Worin unsere Stärke besteht

Corona Das Buch „Solidarität in Zeiten von Corona und darüber hinaus“ will dem altehrwürdigen Wort Solidarität wieder Gehör verschaffen

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„Ein Mädchen möchte erst Prinzessin sein, während Corona will sie lieber Krankenschwester werden“
„Ein Mädchen möchte erst Prinzessin sein, während Corona will sie lieber Krankenschwester werden“

Foto: Sascha Schuermann/Getty Images

In den USA soll jeder Bürger unterhalb einer gewissen Einkommensgrenze 1400 Dollar erhalten. Welch ein Aufschrei in Deutschland bei einer vergleichbaren Forderung! Wenn die von Hartz-IV geplagte alleinerziehende Mutter für einen Moment aufatmen könnte! Weil sie befreit wäre vom diesem ständigen Schläfenpochen um Miete und Strom. Viele Spiegel-Foristen wüssten wohl von einem persönlich bekannten „Hartzer“ zu berichten, der raucht, trinkt und Markenkleidung trägt.

Der Klassenkampf in Zeiten der Corona verlief also in Deutschland wie gewohnt und wie geschmiert: Dem Wohnungslosen wurde Flaschensammeln und Strassenverkauf von Zeitungen genommen. Dem Reichen wurde für seinen neuen Porsche die gesenkte Mehrwertsteuer in Höhe von 4.000 oder 5.000 Euro hinterher geworfen.

Zu Beginn der Pandemie waren alle überrascht, dass der LKW-Fahrer Lebensmittel transportiert. Das hatte ja keiner gewusst. Es hatte immer geheissen, der leistungsorientierte Elitebanker und sein Insolvenzberater würden den Laden am Laufen halten.

Uwe. E. Kemmesies und Gerhard Trabert haben das Buch herausgegeben. Beide konnten sich nicht vorstellen, in einem Land aufzuwachen, in dem Menschen nicht von ihrer Arbeit leben können und Millionen Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben. Kemmesies, der 1964 geboren wurde und Soziologie studiert hat, zeichnet in „Mein Corona“ eine kurze biographische Skizze. Sein Vater war Karosseriebauer und arbeitete auf Montage. Das Gehalt „erlaubte den Bau eines Bungalows“ mit einem genügend grossen Grundstück für die Kinder zum Spielen. Selbst nach dem überraschenden Tod des Vaters war die Familie materiell abgesichert. Man könnte meinen, der Waffenstillstand „Gute Arbeit – guter Lohn“ , heute wehmütige Verzweiflungsforderung der Gewerkschaften, sei da geschehen. Armut kannte Kemmesies in seiner Jugend nur von Spendenaufrufen. Er beobachtet, sozusagen live, wie der Lebensstandard der Lohnabhängigen innerhalb einer Generation sinkt.

Dies führt zu Kemmesies` Lebensthema: Dass Drogenmissbrauch und Radikalismus letztendlich Ausdruck sozialen Elends seien. In Frankfurt sah Kemmnesies, als wäre er in einem Agitpropfilm, den siechen Junkie vor den Palästen der Banken: „Kurzum: Wir können uns den Zauber mit einer Steuergelder verschwendeten Drogenverbotskontrolle schenken.“ Kemmesies schlägt vor: Der Kokaanbauer in Südamerika, der Cannabisanbauer im Maghreb und der Opiumanbauer in Afghanistan sollten den Status erhalten wie bei uns Winzer, Tabakbauer oder Brauer. Dann wären die Drogenkartelle, manche Terrorgruppen und die Beschaffungskriminalität auf kaltem Entzug. „Legalisierte Handels- und Vertriebswege“ würden Steuern bringen und die Polizei hätte mehr Zeit. So könnte man den Abhängigen helfen.

Der Neoliberalismus kennt viele Höllen. Der Arzt Georg Trabert war in einer. Im März 2020 arbeitete er im Moria Camp auf der „Insel der Gestrandeten“, dem griechischen Lesbos. Zusammen mit Corona kehrte Trabert vom Elend des Südens in die deutsche Misere zurück. Den Armen versetzte die Epidemie ein paar Nackenschläge zusätzlich: Minijob weg, Schulspeisung weg, Tafel geschlossen, Obst und Gemüse teurer. Armut ist vielleicht doch kein grosser Glanz von Innen sondern permanenter, vielschichtiger „psychosozialer Stress“. „Arm im Beutel, krank am Herzen“, wie Trabert Goethe zitiert. Anhand vieler Beispiele belegt Trabert, dass die Seuche deshalb so erfolgreich wüten konnte, weil vorher die Gesundheit der Barbarei der Ökonomie geopfert wurde. Beistand für diese These kommt von unerwarteter Seite. In der „Frankfurter Allgemeinen“ wurde ein selbständiger Metzgermeister zum Corona-Ausbruch in den grossen Fleischfabriken interviewt. Der fragte sich erst mal, wieso die städtischen Schlachthöfe, „eine seit dem Mittelalter bewährte Institution“, privatisiert wurden.

