Das Bündnis Sahra Wagenknecht ist jetzt eine Partei – mit Schönheitsfehler
Gründung Fabio De Masi und Thomas Geisel als Spitzenkandidaten für das Europaparlament, Sahra Wagenknecht und Amira Mohamed Ali als Parteispitze, deutliche Ansagen in der Migrations- und Sozialpolitik: Das „BSW“ will 2024 zu vier Wahlen antreten
Fabio De Masi, Amira Mohamed Ali, Christian Leye, Sahra Wagenknecht, Shervin Haghsheno, Thomas Geisel und eine Vertreterin der Bundespressekonferenz in Berlin (von links)
Foto: Jörg Carstensen/picture alliance
Fabio De Masi hasst es, wenn sein Name falsch geschrieben wird, dem Freitag ist das auch schon passiert. Und er hat Recht: denn meist heißen die Falschschreiber eher Michael und Müller – oder Thomas Geisel. Er, der frühere Oberbürgermeister Düsseldorfs, und „Fabio de Masi“, schrieb Geisel in einem Rundbrief an SPD-Freunde Anfang Januar, würden die BSW-Liste bei den Europawahlen anführen. Das falsche kleine „d“ ist wohl der kleinere Belastungstest für das Duo, das auf der Liste des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) für die Europawahl am 9. Juni ganz oben stehen soll. Der größere dürfte sein, dass es diesen Rundbrief Geisels überhaupt gegeben hat – und er ganz schnell in Originalform in
ginalform in Medien kursierte.Was Thomas Geisel zur Migrationspolitik sagtDas ist eine BSW-Premiere, denn bisher fiel der Kreis hinter der nun vollzogenen Parteigründung durch eine Verschwiegen- und Verschworenheit auf, die zumindest jene verblüfft, die in vergangenen Jahren mit einer häufig zulasten eigener Genossen angelegten Geschwätzigkeit der Linkspartei zu tun hatten. Aus dem Wagenknecht-Lager derer, die die Linke verlassen haben, sah sich bis dato niemand zu vorzeitigen persönlichen Verlautbarungen berufen. Dann kam Thomas Geisel. „Ich glaube, er hatte schlicht Langeweile und wusste nicht, was er dieses Jahr machen sollte“, sagte dessen Noch-Parteifreund, der SPD-Fraktionschef im Landtag Nordrhein-Westfalens, Jochen Ott, dem WDR. „Da hat er sich dann wohl gedacht ‚Komm, geh ich mal in eine andere Partei‘“. Der WDR machte in seinem Bericht aus „De Masi“ übrigens „di Masi“.Was Geisel den Genossen geschrieben hatte, war im Grunde sein Statement bei der Vorstellung der nunmehr von 44 Mitgliedern gegründeten Partei in der Bundespressekonferenz Anfang der Woche, etwa: „Das individuelle Grundrecht auf Asyl“ solle vor dem Hintergrund der ungesteuerten Migration und der bei Kita-Plätzen, Schulen, Wohnungen und Integration überlasteten Kommunen „abgelöst werden durch ein Einwanderungsrecht, das sich am tatsächlichen Fachkräftebedarf in Deutschland ebenso orientiert wie an der humanitären Tradition unseres Grundgesetzes“.Konkret: Anträge auf Asyl sollen nach Willen des BSW an den Außengrenzen der EU oder in Drittstaaten entschieden werden, damit nicht mehr nur diejenigen nach Deutschland kämen, die sich teure Schlepper leisten könnten, oft kaum Aussicht auf einen erfolgreichen Asylantrag hätten, aus verschiedenen Gründen aber nicht abgeschoben werden könnten. Das ist der migrationspolitische BSW-Konsens, gegen den auch Fabio De Masi nichts einzuwenden hatte – und mehr Redeanteile als der ehemalige Linken-Finanzpolitiker hatte keiner während der zweistündigen Pressekonferenz in Berlin. Es gab kaum eine Antwort eines Mitstreiters auf dem Podium, die er nicht noch „ergänzt“ hätte.Eingebetteter Medieninhalt„Heftig gesträubt“ habe er sich bis kürzlich gegen eine Rückkehr in die Politik. Für den Sinneswandel verantwortlich seien eine Ampelregierung, die sich als „Erntehelfer“ der AfD betätige, welche wiederum etwa in Sachsen mittlerweile Aussicht auf eine absolute Mehrheit habe, ebenso wie die „Beharrlichkeit“ Wagenknechts und des BWS-Generalsekretärs Christian Leye sowie „spannende Mitstreiter“ wie Geisel „und weitere Überraschungen, die Sie in den nächsten Wochen verfolgen können“.De Masi, der sich zuletzt als parteiloser Autor und „Finanzdetektiv“ weiter der Wirecard-Aufklärung und den Gedächtnislücken von Olaf Scholz beim Cum-Ex-Skandal widmete, will sich in Brüssel und Straßburg unter anderem für eine gerechte Konzernbesteuerung und Licht im Dunkeln rund um den „Filz“ bei den Impfstoffdeals von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der Corona-Zeit einsetzen. Vor seiner Zeit im Bundestag zwischen 2017 und 2021 gehörte De Masi von 2014 bis 2017 schon einmal dem Europaparlament an.1,4 Millionen Euro SpendenDie Chancen auf seinen Wiedereinzug stehen gut – eine Sperrklausel gibt es am 9. Juni nicht. Zudem deutet die Erstbefüllung der Parteikasse mit Spenden von bisher 1,4 Millionen Euro – 90 Prozent Kleinbeträge, 50.000 Euro von einem Ehepaar, dreimal 20.000 und zehnmal etwa 10.000 Euro – Kampagnenfähigkeit an. Doch allein der erste Parteitag am 27. Januar in Berlin, bei dem die Partei