Migration: In Syrien treibt der Westen Hunderttausende zur Flucht
Embargo Die Sanktionen gegen Syrien sollen der Assad-Regierung schaden – treffen aber eine Bevölkerung, die hungert. Familien müssen von umgerechnet einem Dollar pro Tag leben: Zur schlimmsten Zeit des Krieges lebten die Menschen besser als jetzt
Proteste wegen ausbleibender Hilfen nach dem Erdbeben, Atarib, westlich von Aleppo, Februar 2023
Foto: Emily Garthwaite/NYT/Redux/Laif
Während die Welt auf Tod und Hunger im Gazastreifen schaut, ist das langsame Siechtum der syrischen Bevölkerung aus dem Blick geraten. Die Notlage ergibt sich sowohl aus den Sanktionen, denen das Land unterliegt, als auch aus seiner Zerstückelung: Wichtige Weizenanbaugebiete liegen in den Kurdengebieten im Norden. Dazu herrscht eine dramatische Energieknappheit, weil die ebenfalls im Norden ausgebeuteten syrischen Ölfelder von US-Truppen besetzt sind. Syrischer Weizen und syrisches Öl werden gegenwärtig von Privatpersonen in die Türkei verkauft.
Ein Dollar pro Tag
Zur schlimmsten Zeit des Krieges habe man besser gelebt als jetzt, sagte mir der Generalvikar der Erzdiözese von Damaskus, Monsignore Amer Kassar, im vergangenen November. Die Preissteigerung
Die Preissteigerungen seien „skandalös, einmal zehn, dann wieder hundert oder gar hundertfünfzig Prozent“. Da kämen die Löhne oder sonstigen Einnahmen der Menschen nicht hinterher. Der wichtigste Grund dieser Misere seien die gegen Syrien gerichteten ökonomischen Strafmaßnahmen: „Die Europäer und die Amerikaner sagen, es seien Sanktionen gegen das Regime, in Wahrheit aber richten sie sich gegen das Volk. Das Regime hat sich nicht verändert – die ganzen zwölf Jahre des Krieges lang nicht. Nun wird uns gesagt, dass das Regime sein Verhalten ändern muss. Auf diese Weise wird man das jedoch nicht erreichen. Man hat die gleichen Methoden und die gleiche Strategie beim Irak versucht – ohne Erfolg. Genauso wurde mit Kuba verfahren. Jetzt wird in Syrien dasselbe wiederholt, aber es führt zu nichts. Jetzt stirbt das syrische Volk vor Hunger. Eine Familie von vier oder fünf Personen muss von einem Dollar pro Tag leben: essen, trinken, die Schule besuchen oder die Universität, zur Arbeit fahren, Medikamente kaufen, ins Krankenhaus gehen – alles für einen Dollar. Das ist unmöglich.“Wenn es im Sommer bis zu 46 Grad heiß werde, gäbe es wegen fehlender Elektrizität „keine Möglichkeit, ein bisschen kaltes Wasser zu haben – eine Katastrophe. Und wenn man mit den Europäern spricht und fragt: Warum macht ihr das alles mit, weshalb seht ihr nicht die Leiden dieses Volkes, dann sagt man uns: ‚Nein, wir können daran nichts ändern, wir müssen weiter Druck auf das Regime ausüben.‘ Diese Politik trifft aber das ganze Volk.“ Sie hat die fatale Wirkung, dass damit externe Ursachen für eine Migration Richtung EU nicht nur aufrechterhalten, sondern permanent verstärkt werden. Sanktionen wie diese erweisen sich nicht nur als inhuman, sie sind zugleich kontraproduktiv und konterkarieren die Maxime der EU-Kommission, in Nordafrika oder im Nahen Osten etwas gegen Fluchtgründe zu tun, die Hunderttausende dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen.In den Medien finden sich von Zeit zu Zeit Angaben über „Syrien-Hilfen“ von beträchtlichen Millionen Euro aus Deutschland und der Europäischen Union. Ungesagt bleibt, dass sie ausschließlich für die Nordwestprovinz Idlib bestimmt sind, die von der Türkei und jenen Rebellen kontrolliert wird, die zum Sturz der Regierung in Damaskus angetreten waren. Die von Generalvikar Kassar angesprochenen Sanktionen beruhen auf einem 2019 vom US-Kongress verabschiedeten Gesetz. Im sogenannten Caesar Act heißt es, dass er allein die politische Klasse Syriens bestrafe. Es geht aber nicht nur um Lieferblockaden, Kontosperrungen, verweigerte Visa oder angedrohte Prozesse. Von Sanktionen bedroht werden zudem alle nicht syrischen Unternehmen und Länder, die mit dem syrischen Staat Handel treiben wollen. So hält die wirtschaftliche Isolation Syriens weiter an, obwohl die politische Ächtung durch die arabischen Staaten, die seit Beginn des Konflikts im März 2011 an der Seite des Westens standen, längst wieder fallengelassen wurde. Syrien ist per Mehrheitsbeschluss einer Gipfelkonferenz im Mai 2023 in die Arabische Liga zurückgekehrt.Die volle Bezeichnung des „Caesar Act“ ist zynischerweise Caesar Syria Civilian Protection Act, womit suggeriert wird, dass er dem syrischen Volk eine Art Zivilschutz vor Regierungsgewalt bieten soll. Tatsächlich ist er Ausdruck anderer Gewaltformen: Es wird Krieg mit anderen Mitteln geführt, der nach wie vor das Ziel eines „Regime Change“ verfolgt.Man fragt sich, weshalb der Iran und Russland keine effiziente Unterstützung