Der Satz „Wir brauchen einen schlanken und effektiven Sozialstaat, der den wirklich Bedürftigen hilft“ brachte vielen Menschen Leid. Der Gewerkschaftler Hans Sander erinnert an den Tod eines 20jährigen Hartz-IV-Gepeinigten in Speyer. „Er wurde am 15. April 2007 verhungert von seiner Mutter aufgefunden. Die Mutter gab an, sie hätten kein Geld mehr gehabt, um Lebensmittel einzukaufen.“ Das ist die finale Logik des „Förderns und Forderns“.

Der katholische Sozialwissenschaftler Friedrich Hengsbach nennt Hartz IV einen „Bürgerkrieg der politischen Klasse gegen die arm Gemachten“. 15 Jahre Hartz-IV hätten, so Sander, die Lohnabhängigen „eingeschüchtert und diszipliniert“ und „sehr junge und psychisch beeinträchtige Menschen“ in Obdachlosigkeit und Prostitution getrieben. Deutsches Lohndumping führte zu Sparorgien in den südlichen Ländern. Die Leichen stapelten sich in den Krematorien und schon forderte Friedrich Merz, „soziale Sicherungssysteme auf den Prüfstand zu stellen“. Das nennt man Wirtschaftskompetenz.

Sanders glaubt nicht, dass Corona eine Art Läuterung bewirken könne. Es werde eher ein kalter Rausch des Vergessens folgen, vergleichbar den „roaring twenties“ nach dem Ersten Weltkrieg und nach der „Spanischen Grippe“. In einem funktionierenden Sozialstaat sieht Sander den besten Schutz gegen den Faschismus. Tolerant ist nur der, der genügend zu essen hat. Hartz IV ist der Schoß, aus dem die AfD kroch.

Wenn Pigor singt, muss Benedikt Eichhorn begleiten. Der Kabarettist und Pianist Eichhorn lebt für den Augenblick im Konzert, in dem die vielen Einzelnen ein Publikum werden. Er zieht Parallelen zu einem Leistungssportler. „Die klatschende Menge“, das ist seine Goldmedaille, sein Siegertreppchen. Die Erinnerung daran treibe ihn zur Plage der täglichen Übung an. So entzieht Corona nicht nur die finanzielle Basis, sondern auch die Motivation für die Arbeit.

Die Musik in den Clubs braucht zwischen Gästen und DJs den Dialog. Pamela Schobeß, die in Berlin das „Gretchen“, man muss wohl schreiben, leitete, sieht in einem guten DJ einen Geschichtenerzähler, der mit den Tanzenden spricht. Wohin wird die Reise diese Nacht gehen? Wann wird das Publikum die „ Arme hochreißen, wann vor Freude schreien, wann vor Glückseligkeit die Augen schließen?“ Der Club braucht die Nähe, das „Liveerlebnis“. Schobeß lehnt die Unterscheidung in in „E-Musik“ und „U-Musik“, also zwischen ernster und unterhaltsamer ausdrücklich ab. Sie befürchtet eine „Masseninsolvenz“ bei der Kleinkunst.

Der Weg nach unten war kurz für den Industriekaufmann Dominik. Führerschein weg, Arbeit weg, Geldstrafe wegen Fahrens ohne Führerschein, dann Wohnung weg, dann Gefängnis. Corona entließ ihn vorzeitig ins Nichts, in die Obdachlosigkeit. Mitten im Absturz dankt er der Verwaltungsfrau vom Rathaus, die ihn kostenlos telefonieren ließ, damit er doch noch ein Nachtasyl fände. Je ärmer einer ist, desto fremder erscheint er uns. Corona verstärkte die Ablehnung gegenüber den Obdachlosen. Viele sehen berechtigterweise in ihm die eigne Zukunft, woran keiner erinnert werden möchte.

