Aktuell können sich auch russische Zeitungen nicht mit ironischen Kommentaren zurückhalten, wenn sie die Situation im Nachbarland Weißrussland beschreiben. „Monolog von Macht und Opposition“ titelt heute etwa die traditionsreiche Zeitung Kommersant das Geschehen, „Dialog mit Hilfe von Schlagstöcken" nannte das Vorgehen der Sicherheitsbehörden die Moskauer Nesawisimaja Gaseta.
Auch wenn sie die internationalen Schlagzeilen nicht mehr so füllen: Die Oppositionsproteste gegen die mutmaßliche Fälschung des Wahlsiegs des Belarus-Staatsoberhaupts Lukaschenko dauern im ganzen Land fort – am mittlerweile zehnten Protestsonntag. Die russischen Nesawisimaja Gaseta schätze die Teilnehmer an den Demonstrationen nur in der Hauptstadt Minsk auch gestern auf 100.000 Teilnehmer. Weitere Proteste gab es noch in vier anderen Städten.
Die Reaktion der Sicherheitsbehörden ist aktuell hart. Schlagstöcke, Blendgranaten und Wasserwerfer wurden gestern eingesetzt, um Kundgebungen zu zerstreuen. Auch Verhaftungen von Journalisten gab es, darunter sogar russische von der ehrwürdigen Nachrichtenagentur TASS, was unter Moskauer Medien schon eine gewisse Entrüstung auslöste, nicht nur in liberalen Kreisen, die Sympathie für die Minsker Protestbewegung haben.
Gefängnis-Monolog in Minsk
Aufsehen erregte ein erstmalig veranstalteter Termin Lukaschenkos mit etwa einem Dutzend führender Oppositioneller. Solche befinden sich aktuell entweder im westlichen Exil oder in Haft und dementsprechend fand das Gespräch im KGB-Gefängnis statt – im Gegensatz zum russischen Nachbarn wurde der Geheimdienst seit Sowjettagen nie umbenannt. Inhalt des Austauschs waren unter anderem laut der Minsker Onlinezeitung tut.by die Haftbedingungen. Ob es wirklich ein Austausch war ist zweifelhaft – Kommersant wählte seinen „Monolog-Titel“ deshalb, weil bei allen veröffentlichten Aufnahmen des Termins Lukaschenko spricht.
Der Minsker Analyst Alexander Klaskouski wertet diesen befremdlichen Auftritt in seinem Telegramkanal als Zeichen der Schwäche Lukaschenkos. Diese führt er nicht nur auf den Druck der Straße und des Westens zurück, der Lukaschenkos neue Herrschaft nicht mehr anerkennt. Auch der Rückhalt im Kreml bröckele und Moskau beginne „den Verbündeten auszuquetschen, der sich in einer immer verletzlicheren Situation befindet“. Manche Beobachter denken, Lukaschenko habe angenommen, sein Gefängnisauftritt würde die Leute auf der Straße beruhigen – das sei aber nicht geschehen.
Zwei Freilassungen - hunderte Gefangene
Immerhin wurden nach dem Knastgespräch zwei Oppositionelle aus der Haft freigelassen, von denen sich einer gleich Lukaschenko-freundlich äußerte. Dass das nur auf Druck des KGB geschah glaubt dabei dessen privaten Umfeld, berichtet die russische Zeitung Gazeta.ru. Andere positive Äußerungen über den Langzeit-Präsidenten sind selten geworden. Das ist kein Wunder. In Haft zurück bleiben laut der Gazeta.ru noch genug weitere Oppositionsaktivisieten. Es gäbe 300 laufende Strafverfahren gegen Oppositionelle 2.000 weitere seien zeitweise verhaftet gewesen, 1.000 hätten eine Geldstrafe erhalten – alleine gestern wären 200 Personen in Gewahrsam genommen worden. Schlimmer seien in den letzten Wochen jedoch Schläge und weitere Gewalt von den Sicherheitsbeamten gewesen, von denen es zahlreiche und immer wieder neue Videoaufnahmen gibt.
Lukaschenko spielt während dessen weiter auf Zeit und hofft auf eine Beruhigung von selbst oder jetzt mit Hilfe von Schaufenster-Events. Dieses Kalkül wirkt in der Tat konzeptlos und verzweifelt. Sollte Moskau nicht mehr länger zuschauen und seine Unterstützung noch entziehen, sind seine Tage wohl gezählt. Sein Glück ist noch, dass dem Kreml nicht an einem Übergang Weißrusslands in ein Chaos oder zu einer „zu prowestlichen“ Regierung gelegen ist und etwas anderes zu „organisieren“ nicht von heute auf morgen aus der Ferne durchgeführt werden kann.
Kommentare 6
Ein guter Artikel. Ich habe aber eine Ergänzung und eine Einschränkung. Es gibt unendlich viele Verhaftungen, die mit einer kurzzeitigen Haftstrafe enden. Von den Verhaftungen erfährt automatisch auch der Arbeitgeber, der zumeist ein staatliches Unternehmen ist. Das heißt, so lange Lukashenko an der Macht ist, wird diese Person Schikanen zu erwarten haben. Zum Zweiten: Ich weiß nicht, ob das Chaos in Belarus nicht größer ist, wenn Lukashenko Präsident bleibt...
Danke für die gute und wichtige Ergänzung! In der Tat sehe auch ich Lukaschenko bei einem weiter Verbleib an der Spitze - anders als der Kreml - nicht als Garant für Stabilität. Er hat einen Punkt überschritten, wo die Leute ihn noch akzeptieren wollen und ich rede hier nicht nur von der aktiven Opposition.