ihr Programm zur Europawahl beschließen will, schlägt laut Schatzmeister Ralph Suikat trotz kleinem Rahmen bereits mit Kosten von 100.000 Euro zu Buche.Klein soll der BSW-Rahmen auch bei den Mitgliedern bleiben – 450 nimmt die neue Partei in einem ersten Schritt auf und wirbt darum, zunächst „Unterstützer“ oder „Förderer“ zu werden. Verhindern kann sie das Stellen von Mitgliedsanträgen freilich nicht; die Strategie, den Kreis dennoch zunächst klein und von unerwünschten Mitläufern freizuhalten, ist auf der Internetseite der Partei erkennbar, wo es heißt, „die Bearbeitung der Mitgliedsanträge“ könne „aufgrund der noch sehr geringen Partei-Ressourcen einige Zeit in Anspruch nehmen“.Von Ressourcen und Personal wird abhängen, ob das BSW im Herbst 2024 tatsächlich bei allen drei Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg antritt. Eine „solide, kompetente“ Liste mit jeweils 30 bis 40 Kandidaten brauche es dafür, sagte Wagenknecht, die mit Ex-Linken-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali die Parteispitze bildet. „Ich gehe davon aus, dass wir das schaffen.“ Im Angesicht des „Schönheitsfehlers“ einer gewissen „Westlastigkeit“ des bisherigen Gründerkreises versprach Wagenknecht zudem „profilierte ostdeutsche Kandidaten und Kandidatinnen“ schon für die Liste zur Europawahl.Von De Masi bis Mohamed Ali: Westdeutsch und mit MigrationshintergrundEin Versuch der Kopie der AfD-Strategie, mit westdeutschen Einwanderern bei ostdeutschen Wahlen abzuräumen, ist demnach nicht zu erwarten. Nicht nur die AfD dürfte das BSW derweil übertreffen, was den Anteil der Parteivertreter mit internationaler Einwanderungsgeschichte und Migrationshintergrund angeht, vom Enkel eines italienischen Partisanen De Masi über die Tochter eines Ägypters Mohamed Ali bis zum mit seiner Familie Anfang der 1990er aus dem Jemen geflohenen Ali Al-Dailami. Ein kleines bisschen länger lebt Shervin Haghsheno in Deutschland. Der Bauingenieur, Wirtschaftswissenschaftler und neue stellvertretende BSW-Parteivorsitzende wurde in Teheran geboren, kam 1985 mit zehn Jahren nach Deutschland und ist nach einer Karriere im Management des Baukonzerns Bilfinger Universitätsprofessor am Karlsruher Institut für Technologie.Iranisch sind im Grunde genommen auch die Wurzeln des Parteinamens: Nach der Geburt Sahra Wagenknechts hatte die Hebamme das „h“ in der Geburtsurkunde versehentlich ans Ende des Vornamens gesetzt, nach deutscher Schreibweise. Sahra Wagenknecht änderte dies zur persischen Schreibweise mit „h“ in der Mitte, wegen ihres iranischen Vaters.Nach Etablierung soll es einen anderen Namen als „Bündnis Sahra Wagenknecht“ gebenDie Personalisierung im Namen der Partei, wie sie manche arg irritiert, soll bis zur nächsten Bundestagswahl 2025 bleiben, um auf Wahlzetteln leicht identifizierbar zu sein. Einen neuen Namen soll die Partei erhalten, sobald sie sich etabliert hat. Wagenknecht selbst sieht ihren Platz im Bundestag, wo sie derzeit als Chefin der zehn abtrünnigen Linken-Abgeordneten, die die Anerkennung als parlamentarische Gruppe beantragt haben, amtiert und für den sie wieder kandidieren will. Dass sie selbst erst zur fünftnächsten größeren Wahl antritt, hat einen – womöglich nicht bewusst kalkulierten – Nebeneffekt: Sollte das Projekt in diesem Jahr scheitern, bliebe zumindest die persönliche Wahl-Weste der Gründerin sauber – Schadensbegrenzung für eine künftige publizistische Karriere.Doch nach Scheitern sieht es nicht aus, der Start lief merkbar glatter als von vielen Beobachtern erwartet. Ein solch detail- wie professionalitätsversessener Perfektionist wie De Masi hätte sich der Formation sonst kaum angeschlossen – und gleich selbst das mittelfristige Ziel „Volkspartei“ ausgerufen. Das tat er bei einer seiner Ergänzungen wohl nicht ohne Hintergedanken: In einer Volkspartei gebe es unterschiedliche Nuancen und Debatten, sagte De Masi. Sein Vorredner Thomas Geisel hatte da gerade gegen „Karrieren von Bürgergeld und Schwarzarbeit“ sowie das Befördern eines „Milieus von Kostgängern und Almosenempfängern“ gesprochen und davon, dass ein starker Sozialstaat elementares BSW-Ziel, Solidarität aber ein Stück weit auch „ein Geschäft der Gegenseitigkeit“ sei.Nicht dass De Masi Widerspruch erkennen ließ, im Gegenteil, er bekräftigte Einigkeit mit Geisel – für eine starke Arbeitslosenversicherung, die langjährig Versicherte länger schützt, höhere Löhne auch zur Vermeidung von Schwarzarbeit und auch für Mitwirkungspflichten jüngerer Erwerbsloser – auch aus einer Fürsorgepflicht, damit sie nicht in einer Depression landen und so auch Beschäftigungsfähigkeit verlieren. Eine innerparteiliche Vielfalt an „Nuancen“ lässt sich hinter einer solch ausführlichen Einigkeitsrede aber durchaus vermuten.
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