Emissionshandel mit CO₂-Zertifikaten soll auf Privatleute ausgedehnt werden
Klimakrise Die CO₂-Emissionen der energieintensiven Industrie sind in den vergangenen Jahren kaum gefallen. Eine Reform des Emissionshandels ist überfällig. Doch das EU-Parlament verpasst eine große Chance
Die EU-Parlamentarier wollen die energieintensive Industrie offenbar weiter mit Samthandschuhen anfassen. Erst in fünf Jahren soll die kostenlose Zuteilung von CO2-Zertifikaten allmählich auslaufen, bis sie dann Ende 2032 ganz eingestellt werden soll. Krieg und Inflation werden als Gründe angeführt, dass der Klimaschutz erst mal hintanstehen soll. „Wir müssen der Industrie die Möglichkeit geben, sich anzupassen“, sagte der konservative EU-Politiker Peter Liese vor der Abstimmung im Europäischen Parlament in Brüssel jüngst.
Es ist hier die Rede vom Versuch der EU, ihr Emissionshandelssystem ETS (Emissions Trading System) zu reformieren. Das Prinzip des Marktinstruments: Kraftwerksbetreiber, große Industriebetriebe und inzwischen a
zwischen auch Fluggesellschaften müssen CO2-Zertifikate vorlegen, wenn sie Treibhausgase ausstoßen. Jährlich verknappt die EU die Zahl dieser Verschmutzungsrechte, die handelbar sind. Das soll die Industrie dazu bringen, ihren CO2-Ausstoß zu senken. Derzeit kostet ein Zertifikat für eine Tonne CO2 etwa 82 Euro.Weil die EU in den Anfangsjahren des ETS die Wirtschaft zu großzügig mit den Verschmutzungsrechten ausgestattet hatte, sind immer noch sehr viele Zertifikate im Umlauf. Die jetzt gefassten Beschlüsse werden aber wenig an dem Zertifikate-Überschuss ändern. In ihnen ging es darum, das Instrument des ETS an das 2021 beschlossene, ambitioniertere Klimaziel der EU anzupassen. Wie stark soll die Zahl der CO2-Zertifikate sinken? Wann soll die kostenlose Zuteilung enden? Und auf welche Branchen wird der Emissionshandel ausgeweitet? Die EU-Parlamentarier rangen monatelang um einen Kompromiss.Vergeblich – eine erste Abstimmung im Parlament Anfang Juni scheiterte. Auch weil die zuvor im Umweltausschuss ausgehandelten Positionen im Plenum durch Anträge von konservativen und liberalen Politiker:innen so stark aufgeweicht wurden, dass der Kompromiss schwächer gewesen wäre als der Kommissionsvorschlag.Der verwässerte Emissionshandel fand danach keine Mehrheit mehr unter den Abgeordneten. Die Schuld dafür schoben sich die Parlamentarier gegenseitig in die Schuhe. Was folgte, war mindestens so kurios wie das missratene Votum im Plenum: Die Abgeordneten verzichteten auf neue Beratungen im Umweltausschuss und gaben den abgelehnten Vorschlag erneut zur Abstimmung ins Parlament – zusammen mit einem Kompromiss unter Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen, die Ambitionen des Emissionshandels minimal zu erhöhen. Einmalig sollen nun 70 Millionen Zertifikate aus dem Emissionshandel entfernt werden sowie weitere 50 Millionen im Jahr 2026. Das soll die Zahl überschüssiger Zertifikate verringern. Umweltorganisationen hatten auf Löschung von noch mehr Verschmutzungsrechten gedrängt.Reform des Emissionshandels wird verwässert„Das Europäische Parlament hat keine gute Arbeit geleistet“, urteilt Juliette de Grandpré, zuständig für europäische Klimapolitik bei der Umweltschutzorganisation WWF. Das Parlament müsste progressiver sein als Kommission und Rat. „Wenn jetzt Kommission und Parlament aber beide eine eher gemäßigte Position vertreten, dann werden wir noch deutlich an Ambition verlieren“, so Juliette de Grandpré weiter. Denn Europas Regierungen vertreten im EU-Rat eher wenig anspruchsvolle Positionen beim Umweltschutz, sodass die Reform weiter abgeschwächt werden könnte.Ein Hinauszögern in der Klimapolitik kann sich die EU aber nicht leisten. Die