Das Verhältnis von arm zu reich ist in der Bundesrepublik schlicht obszön. Beim „Gina-Koeffizient“, der die Ungleichheit einer Gesellschaft berechnet, balgen sich Deutschland, Brasilien und die USA um die Spitzenplätze. Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, Kandidat der Linken für das Amt des Bundespräsidenten, schlägt deshalb als Gegenmaßnahme eine solidarische Bürgerversicherung vor. Sie soll alle „Versicherungszweige“ umfassen mit Ausnahme des Sonderfalls der gesetzlichen Unfallversicherung. Auf sämtliche Einkunftsarten als auch Zinsen, Dividenden oder Mieterlöse wären Beiträge zu erheben. Trotzdem würden weiterhin Arbeitgeberbeiträge entrichtet werden und es gäbe weder bei der Versicherungspflicht noch bei der Beitragsbemessung Grenzen nach oben. Eine Bürgerversicherung würde die gesamte Wohnbevölkerung umfassen und sollte durch ein Steuersystem, das sich nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Bürgers richtet, flankiert werden. Butterwegge lehnt ein bedingungsloses Grundeinkommen ab. Dies würde auch der Villa am Starnberger See mit Alpenblick zu Gute kommen.

Der Theaterkritiker Jacob Hayner macht sich lustig über die Helden des Feuilletons, die sich zu Beginn der Pandemie in ihr Landhaus einschlossen und schon nach drei Tagen feststellten, dass die Welt nach Corona eine andere werde. Hayner wendet sich von den klug Geschwätzigen ab und spricht über die, die im Kulturbereich arbeiten und die niemand erwähnt: Beispielsweise die im Theater Getränke ausschenken, die Garderobe verwahren oder Brezeln verkaufen. Corona fegte freien Gruppen und Laienspieler von der Bühne. Hayner hat eine sehr eigenständige Definition, was den Wohlstand einer Gesellschaft ausmacht: „In der Logik des Kulturellen war eine andere Vorstellung von Reichtum schon immer vorhanden, nämlich die des miteinander geteilten Überflusses. Nicht das privat Angeeignete, sondern das öffentlich Geteilte wird zum Maßstab der Fülle. [...] Nur Privateigentum schließt aus, das Geteilte ist offen für alle.“

Nicht jeder Philosoph will in einer Tonne leben, und selbst der arme Poet muss Miete zahlen. Christoph Quarch berichtet über das Verhältnis von Geld und Geist. Seine Erfahrung: Ein kostenloser Vortrag bringt keine lukrative Folgeaufträge. Ein und derselbe Auftrag zahlen Kirchen und Volkshochschulen auf der einen und Unternehmen auf der anderen Seite völlig unterschiedlich. Clicks, Emojis, Followers und dergleichen bringen keinen Cent: „Nichts, so will mir nach zwanzig Jahren digitaler Medien und digitaler Aufmerksamkeitsökonomie scheinen, hat die Erosion des Geistes so vorangebracht wie seine digitale Simulation im Internet.“

Der Grafiker Steffen Kraft zeichnet in jeweils drei Bildern lakonische Geschichten über Corona. Ein Mädchen möchte erst Prinzessin sein. Während Corona will sie Krankenschwester werden. Im letzten Bild ist sie es und kämpft um eine bessere Bezahlung. Oder: Ein Flugzeug am Himmel. Während Corona ein Vogelpaar und danach Dutzende von Flugzeugen. Die Bilder sind skeptisch. Dagegen ist Krafts Text eher optimistisch. Nach der Cholera-Epidemie von 1830 wurde mit dem Bau von Kanalisation und Wasserleitungen begonnen.

Häufig taucht das Bild vom „Brennglas“ auf. Unter Corona würden die Probleme der Gesellschaft noch sichtbarer als sonst. Viele Verfasser sehen Corona nicht als Zäsur. Der Zwang zur Kapitalverwertung dürfte noch drückender werden. Wer glaubt, das Buch übertreibe mit den Berichten über die Armut in Deutschland, der schaue sich bei Spiegel-Online um: Corona schenkte dem Magazin – sonst immer für ein Märchen über den Start-up-Millionär gut – Größe und Realismus. Die Serie „Kochen ohne Kohle“ wurde gestartet.

Warm empfohlen wird ein Nudelgericht für 86 Cent.

Solidarität in Zeiten von Corona und darüber hinaus

Ein Plädoyer für nachhaltige Armutsbekämpfung Oekom Verlag, München 2020

ISBN: 978-3-96238-264-3
Softcover, 320 Seiten, 24 Euro

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