Wenn der Monat endet

Frankreich Nicht politischer Pfusch, sondern die snobistische Ignoranz schürt Protest und Wut
Ausgabe 49/2018
Unter den gut 500 festgenommenen Demonstranten der ersten Tage waren größtenteils Ersttäter
Unter den gut 500 festgenommenen Demonstranten der ersten Tage waren größtenteils Ersttäter

Foto: Alain Jocard/AFP

Nach längerem Schweigen lenkt Emmanuel Macron doch ein. Natürlich will er an seinem Kurs festhalten, aber „die Methode ändern“. Der als arrogant geltende Präsident scheint sichtlich geschockt, nachdem sich an zwei Wochenenden in Paris – und nicht nur dort – Ängste, Empörung und Zerstörungswut entladen haben. Plötzlich streckt er den „gilets jaunes“ die Hand entgegen, und die zum 1. Januar angekündigte Erhöhung der Ökosteuer auf Diesel und Benzin wird erst einmal ausgesetzt. Es gibt nun Macron-Sätze wie die folgenden: „Wir leben im Frankreich der Deindustrialisierung. Man darf die Gelbwesten nicht moralisch verurteilen. Sie haben ein Stück weit recht ...“

Budgetminister Gérald Darmanin geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er einräumt, man habe bei dem als Kohlendioxidsteuer gedachten Preisschub bei Benzin „offensichtlich etwas verpfuscht bei der Erklärung“ seiner Notwendigkeit. Das läuft, wenn auch verklausuliert, fast auf das hinaus, was Jean-Marc Mourey, sozialistischer Stadtrat in Baume-les-Dames im Département Doubs, beklagt hat: Auf die soziale Dimension des ökologischen Umbaus mittels Kraftstoffsteuern – Flugbenzin wie immer ausgenommen – nehme man einfach zu wenig Rücksicht. Die ökologisch engagierten „Pariser Eliten reden vom Weltende, während wir das Monatsende fürchten“, sprich: den Kontoauszug mit wachsendem Minus. Der Budgetminister liegt allerdings falsch, wenn er Ignoranz gegenüber den sozialen Implikationen von Ökosteuern „Pfusch“ zuschreibt.

Nur würdig leben

Derartige Borniertheit hat System in der vermeintlich ideologiefreien „Realpolitik“ des ökologischen und sozialen Umbaus zu Zeiten des Klimawandels. Auf jeden Fall war es mehr als „Pfusch“, mindestens eine groteske politische Fehleinschätzung, ausgerechnet die auf ein Fahrzeug angewiesene, zumeist ländliche Bevölkerung einer höheren Benzinsteuer auszusetzen, damit sich ökologisch umsteuern lässt.

Wie bei Gerhard Schröders „Agenda 2010“ und Tony Blairs „Drittem Weg“ zum Umbau des Sozialstaats mit „sanftem Zwang“ bei gleichzeitiger Förderung des Niedriglohnsektors steht auch Macrons „ökologische Reform“ – Benzinsteuer zur Klimarettung – im Zeichen des alten und bornierten Dogmas: „Modernisierung“ im Korsett liberaler, vulgo marktgerechter Demokratie. Deren Credo lautet, die Unterscheidung von „rechts und links“ habe sich in der Politik überlebt und müsse jener von „offen und geschlossen“ weichen. „Offen“ wird dabei mit „fortschrittlich“ und „geschlossen“ mit „vorgestrig überholt“ gleichgesetzt.

Innenminister Christophe Castaner hat vor Tagen behauptet, die Ultrarechte Marine Le Pen vom Rassemblement National (RN/früher Front National) habe für die Demonstrationen des Aufruhrs getrommelt. Dafür gibt es jedoch nur schwache Hinweise. Im ökonomisch ausgelaugten Bergbaurevier des Département Pas-de-Calais, wo die Partei Marine Le Pens sehr stark ist, fielen die Aktionen der „Gelbwesten“ bisher eher bescheiden aus. Auch die Annäherungsversuche von Jean-Luc Mélenchon, dem Chef der Linkspartei La France Insoumise (LFI), an die Protestbewegung blieben ohne nennenswerte Resonanz, auch wenn er vergangenen Samstag mit durch Paris marschierte. Schließlich hat Ex-Präsident François Hollande die „Gelbwesten“ zum Durchhalten aufgefordert, ebenso die Schauspielerin Brigitte Bardot.

Ist diese Anteilnahme am Ungestümen Grund genug, dass geballter medialer Furor auf Vergleiche mit der „Jacquerie“, den Bauernaufständen im Mittelalter, verfällt oder die Revolution von 1789 zitiert, um dem gerecht zu werden, was geschieht? Ständig wird eine Allianz von Rechten und Linken beschworen. Dabei ist die Protestbewegung vor allem eine Reaktion darauf, dass die Kluft zwischen Stadt und Land so lange nicht wahrgenommen wurde. Die Orte, an denen „Gelbwesten“ seit nunmehr vier Wochen Straßen blockieren, liegen zu fast vier Fünfteln in Gemeinden und Kleinstädten mit weniger als 20.000 Einwohnern. Der Anteil an Demonstrationsorten mit über 50.000 Menschen beträgt ganze acht Prozent. Vielerorts tauchen Protestierende an Verkehrskreiseln in der Ödnis auf, wo sich Landstraßen kreuzen. Oder sie stehen auf riesigen Parkflächen neben Einkaufszentren außerhalb von Ortschaften, also an trostlosen Unorten.

Der Pariser Polizeipräfekt hat mitgeteilt, dass unter den gut 500 festgenommenen Demonstranten der jüngsten Chaostage größtenteils Ersttäter, politisch ungebundene „Schläger und Krawallmacher“, seien. Bevor es zu Randale und Brandstiftung kam, waren auf den Champs-Élysées zunächst mehr Journalisten und Kameraleute unterwegs als „Schläger“. Von den Tumulten in Paris abgesehen, steht das Aufbegehren der „Gelbwesten“ für den Protest jener 40 Prozent Franzosen, die nur von ihrem „Lohn würdig leben möchten“, wie eine Demonstrantin erklärt hat. Ultras und Medien übertönen sie.

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