Start Beim ersten Parteitag des Bündnisses Sahra Wagenknecht lässt sich ablesen, vor welcher Herausforderung die neue Partei steht: dem Balanceakt zwischen Abgrenzung zur AfD und Kritik an der Ampelregierung
Größte Herausforderung für die Parteitagsregie: Fotografinnen und Kameraleute der Bühne zu verweisen – von dort war die Sicht auf Reihe eins halt am besten
Foto: Benjamin Sauer für der Freitag
Ziele nicht zu hoch zu stecken, kann eine Tugend sein, insofern: Ein etwas genaueres Wissen über die Geschichte in Europa, das wäre doch schon mal ein Ziel für diese neue Partei. „Am 27. Januar 1945 hatten die Alliierten das Konzentrations- und Todeslager Auschwitz-Birkenau befreit“, so ist es ja gerade wieder auf der Internetseite der Europäischen Kommission zu lesen.
Wenn in Berlin, beim ersten Parteitag des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW), gleich zu Beginn die Schriftstellerin und Gastrednerin Daniela Dahn daran erinnert, dass die Rote Armee Auschwitz befreit hat, wenn anschließend Agata Wiśniowska, die ehemalige Vizebürgermeisterin von Oświęcim, der Stadt, bei der die Nazis ihr Vernichtungslager errichteten, Frieden in Eur
dass die Rote Armee Auschwitz befreit hat, wenn anschließend Agata Wiśniowska, die ehemalige Vizebürgermeisterin von Oświęcim, der Stadt, bei der die Nazis ihr Vernichtungslager errichteten, Frieden in Europa fordert – dann ist das nicht nur ein Bemühen um genaueres Geschichtswissen an diesem 27. Januar 2024, nicht nur eine Erklärung für die Sehnsucht nach Frieden mit Russland im Saal. Sondern zugleich eine Antwort auf den Vorwurf, der hier bei all der erstaunlichen Leichtigkeit in den Gängen auf der Bühne doch noch etliche Redner triggert: der, „rechtsoffen“ zu sein.Bündnis Sahra Wagenknecht als Koalitionsoption für die CDUDabei begrüßen Journalisten und Politikwissenschaftler längst die Befüllung der sozialpolitisch linken und gesellschaftspolitisch konservativen Lücke im Parteiensystem, wird die Rechtsoffenheit dieser Partei bis hin zur FAZ inzwischen weniger in Hinblick auf vermeintliche Nähe zur AfD als mehr über die Frage nach Koalitionsfähigkeit mit der CDU diskutiert.Gemessen am Europawahlprogramm wäre das wahrlich ein Wagnis, den „Vorrang der sozialen Grundrechte vor den Binnenmarktfreiheiten“ will die CDU wohl kaum in den EU-Verträgen verankern, und die Freiheit Julian Assanges liegt ihr so wenig am Herzen wie „eine neue europäische Friedensordnung, die längerfristig auch Russland einschließen sollte“ oder „ein europäischer Mindeststeuersatz auf Unternehmensgewinne von 25 Prozent“.Doch bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen geht es im Herbst nicht um Europapolitik, eher um Migration, bei der das BSW „Schlepperbanden das Handwerk legen, in den Heimatländern Perspektiven schaffen“ und Asyl- wie Prüfverfahren zum Schutzstatus an die EU-Außengrenzen oder in Drittländer verlegen will. Einen Unvereinbarkeitsbeschluss, wie er Die Linke trifft, wird das bei der CDU kaum provozieren – also ist das BSW nun schon Teil all der publizistischen und politischen Planspiele für Koalitionen jenseits der AfD.Schnell zum Kreis der Etablierten gezählt zu werden, kann hinderlich sein für eine Partei, die als Anti-Establishment-Stimme Wähler finden will, konkret: die nach erklärtem Willen ihrer Gründer und gemäß auf sie projizierten Hoffnungen auch vieler politisch BSW-Ferner AfD-Wähler zurückholen soll. Das ist ein hochgestecktes Ziel – im Jahr 2024 wäre vielleicht schon viel erreicht, würde die AfD nicht noch mehr Stimmen hinzugewinnen, weil es jetzt eine Alternative für Ärger gibt – für Ärger vor allem über die Ampelregierung.Umjubelte Reden von Sahra Wagenknecht und Oskar LafontaineZu der ist die Abgrenzung in den laut umjubelten Reden Sahra Wagenknechts und Oskar Lafontaines dann doch weit wichtiger als die Beschäftigung mit der AfD. Eine Steilvorlage hatte Grünen-Chefin Ricarda Lang mit ihrer im Fernsehen vorgetragenen Ahnungslosigkeit bezüglich der Durchschnittsrente in Deutschland geliefert, diese auf 2.000 statt 1.543 Euro geschätzt. „Das ist doch das Sinnbild dieser Abgehobenheit!