weltweiten Durchschnittstemperaturen liegen mittlerweile mindestens 1,1 Grad über dem vorindustriellen Niveau. Schon heute sind heftigere und intensivere Wetterextreme wie Hitze oder Starkregenfälle auch hierzulande keine Seltenheit mehr.2021 hatte die EU ihr Klimaziel angehoben: Um 55 Prozent sollen die Emissionen bis 2030 im Vergleich zu 1990 sinken. Damit das gelingt, hatte die Kommission ein historisches Klimapaket vorgelegt. Das sogenannte Fit-for-55-Paket. Dieses soll für einen schnelleren Ausbau der Erneuerbaren, mehr Tempo bei der Gebäudesanierung, dem Ende von Autos mit Verbrennermotor und für striktere Klimavorgaben für die einzelnen Mitgliedsstaaten sorgen.Die Folgen werden weitreichend für die Europäer:innen sein: Innerhalb weniger Jahre sollen sie sich klimaneutral fortbewegen und ohne CO2-Ausstoß wohnen, essen sowie arbeiten. Bis 2030 sollen Emissionen in den Sektoren, die Teil des ETS sind, um 63 Prozent im Vergleich zu 2005 sinken. Das ist etwas ambitionierter als der Kommissionsvorschlag mit 61 Prozent, reicht aus Sicht von Umweltschützern aber nicht. „Der ausgehandelte Kompromiss ist zu schwach“, meint Juliette de Grandpré vom WWF. Eine Verschärfung des ETS-Klimaziels auf mindestens 68 Prozent wäre notwendig gewesen, um das 1,5-Grad-Ziel in Reichweite zu halten. Und auch die Zuteilung kostenloser Zertifikate müsste spätestens 2030 auslaufen.Doch so schnell will das Parlament nicht von der bisherigen Zuteilungspraxis lassen. Es wird befürchtet, dass energieintensive Betriebe in Staaten ohne CO2-Preis abwandern könnten, wenn die Industrie zu stark belastet wird. „Die kostenlosen Zuteilungen an besonders wettbewerbsintensive Branchen ist ein Zugeständnis an die internationale Handelspolitik“, sagt Carolin Schenuit, Vorständin beim Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS). Nur so könnten diese mit anderen Herstellern auf der Welt konkurrieren, die keinem CO2-Preis unterliegen.Künftig sollen die kostenlosen Zuteilungen schrittweise durch ein weiteres, neues Klima-Instrument ersetzt werden: einen Klimazoll, für den die Angeordneten ebenfalls stimmten. Das ist weltweit einmalig. In Drittstatten hergestellte Produkte, die aber innerhalb der EU unter den Emissionshandel fallen würden, sollen künftig einen CO2-Preis beim Import erhalten. Importe und in der EU produzierte Waren werden also beim CO2-Preis gleichgestellt, das soll die europäische Industrie vor klimaschädlichen Wettbewerbern aus dem Ausland schützen.Allerdings waren die Parlamentarier aus Sicht von Energieexpertin Schenuit zu zaghaft bei der Einführung des CO2-Grenzausgleichs (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM). „Natürlich muss so ein Instrument sorgfältig eingeführt werden, aber man sollte sich nicht fünf Jahre Zeit lassen“, so Carolin Schenuit weiter. „Wir brauchen dieses Signal auch für unsere weltweiten Handelspartner, dass die EU das mit dem Klimaschutz ernst meint und entsprechend handelt.“Emissionshandel ab 2025 zunächst für Gewerbetreibende und ab 2029 auch für PrivatleuteDas Preissignal aus dem Emissionshandel käme dann auch erstmals komplett bei der innereuropäischen Industrie an – der Druck, klimaneutral zu produzieren, würde deutlich steigen, weil die Kosten für die Verschmutzung der Atmosphäre vollständig internalisiert würden. Zugleich würden die Einnahmen der EU steigen, wenn die Industrie die CO2-Preise komplett bezahlen muss und auch Importeure den Grenzausgleich abführen müssen. Tatsächlich braucht die EU Unsummen an Geldern, um den Umbau der Wirtschaft zu finanzieren.Weil aber die Industrie bisher eben nur teilweise dem Emissionshandel unterliegt, sind die Emissionen der energieintensiven Industrie – also