Frankreichs Staatschef bläst der Wind ins Gesicht, nicht erst seit dem Protest der Bewegung „Gilets jaunes“ (gelbe Warnjacken) und ihrer „Opération escargot“ (Aktion Schnecke). Schnecken sind langsam und beharrlich. Macron ist schnell und sprunghaft. Das ist ihm nicht gut bekommen. Mit einer Reihe von schnellen „Reformen“ oder deren Ankündigung hat er die Bürger verunsichert und sich selbst überfordert. Die Luftsprünge des Weder-links-noch-rechts-auf-jeden-Fall-sofort-Präsidenten trugen ihm nur den Ruf ein, Präsident der Reichen zu sein. Selbstkritik gehört nicht zu den Tugenden von Göttern, und auch nicht zu jenen Macrons, den viele „Jupiter“ nennen.
Vergangene Woche lud der Staatschef den Fernsehsender TF1 auf den prestigebeladenen Flugzeugträger Charles de Gaulle, um zu bekennen: „Es ist mir nicht gelungen, das französische Volk mit seinen Regierenden zu versöhnen. Die Bürger wollen heute drei Dinge: Respekt, Sicherheit, Lösungen. Keine Deklarationen. Lösungen. Wertschätzung hat man ihnen ohne Zweifel nicht genug entgegengebracht. Wertschätzen heißt zuhören, wenn die Leute sich beklagen.“
Weder dieser Auftritt noch Macrons Erinnerungstour über die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs konnten den Unmut dämpfen und den Absturz bei den Umfragewerten aufhalten.
Für Klagen hatte und hat der „menu peuple“ (das gemeine Volk) in Frankreich seit Jahrzehnten allen Grund, vor allem jene überwältigende Mehrheit, die nicht in den gut situierten Gegenden der Städte wohnt, sondern in deren Peripherie, in trostlosen Vorstädten, auf dem Land oder in kleineren Städten schwach besiedelter Regionen. Überall außerhalb der wohlhabenden Gegenden fehlt es seit Jahren zunehmend an allem, vorab öffentlichen Verkehrsmitteln, Fachgeschäften, Schulen, Kultur, Ärzten, Hospitälern, Restaurants. Riesige Einkaufszentren am Rand von Kleinstädten lassen urbane Strukturen sozial veröden und kulturell verwüsten. Der ländliche Raum und die Provinz, das sind die Regionen der weiten Wege – Mobilität wird zum Kostenfaktor.
Deshalb stieß schon die Preiserhöhung Anfang 2018 – für Diesel um acht Cent und für Benzin um vier – auf Unverständnis. Die Ankündigung, am 1. Januar 2019 die Preise für Benzin erneut um sechs Cent und für Diesel um drei zu erhöhen, brachte das Fass der Unzufriedenheit zum Überlaufen. In kurzer Zeit bildete sich ohne Mithilfe von Parteien, Gewerkschaften und anderen Organisationen, nur getragen und koordiniert von sozialen Medien, die Bewegung „Gilets jaunes“. Am zurückliegenden Wochenende demonstrierten an gut 2.000 Orten rund 300.000 Menschen, manche erstmals in ihrem Leben.
Von den konservativen Republikanern (LR) und Marine Le Pens Rassemblement National (RN) bis zu Mélenchons La France Insoumise (LFI) versuchen jetzt fast alle Parteien, die Proteste zu instrumentalisieren. In Berlin ging Macron in seiner Schaufensterrede über Europa mit keinem Wort auf den Aufruhr zu Hause ein.
In Paris verstand man die Festrede auch als Beitrag zur deutschnationalen Denkmalpflege. „Volkstrauertag“, wie der 1952 von Konrad Adenauer umgetaufte, nationalsozialistische „Heldengedenktag“ seither heißt, lässt sich aus dem Französischen nur verfälschend mit „Jour de Deuil national“ (Tag der nationalen Trauer) oder mit „Jour de Commémoration nationale“ (Tag des nationalen Gedenkens) übersetzen. Wer hat Bedarf dafür?
Kommentare 8
kann man "menu peuple", "gemeines volk"(im deutschen doppeldeutig)
auch als: "minderes volk" übersetzen?
»Das Volk ist aufgestanden.«
»Es könnte eine ganz normale Pariser Protestszene sein, doch es ist der Beginn von etwas Neuem: Keine Gewerkschaft und kein schwarzer Block, keine Partei und keine Berufslobby, nicht einmal der Bauernverband oder die Lastwagenfahrer, die in Frankreich immer so gerne auf die Straße ziehen, haben an diesem 17. November zum Demonstrieren aufgerufen.