“, ruft Wagenknecht und hält auch ihr Verdikt „dümmste Regierung Europas“ nicht zurück.Das hatte sie erstmals im Energiepreisschock-Herbst 2022 bemüht und damit die Wirtschafts-, Energie- und Sanktionspolitik vor allem Robert Habecks kritisiert. Es wird wohl nicht das letzte Mal gewesen sein, steuert Deutschland doch gerade auf eine Rezession zu, während etwa Frankreichs Wirtschaft zuletzt wuchs, und bleiben doch die Regierungsparteien, während sie sich durch ihre haushaltspolitischen Differenzen lavieren, in dieser Frage im besten Falle blass. Zudem nominierten FDP und SPD, zeitgleich zum BSW-Parteitag, für die Europawahl am 9. Juni Spitzenkandidatinnen, die große Angriffsfläche bieten: Rüstungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann auf der einen, Katharina Barley – sie hätte im Buch Die Selbstgerechten wohl Erwähnung gefunden, wäre Wagenknecht dort nicht sehr spärlich mit den Namen von Politikern umgegangen – auf der anderen Seite. In die Tagesschau drang von Strack-Zimmermanns und Barleys Parteitagsreden kaum mehr vor als eine sehr ähnliche Abgrenzung zur AfD.Derweil ist die Europawahl-Liste des BSW, bei mittelgroßer Prominenz, ein Mix aus Ex-Linke-Mitgliedern wie Fabio De Masi, Wagenknechts langjähriger Büroleiterin Ruth Firmenich oder der Ostberliner Wirtschaftspolitikerin Jutta Matuschek zum einen und Angehörigen des Bekanntenkreises Wagenknecht/Lafontaine zum anderen: der als OSZE- und UN-Diplomat erfahrene Michael von der Schulenburg und der Autor Michael Lüders für die Außenpolitik, der Epidemiologe und Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen Friedrich Pürner für die Corona-Aufarbeitung, der Neurochirurg Jan-Peter Warnke aus Zwickau für die Sachsen- und der vormalige Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel für die Nordrhein-Westfalen-Prominenz.„Ossi durch und durch“Auf den Drehbuchautor und Rhetoriker Stephan Falk könnte auch ohne Parteiposten und Listenplatz die Aufgabe entfallen, Wagenknecht vom nächsten Termin bei Markus Lanz zu entlasten – den Bogen von der Friedenspolitik über Migration bis hin zu Finanztransaktions- sowie Übergewinnsteuern auf Tech-Konzerne schlägt er bei seiner Rede mit William Shakespeare: „Wir leben in einer Zeit, in der die Verrückten die Blinden führen.“Das eins zu eins abgearbeitete Drehbuch für den Parteitag hat Falk nicht geschrieben, es darf dem Führungskreis zugerechnet werden, der sich nun größtenteils im auf zwei Dutzend Personen erweiterten Parteivorstand um die beiden Chefinnen Wagenknecht und Amira Mohamed Ali, Generalsekretär Christian Leye, Schatzmeister Ralph Suikat und Geschäftsführer Lukas Schön wiederfindet. Die Wahl dazu verläuft ebenso glatt wie die zur Liste für das Europaparlament: ohne eine einzige Kampfkandidatur und mit Zustimmungswerten, die nur beim westdeutschen Ex-SPD-Mitglied und früheren Treuhand-Manager Thomas Geisel mit um die 70 Prozent merklich unter den 99 Prozent für Michael Lüders oder den 98 Prozent für Fabio De Masi liegen.Wolfgang Schäuble und Hans ModrowKnapp 93 Prozent werden es bei Jutta Matuschek, was mit an ihrer Vorstellung als „Ossi durch und durch“ liegen mag – und an der integrativen Einleitung einer weiteren kleinen Geschichtsstunde. Die gebe sie „bestimmt nicht in Konfrontation zu den Wessis“ – „Ich bin übrigens mit einem verheiratet, und das ist richtig schön“, sagt Matuschek, bevor ein wahrhaft seliges Lächeln über ihr ganzes Gesicht strahlt. Doch zur „subtilen Diffamierung und Diskreditierung des Ostens“ müsse sie jetzt schon noch ein Wort verlieren: Nichts gegen einen Staatsakt zum Tod Wolfgang Schäubles. Aber dass zum – hingegen rein privat organisierten – Begräbnis Hans Modrows außer Gerhard Schröder keiner von denen, die sich heute als Erfinder der Einheit feierten, gekommen sei, das sei eben so ein Beispiel für diese subtile Diffamierung. Modrow als damaligem DDR-Regierungschef sei es schließlich mit zu verdanken, dass 1989 alles friedlich blieb.Auch beim BSW-Parteitag bleibt alles friedlich, so friedlich, dass auf den Gängen der Satz „Ach Mensch, hier ist man richtig gerne“ so oder so ähnlich des Öfteren zu hören ist. Kein Wunder, die meisten der Anwesenden kannten Parteitage bisher nur von der Linken her; da ging es in vergangenen Jahren ganz anders zu. Ewig aber wird sich das kuratierte Einstimmigkeitsprinzip mit den knapp 400 anwesenden Parteimitgliedern kaum halten lassen – von draußen drängen viele Neue in die Partei, die eigentlich bis zur nächsten Bundestagswahl nur langsam wachsen will. Wachstumsschmerzen dürften den Aufbau der Landesverbände schon auf dem kurzen Weg zur Europawahl begleiten. Abgewiesene gibt es längst, und nicht jeder Landesbeauftragte wird jeden Bewerber zum persönlichen Kennenlernen treffen können.Gregor Gysi hat das schon zu nutzen versucht, um Unfrieden zu stiften. Beim zeitgleichen Brandenburger Landesparteitag der Linken in – Jutta Matuscheks Geburtsstadt – Templin giftete Gysi, er wünsche Wagenknecht, dass sich „ein ganz schmieriger Typ einklagt“. Einstweilen haben sie das beim BSW mit einem fast mitleidigen Kopfschütteln aufgenommen.
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