etwa von Zement-, Stahl-, Glas- und der chemischen Industrie – in den vergangenen Jahren kaum gefallen. „In den letzten zehn Jahren hat es fast keinen Rückgang von CO2-Emissionen im Industriesektor gegeben“, sagt Agnese Ruggiero von der europäischen Umweltorganisation Carbon Market Watch.Anders als die Stromwirtschaft, die auch dem Emissionshandel unterliegt. Ihre Emissionen sind aufgrund des CO2-Preises in der vergangenen Dekade um mehr als 20 Prozent gefallen. Der CO2-Preis führt dort zu Treibhausgaseinsparungen, wo sie am günstigsten umgesetzt werden können. Und das war eben lange Zeit bei den Kohlekraftwerken der Fall.Die EU-Abgeordneten votierten trotzdem noch für eine Ausweitung des Emissionshandels. Fluggesellschaften sollen für alle in der EU startenden Flüge Zertifikate erwerben. Auch die Schifffahrt sowie Branchen wie die Kunststoffindustrie sollen künftig Emissionszertifikate ersteigern. Neben dem bestehenden soll auch noch ein neuer Emissionshandel aufgelegt werden. Dieser soll die Emissionen beim Heizen und bei der Mobilität senken. Nach Willen der Parlamentarier soll der ETS 2 ab 2025 zunächst aber nur für Gewerbetreibende gelten und 2029 auf Privatleute ausgedehnt werden.Ob dieses Votum vom Rat aufgegriffen wird, ist fraglich. Etliche Staaten haben Vorbehalte gegen die Einführung eines Emissionshandels für Verkehr und Heizen, weil das die Lebenshaltungskosten in Osteuropa viel stärker belasten würde als etwa in Deutschland. Auch die Trennung zwischen Gewerbe und Privaten stößt im Rat auf Ablehnung.Auch Fachleute sprechen sich gegen eine solche Trennung aus, weil ein teilweise eingeführtes Instrument nicht ausreichend Preissignale für die Transformation hin zu klimaneutralen Alternativen sende.Ein neuer sozialer Klimafonds soll die Kosten der Energiewende abfedern. Vor allem von Energiearmut betroffene Menschen sollen mit dem Geld entlastet werden. Maßnahmen zum Energiesparen oder klimafreundliche Mobilität sollen mit dem Geld finanziert werden. Aber auch die Senkung von Energiesteuern, wenn Kraft- und Heizstoffpreise steigen.Auf die notwendige Transformation aufgrund der derzeitigen Preissteigerungen zu verzichten, ist für Carolin Schenuit vom FÖS ein Schattengefecht. „Die akute Situation in der Ukraine und die hohen Energiepreise als Gegenargument für rasch wirksame Klimaschutzmaßnahmen zu nehmen, blendet die Bedrohlichkeit der Klimakrise aus. Ihre Folgekosten werden um ein Vielfaches teurer, als jetzt eine beschleunigte Transformation zu finanzieren“, sagt Schenuit. Deshalb brauche es steigende Preise für klimaschädliche Produkte und ein Ende der staatlichen Förderung von fossilem Energieverbrauch. „Wir müssen in die Alternativen kommen und das Geld in klimafreundlichen Lösungen – sei es bei der Heizungsanlage oder dem Auto – stecken.“Sicher ist: Die Transformation wird extrem viel Geld verschlingen. Schon jetzt warnen Wissenschaftler:innen aber, dass die Schäden durch die Klimakrise noch viel teurer werden könnten als Investitionen in eine dekarbonisierte Zukunft. Doch anders als beispielsweise Subventionen für klimafreundliche Technologien macht der CO2-Preis die Kosten für die Transformation transparent. Das ängstigt viele Menschen erst mal mehr als verdeckte Kosten.Dabei steht einiges auf dem Spiel: Wird die Energiewende jetzt nicht beherzt angegangen, schließt sich das ohnehin schrumpfende Handlungsfenster für wirksamen Klimaschutz. Innerhalb dieses Jahrzehnts müssen große Schritte hin zu einer fossilfreien Zukunft gemacht werden, sonst wird das Ziel, bis Mitte des Jahrhunderts klimaneutral zu werden, verfehlt. Noch heftigere Temperaturen, Extremwetter, Dürren oder Überflutungen wären die Folge.Placeholder authorbio-1