Dennoch ist das Land von den Pyrenäen bis zum Rhein, von der Bretagne bis zu den Alpen mit Protesten überzogen. Mehr als 280.000 Menschen, meldet am Abend das französische Innenministerium, haben den ganzen Tag lang an Straßenkreuzungen, Autobahnzahlstellen und anderen Verkehrsknotenpunkten demonstriert.« (Quelle: SPIEGEL ONLINE)
Eine eindrucksvolle Demonstration dessen, was Bürgerinnen und Bürgern spontan zustande bringen können, die auch „aufstehen“ altbacken aussehen lässt.
So lange ich zurückdenken kann, wird hier in Deutschland die Möglichkeit eines Generalstreiks als Mittel politischer Willensbildung diskutiert, der deswegen nicht zustande kommt, weil ein Generalstreik im Hinblick auf seinen Zweck ein verhältnismäßiges Mittel sein muss. Juristisch ist ein Generalstreik in Deutschland übrigens auch nicht vom Streikrecht gedeckt! – Hört, hört! So geht Revolution in Deutschland!
In Deutschland, wer hätte das gedacht, ist selbst der Begriff des Generalstreiks sorgfältig definiert. Die wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages: „Generalstreik – Rechtliche Bedingungen und Streikkultur im Vergleich [1, S. 3]”. Da bleibt kein Platz für Spontaneität.
"pöbel" kommt aus einer perspektive des besserwissenden,
von engen egoismen sich frei-dünkenden elite-standpunkts
(der in den "massen" den "mob" fürchtet).
wenn man von "minderem volk" spricht, macht man mit dem
hinweis auf enge sicht-weisen derer auch ihre eingeschränkten
möglichkeiten(z.b.bildung) und (!) ihre minderen rechte
und einfluß-nahme-möglichkeiten deutlich.
>>Da bleibt kein Platz für Spontaneität.<<
Der bleibt immer, wenn es nicht an der Spontaneität fehlt.
Ich kann mich erinnern, wie Metallarbeiter 1969 mit einem Streik, der von Gerichten für "illegal" erklärt worden war erreichten was sie wollten. Da wurden Juristen einfach nicht mehr gefragt: "Legal, illegal, scheissegal". Hat funktioniert.
Gallo Gelse, ich bin seit 1957 Mitglied der Gewerkschaft. Zunächst der IG-Bergbau, seit 1972 ÖTV resp. Ver.di, und das Spektakulärste war meine Teilnahme an Protestveranstaltungen der IG-Bergbau mit schwarzen Fahnen und ner Fleischwurst unter dem Arm im Bonn der 1960er Jahre. Damals ging es um einen Protest gegen Zechenstilllegungen hier im Ruhrgebiet. Bekanntlich hat das nicht wirklich geholfen.
Einzig Heinz Kluncker: 1974 machte er bei Lohn-Verhandlungen mit der Regierung Willy Brandt Schlagzeilen, als er eine Lohnerhöhung von 11 Prozent durchsetzte (nachdem Müllwerker drei Tage gestreikt hatten).
2009 bin ich dann der PDL beigetreten und wir beteiligten uns an Protestveranstaltungen rund um das Thema von Blockupy. Die Ergebnisse waren ebenfalls nicht überzeugend. – Das war alles. Nichts davon war so spektakulär wie die Aktion von „Gilets jaunes“ (gelbe Warnjacken) und ihrer „Opération escargot“ (Aktion Schnecke). – Glückwunsch dafür.
