Der Weg meiner 82-jährigen Mutter in die digitale Welt war voller Widerstand und Widersprüche. Sie weiß zwar inzwischen, wie sie im Internet ein Hotel findet, aber zum Buchen fährt sie trotzdem lieber ins letzte Reisebüro, das es in ihrer Gegend noch gibt. Dass sie das Ticket am Automaten kaufen muss, regt sie auf: „Ich spreche lieber mit einem Menschen als mit einer Maschine!“
Was nicht nur meine Mutter will, sondern auch von Leserinnen des Freitag als Reaktion auf das Titelthema „Mama, du kannst das! Klick hier“ (Ausgabe 6/2023) gefordert wurde, nannte der Bundesjustizminister 2017 das „Recht auf eine analoge Welt“. Eine gewagte Äußerung aus dem Mund des obersten Rechteverwalters, die aber wenig überraschte, hatte
uf eine analoge Welt“. Eine gewagte Äußerung aus dem Mund des obersten Rechteverwalters, die aber wenig überraschte, hatte er doch schon zuvor unter der Überschrift Unsere digitalen Grundrechte ein „Minderheitenrecht für alle Digitalverweigerer“ gefordert. Glaubte er wirklich an die Durchsetzung eines solchen Rechts, etwa beim Fahrkartenkauf und an der Kasse noch mit Menschen zu tun zu haben? Kann sich das Individuum der technischen Entwicklung in den Weg stellen? Darauf hoffen, dass die Notrufsäulen auf der Autobahn nicht abgebaut werden, wenn es sich zusammen mit einem Häuflein anderer Aufrechter weigert, ein Handy zu kaufen?Man darf es bezweifeln, auch wenn die Notrufsäulen 2024 noch da sind, weil sie noch oft genug benutzt werden. Aber die intelligenten Stromzähler sind auch da, 2016 vom Bundestag im Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende beschlossen – ironischerweise ohne die Grünen, wegen Datenschutzbedenken. Denn Digitalisierung bedeutet Datafizierung und Datafizierung führt früher oder später zu Dataveillance, also Überwachung.Aber im Namen der Gemeinschaft – und des Klimas – muss das Individuum bei der informationellen Selbstbestimmung halt auch mal Abstriche machen. Das wurde spätestens 2019 klar, als der Bundestag die Gewinnung wichtiger Erkenntnisse über die Wirkung von Implantaten und zur Erfassung sensibler Gesundheitsdaten in einem staatlichen Patientenregister beschloss. Und zwar ohne Einwilligung der Betroffenen. Die Begründung: „Informationen, auch soweit sie personenbezogen sind, stellen ein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann.“ Die Einschränkung seiner informationellen Selbstbestimmung ist dem Menschen zumutbar, wenn sie dem Gemeinwohl dient. Inwieweit das der Fall ist, wenn die Pharmaindustrie und andere profitorientierte Unternehmen diese Daten auswerten dürfen, sei dahingestellt.Der Mensch sei nur der Zwischenwirt seiner Informationen, die er prinzipiell der Gesellschaft schulde. Sagt meine Mutter, die Organspenderin ist und offenbar auch nichts dagegen hat, Datenspenderin zu werden. Hier treffen die zwei Seiten der Medienkompetenz aufeinander: Die Fähigkeit, die digitalen Medien effektiv zu nutzen, und die Fähigkeit, ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft zu erkennen.Die Gesellschaft selbst – ihr staatlicher und wirtschaftlicher Teil – konzentriert sich ganz auf die Mediennutzungskompetenz. Denn sie kann (ob Implantate, Energieverbrauch oder Bewegungsmuster) über sich selbst nur dann besser Bescheid wissen, wenn auch alle fleißig die digitalen Medien nutzen und die erwünschten Daten generieren. Die Zivilgesellschaft wiederum zielt auf Medienreflexionskompetenz, also nicht nur auf die Frage, was man mit den digitalen Medien (ob soziale Netzwerke, Online-Plattformen oder ChatGPT) machen kann, sondern auch, was die mit uns machen.Dass zu einer ausgewogenen Medienbildung beide Seiten gehören, ist geschenkt. Dass das Bildungsministerium – und der aktuelle Bundesjustizminister – darauf hinwirken, ist nicht zu erkennen. Vom Recht auf eine analoge Welt ist keine Rede mehr. Gut so. Besser wäre, nun von der Pflicht zu sprechen, die digitale Welt nicht unbesehen durchzuwinken. Für deren Gefahren alle Generationen zu sensibilisieren, lautet die schwierige Aufgabe.Placeholder authorbio-1