Die Proteste gegen die Corona-Politik bergen eine erfreuliche und zugleich bittere Erkenntnis: Wie sehr ein Staat Demonstrationen auch erschweren mag, verhindern kann er sie in einem demokratischen Rechtsstaat kaum – vorausgesetzt, eine signifikante Zahl von Menschen geht auf die Straße. Bei „Querdenkern“ und Konsorten ist das der Fall; Witze über deren zu hohe Selbsteinschätzungen der Teilnehmerzahl sind jedenfalls längst verstummt. Es sind zwar immer noch nicht „Hunderttausende“ oder „Millionen“, die gegen eine vermeintliche Impfpflicht, Merkel-Diktatur oder gegen die Novelle des Infektionsschutzgesetzes durch Bundestag, -rat und -präsidenten innerhalb nur eines Tages protestieren. Aber rund 10.000 eben schon, vergangene Woche, in Berlin, am Brandenburger Tor. 10.000 Leute an einem Mittwochvormittag, die muss man erst mal mobilisieren.
Bitter ist diese Erkenntnis für all jene, die sich wünschen, die Polizei würde all diese „Covidioten“ von der Straße fegen oder sie sich gar nicht erst versammeln lassen. Verklausuliert wird dieser Wunsch gern in den Worten vorgetragen, es bedürfe einer „angemessenen Reaktion“ der Polizei, offen als Aufforderung zum Demo-Verbot.
Ich war an jenem Mittwoch für anderthalb Stunden am Brandenburger Tor – schön im Windschatten zweier Wasserwerfer, kurz nach der Anordnung zur Auflösung. Ich sah mir an, wie die Polizei die Demonstration „beregnete“, hörte mir ihre Aufforderungen an, die Leute mögen nach Hause gehen, ebenso die Gesänge der Beregneten: „Oh, wie ist das schön!“ und „Zugabe, Zugabe!“ Als eine kümmerliche Reihe von Polizisten die Demonstrierenden zurückzudrängen versuchte, nur selten von einem Tritt oder einer Dosis Pfefferspray begleitet, da dachte ich über die „Querdenker“: „Ach, wenn ihr die Polizei mal beim Einsatz gegen eine linke Demo erlebt hättet, würdet ihr nicht über dieses bisschen Härte heulen.“
Doch ich glaube gar nicht, dass die Polizei in Berlin so relativ zurückhaltend agierte, weil sie all die rechten Agitatoren im „Volk“ erspäht hatte und auf dem rechten Auge blind bleiben wollte. Sie konnte einfach nicht anders. Die Protestierenden waren zu viele und zu verschieden, um sie allesamt mit Gewalt von der Straße zu jagen.
Neben AfD-Politikern, Hooligans und rechtsradikalen Publizisten hatten sich da Menschen unterschiedlichsten Alters, mehrerer Geschlechter und nicht nur weißer Hautfarbe versammelt. Diese Demo war diverser als der Protest gegen die Räumung des Hausprojektes „Liebig 34“ zuletzt.
Das hatte Folgen – etwa für die Art des Wasserwerfereinsatzes: Vor allem der anwesenden Kinder wegen durften diese nur „beregnen“ und nicht mit voller Kraft von der Straße spritzen. Man mag Eltern dafür verurteilen, dass sie Kinder mit in eine derart heikle Demo nehmen, womöglich gar Schutzbefohlene instrumentalisieren. Man kann sich aber auch an Dietrich Wagner erinnern, den Erwachsenen, der im Protest gegen Stuttgart 21 wegen des Strahls eines Wasserwerfers seine Sehkraft verloren hat. Wäre die Polizei in Berlin ähnlich rabiat vorgegangen – am Brandenburger Tor wäre im Nu alles geräumt gewesen. So dauerte das quälende Stunden bis in den Spätnachmittag und lieferte Bilder, nach denen sich die „Querdenkerïnnen“ die Hände lecken.
Lasst die doch demonstrieren, selbst wenn sie keinen Abstand halten und keine Masken aufsetzen! Dass sie hernach als „Superspreader“ fungieren, ist nicht belegt, und selbst wenn: Wer derart in die Grundrechte eingreift wie die Exekutive gerade, kann sein Versprechen eines behutsamen Umgangs mit dieser Machtfülle gleich beweisen, indem er Protest dagegen erträgt.
Der Wunsch nach hartem Vorgehen der Polizei, vermute ich, soll meist nur eigene Selbstzweifel kompensieren. Selbstzweifel im Angesicht eigener Kritiklosigkeit gegenüber Grundrechtseinschränkungen, deren wissenschaftliche Basis alles andere als widerspruchsfrei ist. Oder wo waren die linken und liberalen Demos gegen die Novelle des Infektionsschutzgesetzes vergangene Woche?
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Lesen Sie hier das Gegenargument von Aida Baghernejad zu diesem Text
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