Wie wichtig der Freitag auch mit seiner relativ kleinen Reichweite ist, zeigt der heute erschienene Parallelartikel der ZEIT. Die beiden Autoren haben ihren kurzen Artikel mit großem Bild zu einer wahren Stilblütenanhäufung zusammen genagelt:
"Wer sind die "Gilets Jaunes", die "Gelben Westen"? Wer führt sie an, was können sie erreichen? Das ist den Franzosen bislang ein Rätsel." - Tja, wer sind sie nur, diese wilden Stämme aus den Ebenen und den Bergen außerhalb von Paris? Diesen, wie sag ich's höflich, unreflektierten Stuss kann man nur schreiben, wenn man einige Stunden vor den privaten und öffentlichen Nachrichtensendern verbracht hat oder die Zeitungen überflogen hat, die einige Zitate brachten, die beweisen, dass die gelben Westen tatsächlich sprechen können, dass es sich also um eine menschliche Spezies handelt:
"Die Leute wollen einfach ihren Frust zum Ausdruck bringen, sagte einer der Westenträger zum Parisien. Eine andere: Ich habe halt eine große Klappe." - Die Autoren merken wohl, dass die Zitate nicht reichen und schieben nach:
"Je mehr Demonstranten gehört werden, desto deutlicher wird, dass vielen von ihnen selbst unklar ist, warum sie sich eine Warnweste anzogen, auf der Straße Reifen anzündeten und Autobahnmautstellen blockierten." - Ach, ich habe das Gegenteil gehört: Sie alle haben die Nase voll. Sie alle sagen, die Steuererhöhung sei nur der Tropfen, der alles zum Überlaufen bringe: die Sozialausgaben, die Erhöhung von Heizung, Strom, Wasser, die ständige Angst, nicht über die Runden zu kommen, die abbröckelnde Infrastruktur etc.etc., während die Millionäre Steuergeschenke am alufenden Band bekommen. Ich vermute mal gutmütig, die Autoren haben nicht zugehört. Und sie haben auch nicht gemerkt, dass sie die gelben Westen kollektiv zu Gewalttätern, Rassisten und Homophoben stempeln. Aber investigativ sind sie schon:
"Die Weste deutet darauf hin, dass sich die ganze Sache irgendwie ums Autofahren dreht" - Klasse! So souverän wie ihre Medienkritik:
"Die großen französischen Medien halten sich mit der Einordnung der Bewegung bisher zurück und geben die Demonstranten im Wortlaut wieder." - Wie schafft man es nur, so cool wegzusehen und wegzuhören. Die großen Nachrichtenmedien zeigen den ganzen lieben Tag lang nichts anderes als die immergleichen Bilder (angebliche Gewalt, Rassismus am immergleichen Beispiel, die wenigen dramatischen Szenen), geben permanent die Zahlen des Innenministeriums weiter und kommen gar nicht auf die Idee, anders als aus der Polizeiperspektive zu berichten (aus der Sicht der netten übergerüsteten CRS, die mit ihren Stöcken auf die Schilder schlagend auf die Demonstranten zumarschieren -sind sie vielleicht der wilde Stamm?). Und permanent erklären die immergleichen so genannten Experten der Bevölkerung, wie sie die Bilder zu interpretieren haben. Etwa so wie die ZEIT-Autoren, die ihren Text tatsächlich so beenden:
"Macron hält sich an das wichtigste Prinzip strenger Eltern: nicht nachgeben, nur um sich beliebt zu machen. Auch wenn es einsam macht."
Streng, aber gerecht, so ist er, der Papa Macron. irgendwann werden ihn seine Kinder verstehen.
Genau wie es bei Merz klar ist, war auch bei Macron vorher klar, welche Interessen er vertreten wird. Mich erstaunt eigentlich nur, dass jetzt in Frankreich irgendjemand erstaunt ist.
Sicherlich haben Franzosen und Deutsche vieles gemeinsam. Auch die Franzosen haben historisch gesehen Dreck am Stecken und eine unrühmliche kolonialistische Vergangenheit bzw. Kriege angefangen.
Meiner Meinung nach unterscheidet sich die Mentalität vieler Franzosen in einigen zentralen Punkten aber ganz offenkundig dann doch von der Mentalität der meisten Deutschen.
Während die Deutschen mehrheitlich aus feigen, opportunistischen und autoritätsgläubigen Arschkriechern bestehen, die als Untertanen gerne einem "Führer" bzw. einer "Mutti" hinterherlaufen, nach unten treten und nach oben buckeln und das als "Anstand" und "Respekt" bezeichnen, zeigen die Franzosen gelegentlich einen aufrechten Gang und den Mut, die herrschende Nomenklatura in die Pflicht zu nehmen und zur Verantwortung zu ziehen.
Wenn ich an Frankreich und die Franzosen denke, fallen mir Begriffe wie Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (frz. Liberté, Égalité, Fraternité), Mousse au Chocolat, französische Revolution und Guillotine ein.
Bei den Deutschen sind das Ordnung, Fleiß, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Blutwurst und der geplante millionenfache Mord an Juden, Sinti, Roma, Kranken und Behinderten.
Wenn die Deutschen nämlich nicht so pünktlich (gewesen) wären, dann hätten sie am 1. September 1939 um 5:45 Uhr noch friedlich in ihrem Bett geschlafen anstatt in Polen einzumarschieren und die Bevölkerung abzuschlachten.
Die Deutschen hätten natürlich auch mit der privatisierten Deutschen Bahn AG fahren können. Bei der "Pünktlichkeit" der Deutschen Bahn AG hätte es den Überfall auf Polen sehr wahrscheinlich auch nicht gegeben.
Unpünktlichkeit hat auch ihre guten Seiten.