer übergeordneten Sichtweise des Landes. Diese übergeordnete Sichtweise wird vermutlich zu einer einheitlicheren Angebots- und Servicestruktur der Verwaltungen führen, bis hin zu vergleichbaren Vorgaben in den Stellhebeln der Einnahmenseite. Es ist zu erwarten, dass eine Gemeinde mit einem im landesweiten Vergleich niedrigen Gewerbesteuerhebel diesen anheben wird, wenn es schon Schulden abgenommen bekommt. Auch wird vermutlich die Frage gestellt, ob eine Gemeinde mehr Bibliotheken haben muss als ihr städtischer Nachbar. So werden diese Konsolidierungen aufgrund der zentralen, übergeordneten Betrachtungen in seinen Grundzügen wohl auf einheitliche Strukturen hinwirken.

Die aufgegriffenen (wenigen) Perspektiven der Kommunen, der Bürger und des Landes rekapituliert: Was bleibt nun als Erkenntnis daraus festzuhalten, was ist die Conclusio? Noch sind die politischen und emotionalen wie psychologischen Entwicklungen auf Bürgerebene schwer abzuschätzen. Wie auch immer man den Rettungsschirm beurteilen mag, ob man sich für ihn einsetzt oder vehement gegen ihn wettert – das politische Hessen blickt auf eine sich in Bewegung befindliche und aufregende Zukunft. Eine Lösung auch für andere Bundesländer?

Artikel aus aktuellem HessenHORN, Ausgabe Juni/Juli, Edition 2013. http://www.hessenhorn.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Hörner

Scriptline Verlag Richard Hörner Müllerweg 17 35325 Mücke Tel.: +49 6401 4047 288 Fax: +49 6401 4048 694 E-Mail: richard.hoerner@scriptline.de

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