mit Lebensmitteln, medizinischem Gerät und anderen Ausrüstungen zur bitter notwendigen Wiederherstellung der Infrastruktur leisten. Schließlich bietet Russland anderen notleidenden Ländern kostenlose Weizenlieferungen an. Das entscheidende Hindernis besteht offenbar darin, dass die internationalen Versicherer von Schiffen und ihrer Fracht ebenfalls sanktioniert werden. Iranische Schiffe, die versuchten, über das Rote Meer oder das Mittelmeer Syrien zu erreichen, werden durch eine militärische Blockade behindert. Die Sanktionen können also nur per Luftfracht umgangen werden. Und auch das ist schwierig, da die syrischen Flughäfen regelmäßig von Israel aus bombardiert werden. Der über den Irak mögliche Transportweg vom Iran nach Syrien – zum Teil die uralte Handelsstraße zwischen Bagdad und Damaskus – wird von der in At-Tanf an der syrischen Ostgrenze errichteten US-Air Base immer wieder angegriffen.Sanktionen verhindern nicht nur, dass sich Syrien aus den Kriegsfolgen herausarbeiten kann. Sie verfolgen auch ein offiziell nicht ausgesprochenes Ziel. Unter solchen Repressionen von außen kann und soll wohl kein nationaler politischer Raum entstehen, in dem Veränderungen und Reformen ausgehandelt werden könnten. Gezielt verschwiegen wird dem westlichen Publikum, dass sich zwischen den gesellschaftlichen Kontrahenten während des bewaffneten inneren Konflikts eine Dialogkultur erhalten hat. Die nach dem Abbau von Subventionen im September 2023 in der Südwestprovinz Suweida ausgebrochenen Unruhen konnten so durch Gespräche zwischen der Regierung und lokalen Autoritäten beigelegt werden. Die Gesprächskontakte zwischen der Regierung von Baschar al-Assad und den Kurden sind gleichfalls niemals abgerissen. Dazu trägt bei, dass Damaskus immer noch das Gehalt des Personals von Schulen bezahlt, die nach dem syrischen Lehrplan auf Arabisch unterrichten. Man muss dazu wissen, dass es in Nordsyrien Lehranstalten gibt, in denen die Kinder nur noch Kurdisch lernen. Im abgetrennten Idlib wiederum existieren Schulen, die den laizistischen Lehrplan durch einen von der Türkei gesponserten islamistischen Unterricht ersetzt haben.Exodus der ChristenMonsignore Amer Kassar treibt die große Sorge der Syrer um, dass die harten Gefechte zwischen Palästinensern und Israelis in Gaza schlimme Auswirkungen auf das eigene Land haben. Tatsächlich bestätigte der UN-Sicherheitsrat Ende vergangenen Jahres in einer Sitzung zur politischen und humanitären Lage in Syrien, der Krieg sei dort ebenfalls angekommen. Israel bombardiere alle Landesteile. Raketenangriffe auf die Flughäfen von Aleppo und Damaskus würden den zivilen Luftverkehr immer wieder zum Stillstand bringen und die ohnehin geringen UN-Hilfstransfers verhindern. Weil wichtige Geberländer – darunter nicht zuletzt Deutschland – ihre Mittel für das Welternährungsprogramm gekürzt haben, wurden Hilfen für die ärmsten Syrer seit Jahresbeginn ganz eingestellt. Auch von den durch Israel 1981 annektierten Golanhöhen wird Syrien aus der Luft und vom Boden her weiter attackiert, worauf die syrische Armee in der Regel mit Raketenbeschuss antwortet. Schließlich beschießen irakische Milizen US-Basen im syrischen Kurdengebiet, was die Gemengelage in einem Land komplettiert, das einen Bürgerkrieg, nicht aber viele innere Konflikte überwunden hat, in denen sich die Zerrissenheit einer ganzen Region spiegelt.Monsignore Kassar bedauert ungemein, dass besonders junge Menschen die einzige Überlebensmöglichkeit darin sehen, zu emigrieren. Das sei „jetzt die einzige Lösung für die Syrer, zumindest für das Volk, die normalen Menschen. Es gibt auch Leute, die profitiert haben, die viel Geld gemacht haben, die Neureichen, die Kriegsgewinnler.“ Dramatisch sei der Exodus der Christen. 2011 stellten sie zehn Prozent der Bevölkerung, jetzt höchstens noch zwei. Viele christliche Dörfer existieren nicht mehr. Die Gebliebenen, vor allem ältere und sehr alte Leute, haben in der Nähe von Damaskus eine Notgemeinschaft gegründet.Diese Abwanderung sei nicht nur für die Christen eine Katastrophe. „Man muss verstehen“, so Kassar, „dass die syrischen Christen im Verlauf der Geschichte, zusammen mit Muslimen, Juden, anderen Religionen und Ethnien das Land nach der Unabhängigkeit von 1946 gemeinsam erbaut haben. Wir waren immer Partner, keine Nebenfiguren.“ Es sei einer Präsenz der Christen zu verdanken, dass in Syrien „ein offener Islam entstand, der nicht extremistisch war. Wenn die christliche Gemeinschaft nun verlorengeht, wird auch die Abwehr von Extremisten und Dschihadisten darunter leiden. Wir wollen eigentlich gar nicht emigrieren, wir wollen in unserem Land bleiben. Helfen Sie uns, dass wir es können.“
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