Keine Lust auf Gerontokratie

Algerien Warum die Jugendproteste vor allem Systemkritik sind
Ausgabe 10/2019
Studenten protestieren in der algerischen Hauptstadt Algier gegen den amtierenden Präsidenten Bouteflika
Studenten protestieren in der algerischen Hauptstadt Algier gegen den amtierenden Präsidenten Bouteflika

Foto: Ryad Kramdi/AFP/Getty Images

Er will oder soll bleiben – seit Monaten erhitzt das von Präsident Abd al-Aziz Bouteflika trotz schwerer gesundheitlicher Beeinträchtigungen angestrebte fünfte Mandat die Gemüter. Dies führt nicht nur zu politischen Analysen und jeder Menge Spekulationen – es beschäftigt erst recht Karikaturisten und Künstler. Im Februar wurde im Nationaltheater von Algier die Farce über einen alten König aufgeführt, der nicht abtreten will, obwohl er schon halb tot ist. Sicher gab es die Hoffnung, das öffentliche Aufbegehren gegen Bouteflikas nächste Präsidentschaft könnte als Exorzismus funktionieren und Bouteflika würde seine unselige Kandidatur im letzten Moment zurücknehmen.

Umso gewaltiger türmte sich die Protestwelle auf, als in den vergangenen Wochen klar wurde, der Bewerber bleibt dabei und will sich beim Urnengang am 18. April wählen lassen. Am 22. Februar und am 1. März kam es daraufhin – jeweils nach dem Freitagsgebet – zu den gewaltigsten Aufmärschen seit der Unabhängigkeit 1962. In allen großen und vielen kleinen Städten demonstrierten Hunderttausende für eine neue, zweite Republik, die ihre Legitimation nicht mehr aus dem Unabhängigkeitskrieg herleitet, sondern aus dem Vermögen, das Land aus dem Sog der Stagnation zu befreien. 70 Prozent der Algerier sind jünger als 30 und wollen nicht länger von Greisen regiert werden, die ihre Macht besonders dann einsetzen, wenn es gilt, die Interessen korrupter Wirtschaftsclans zu bedienen.

Dass die jüngere Generation eine mit der Gerontokratie verwobene bürokratische Versteinerung des Systems aufbrechen kann, zeigt die für das Land innovative Art der Proteste. Sie verlaufen mit äußerster Disziplin und unter dem stets bekräftigten Vorsatz der Friedfertigkeit. Es wird weder randaliert noch geplündert noch zerstört – die Demonstranten beauftragen Sympathisanten, nach den Umzügen Straßen und Plätze zu säubern. Wo Ordnungskräfte auftauchen, werden sie umarmt. Und die lassen geschehen, was ihnen widerfährt. Offenkundig haben sie Order, ebenfalls auf Gewalt zu verzichten. So blieb es bisher beim Einsatz von Tränengas, als Tausende am 1. März ungerührt auf den Präsidentenpalast zumarschierten.

Mit Elektroschlagstöcken malträtiert wurden hingegen Journalisten staatlich kontrollierter Medien, die verlangt hatten, ebenso frei über die Proteste berichten zu können wie die Kollegen privater Zeitungen und TV-Sender.

Bouteflikas Wahlkampfleiter, Ex-Premier Abdelmalek Sellal, wurde am 2. März von seinem Amt suspendiert, weil er bei einem Telefonat angeregt hatte, man solle beginnen, auf die Demonstranten zu schießen. Private Medien und die Internetkommunikation ermöglichen es, dass man genau weiß: Anlässe zum Schusswaffengebrauch lassen sich leicht konstruieren, es ist daher umso wichtiger, Provokateure zu kontrollieren. Nur wie lange bleibt es beim niedrigen Gewaltpegel? Welch gute Idee, dass zum Internationalen Frauentag die Algerierinnen aufgerufen sind, noch zahlreicher als bisher die Märsche zu verstärken.

Die Anführer etlicher Oppositionsparteien haben angekündigt, das Präsidentenvotum zu boykottieren und keinen Kandidaten aufzustellen. Ob ihnen das Aufwind für die nächste Parlamentswahl bringt, ist zu bezweifeln. In Algerien herrscht eine ähnliche Parteienmüdigkeit wie in vielen anderen Ländern. Die jetzigen Proteste bezeugen nicht zuletzt das weltweite Unbehagen am aktuellen Zustand von Demokratie.

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