Blinde Zombies

Digitalisierung Maschinen deformieren uns. Was früher der Tennisarm war, ist heute der Handynacken. Warum lassen wir das zu?
Ausgabe 04/2019
90 Prozent aller Schüler in China sind kurzsichtig
90 Prozent aller Schüler in China sind kurzsichtig

Foto: VCG/Getty Images

Ich bin freie Autorin, mein Schreibtisch steht zu Hause, direkt am Fenster, wo ich viel Tageslicht habe, und wenn ich vom Bildschirm aufblicke, sehe ich Krähen, die in den Balkonkästen der Nachbarn ihre Schätze verstecken, und Zimmermänner, die Dachgeschosse ausbauen. Ich bin so froh, dass meine Augen das alles noch gut erkennen. Um die Sehkraft zu erhalten, höre ich neuerdings mit der Arbeit auf, sobald es dunkel ist. Im Winter sind die Arbeitstage dadurch kürzer geworden, aber das sind mir meine Augen wert. Obwohl ich sogar eine neue Bildschirmarbeitsbrille besitze, auch Office-Brille genannt, die auf einen Abstand von etwa einer Armlänge zwischen Auge und Bildschirm optimiert ist, verschwimmen mir bei Kunstlicht die Texte, und selbst Buchstaben und Zahlen, die ich vergrößere, tanzen aus der Reihe.

Ich müsste die Augen zusammenkneifen, oder eines abdecken, um besser zu fokussieren, aber das ist nicht gut für das Auge, das die ganze Arbeit erledigt. Deshalb gönne ich mir den Arbeitsschutz und klappe bei Sonnenuntergang die Kiste zu, als wäre ich in einer Behörde angestellt und nicht eine freie, superflexible Autorin.

Arbeitsschutzmaßnahmen haben in meinem bisherigen Berufsleben keine Rolle gespielt, das rächt sich jetzt. Auch die freie Medienarbeiterin wird von ihren Maschinen geformt – und deformiert.

Jetzt fällt mir auch auf, wie viele Leute Brille tragen. Wer trägt noch keine? Von den wenigen muss man die Kontaktlinsenträger abziehen, da bleibt kaum einer übrig. Unsere Augen sind in Gefahr. Weltweit leiden die jungen Leute unter einer neuen, epidemischen Kurzsichtigkeit. 90 Prozent aller Schüler in China sind kurzsichtig, in Deutschland und in der Schweiz sind es im Vergleich „nur“ 50 Prozent.

Zu den Gründen epidemischer Kurzsichtigkeit gibt es bereits Studien, und natürlich hat es mit den Handys und kleinen Bildschirmen zu tun. Doch der entscheidende Faktor ist nicht die Anzahl der Stunden vor dem Bildschirm oder der geringe Abstand zwischen Bildschirm und Auge – der bei vielen Teenagern auch zur Deformation des Halswirbels führt, zum „Handy-Nacken“ (gibt’s eigentlich noch den Tennisarm?). Der entscheidende Faktor ist das Tageslicht, und wie viel oder wenig Sonne das Auge von Heranwachsenden erhält. Eine zu geringe Exposition an der Sonne führt zur Veränderung des Augapfels, der Augapfel wird länger, damit verlagert sich der Fokus der Netzhaut, woraus Kurzsichtigkeit resultiert. Schüler in China, die im Gegensatz zu europäischen Schülern ein längeres Schulpensum haben und früher eingeschult werden, verbringen schlicht zu wenig Zeit an der Sonne. Mit der Kurzsichtigkeit geht auch ein erhöhtes Risiko für spätere Erblindung einher. Erste Schulen in China steuern dagegen und verordnen Outdoor-Unterricht.

Der Optiker, der mich zu meiner neuen Office-Brille beriet, erzählte noch, wie sich früher die Menschen halfen, als es noch keine Brillen gab. Die Brille wurde um 1270 erfunden, aber bis zur Kassenbrille war es noch ein langer Weg. Was taten kurzsichtige Bauern, die ihren Acker bestellen mussten? Sie banden sich ein Brett vor den Kopf und bohrten Löcher für die Augen hinein. So konnten sie in der Ferne fokussieren und mit geschärftem Blick den Pflug führen. Da sie das nächstliegende Hindernis nicht sahen und oft hinfielen, wurde das Brett vorm Kopf zum Synonym für Begriffsstutzigkeit, obwohl es mal eine ganz schlaue Sache war.

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Geschrieben von

Sarah Khan

Jg.71, Autorin, Gespenster-Reporterin, Michael-Althen Preisträgerin, aufgewachsen zwischen Protestanten u Pakistanern in Hamburg

Sarah Khan

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