Die bekannte und traditionelle Opposition in Belarus ist ja selbst von den heftigen Demonstrationen überrascht worden und hat recht wenig mit den Ereignissen in diesem Jahr zu tun. Ich wurde übrigens auch überrascht. Über 900 Sportler haben ja mittlerweile eine Deklaration gegen die Staatsgewalt unterschrieben. Eigentlich kann man sich kein Szenario vorstellen, wie Lukashenko in seinem Land noch eine Zukunft haben kann. Es sei denn, Belarus selbst hat keine. Sollte sich die Staatsmacht tatsächlich durchsetzen, dürften viele in ihrem Land keine Perspektive mehr sehen und flüchten. Für den Kreml ist auch kein Szenario angenehm. Eine Lame Duck will Putin auch nicht unterstützen, da dann die permanente Gefahr besteht, die Bevölkerung von Belarus wird sich gegen eine enge Zusammenarbeit mit Russland wenden. Ein Sturz Lukashenkos könnte wie eine Blaupause für Russland erscheinen. Nach dem Motto: Man braucht keine organisierte Opposition, um ein überkommenes System zu stürzen. Noch ist die Gefahr nicht in Russland gegeben. Aber es gärt auch dort. 2024 könnte ich mir ein ähnliches Szenario vorstellen.
Da stimme ich voll und ganz zu. In jedem Land kann eine Regierung bei zu viel Volkszorn gestürzt werden. Eine Aussage übrigens, für die ich ähnlich von Russlandhassern ebenso wie von Putinfans schon geprügelt worden bin. Aber Chabarowsk hat gezeigt, dass das in Russland genauso gehen kann.
Irgendwie fühle ich mich selbst gerade zu einer längeren Antwort genötigt, da ich meinen eigenen Beitrag ein wenig ergänzen muß. So ganz vollständig war der nicht.
Richtig ist: Die klassische politische Opposition spielt bei den Demonstrationen eine recht geringe Rolle. Die kulturelle Opposition vor allem in der Musik spielt bei den derzeitigen Demonstrationen nahezu von Anfang an eine Rolle. Lavon Volski von N.E.M bzw. Krambambulya, Ljapis Trubezkoj/Brutto oder Stary Olza sowie durchaus auch Jazzmusiker eilen ja von einem Hofkonzert zum anderen und spielen, bis die Sicherheitskräfte kommen und das Konzert auflösen. Davon habe ich bestimmt ein Dutzend Berichte schon gelesen und auch Videos davon gehört und gesehen.
Das Ganze erinnert mich an den Maidan in der Ukraine. Ot Vinta, Okean Elzy, Hudaky Village Band und viele viele andere waren ebenfalls auf dem Maidan zu hören. Der Auftritt von Hudaky zeigt, Musik kann Menschen fröhlich machen, sie verlieren die Angst etc. Daher versuche ich immer, in unruhigen Zeiten auch auf die Künstler zu achten.
Auf Russland gemünzt ist ebenso zu beobachten, Iosif Kobzon oder der Popsa ist staatstragend, die wirklich interessante Musik ist eher rebellisch. IC3PEAK hatte in der jüngeren Vergangenheit ja einige Probleme, Konzerte geben zu können und Rapmusiker haben permanent Probleme mit der Zensur. Sergej "Shnur" Shnurov von Leningrad ist einfach zu bekannt (und auf einer gewissen Art wohl doch systemkonform genug), aber Shnur ist nun wirklich alles andere als Putin-Fan.
Die Prügel von zwei Seiten kenne ich. Auf Freitag gelte ich ja als ukrainischer Nationalist oder Faschist, bei so manchem ukrainischen Nationalisten (meistens aus Deutschland) als Putin-Fan. Zumeist haben diese Leute keine Ahnung von Russland, der Ukraine oder Belarus, aber sie kennen "die Wahrheit". Fasziniert bin ich immer, wenn Kritik an Putins Politik als Russophobie bezeichnet wird. Mittlerweile mache ich mir den Spaß daraus, diese Leute hochzunehmen und Mitlesenden zu zeigen, der Diskutant hat keine Ahnung. Ein Zitat aus einem Leonid Gaidai-Film (Operation Y) "Wir wollten stehlen, aber es war schon alles gestohlen." überzeugt zwar nicht den Gegenüber, weil er die berühmten Shurik-Filme nicht kennt (klappt sogar manchmal bei jüngeren Deutschrussen...), sehr selten passiert es aber, einer wird stutzig und beginnt doch eine Diskussion jenseits der Platitüden. Max Otto von Stierlitz kommt auch immer wieder gut an. Welcher echte Russe kennt den denn nicht?
Das Problem vieler Diskussionen ist der Austausch von Platitüden. Weshalb ich schon oft überlege, mir dafür so eine Art Bingo-Liste mit jeweils mehreren Sätzen anzulegen. Ich schreibe gerade an einen Artikel über Oleg Muzyka, den die BILD angegriffen hat, weil er vom Kreml bezahlt worden sein soll. So etwas kann man auch nur behaupten, wenn man Russland nicht kennt. Muzykas Tournee durch Westeuropa als angebliches Opfer von Odesa (2. Mai 2014) ist jedoch mindestens ebenso absurd, wenn man sich betrachtet, was der und seine Partei (Rodina) vor und nach dem Brand so alles betrieben haben...
Da ich den restlichen Abend grad mit Musik verbringe... Von Hudaky Village Band habe ich einen weiteren Song gefunden, den ich so noch nicht kannte. Wow...