Slavoj Žižek: Deutschlands bürokratisierte Trauer führt zu Zensur über Palästina
Debatte Nimmt Slavoj Žižek Antisemitismus zu leicht, wie Eva Illouz ihm vorwirft? Hier verteidigt der slowenische Philosoph seine Haltung: Wer Solidarität mit Israel üben will, muss den Gaza-Krieg ablehnen und die israelische Regierung kritisieren
Slavoj Žižek: „Angesichts des anhaltenden Grauens auf beiden Seiten ist es obszön, sich für eine Seite zu entscheiden.“
Foto: Leonhard Simon/picture alliance/SZ Photo
Wenn die deutsche Regierung feierlich erklärt, dass die Existenz und Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei, ist mehr gemeint als raison d’etat im klassischen Sinn. Es ist gemeint, dass dies der Grund für den deutschen Staat sei, zu existieren. Wie es FDP-Fraktionschef Christian Dürr formuliert, soll das bedeuten „dass wir geopolitisch alles dafür tun, dass Israel als einzige Demokratie im Nahen Osten in Zukunft politisch erfolgreich ist“.
Diese Festlegung sei „zwar nicht gesetzlich festgehalten, aber ein Quasi-Gesetz in dem Sinn, dass das unser nationales Selbstverständnis ausmacht“, erklärte die Berliner Antisemitismusforscherin Sina Arnold jüngst gegenüber Courtroom News Service. An gleicher Stelle sagt der britische Antisemitismusforscher Ben Gidley: Es handle sich um einen Weg, „auf dem Deutschland als Nationalkultur mit seiner Holocaust-Schuld fertiggeworden ist“, nämlich nach dem Motto: „Um für den Holocaust zu sühnen, müssen wir immer unter allen Umständen zu Israel halten.“ Aber wo führt das hin? Drei jüdische Autoren – George Prochnik, Eyal Weizman und Emily Dische-Becker – fassen die Situation kritisch zusammen: „Deutschlands Auseinandersetzung mit der Geschichte seiner Grausamkeiten begann als Unterfangen seiner linken Zivilgesellschaft. Heute ist sie ein hochgradig bürokratisiertes Werkzeug des Staates, das zunehmend einer reaktionären Agenda dient“.
Letzteres kann ich bezeugen, denn zunehmend werde ich in Deutschland zensiert. Als ich kürzlich zu einem Vortrag in Deutschland eingeladen wurde, verbot man mir ausdrücklich, den laufenden Krieg im Nahen Osten zu erwähnen. Zugleich werde ich brutal angegriffen. Claudius Seidl veröffentlichte kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel „Ist das Žižeks Ernst?“ einen Artikel: „Wie sich ein Denker disqualifiziert: Slavoj Žižek scheitert am Ernst der Lage in Israel, verhöhnt den Zionismus und suggeriert, die Hamas und Israel wären quitt.“ Der erste Satz des Artikels sagt alles: „Slavoj Žižek ist nicht verrückt geworden, im Gegenteil: Das ist ja das Entsetzliche. Slavoj Žižek war jahrzehntelang verrückt.“
Wie Eva Illouz mich falsch versteht
Obwohl Eva Illouz einen viel zivilisierteren Ton anschlägt, sagt sie in ihrem Text im Freitag letztlich das Gleiche: Ich spreche aus einer kalten, zynischen Distanz, meint sie, ich sei unfähig, emotional zu erfassen, was geschehen ist. Ihr zufolge sehe ich Israel und die Hamas als zwei Partner in einem selbstzerstörerischen Tanz, an dem beide gleichermaßen schuldig sind. Ist das so? Illouz behauptet, dass meine Argumentation um zwei Kernaussagen kreist. Als erste Kernaussage legt sie mir das Folgende in den Mund:
„Von mir, Žižek, wurde erwartet, dass ich Israel bedingungslos unterstütze, aber ich habe es nicht getan, weil ich eine gemäßigte Position der Mitte vertrete. Ich erkenne den bösen Charakter der Taten der Hamas an, aber als Intellektueller plädiere ich dafür, die Ursachen zu untersuchen, die in der Besatzung zu finden sind.“
Nein, eigentlich wurde von mir nicht erwartet, dass ich Israel bedingungslos unterstütze – tatsächlich erwarteten „Linke“ von mir ein „Verständnis“ für die Hamas und waren entsetzt, als ich zustimmte, dass die Hamas zerstört werden muss. Außerdem vertrete ich definitiv keine Position der gemäßigten Mitte – oder, um zu zitieren, was Illouz als meine zweite Kernaussage beschreibt:
„Was auch immer die Hamas an Grausamkeiten deklariert oder begangen hat, die Israelis haben etwas ganz Ähnliches deklariert und getan. Der Staat Israel kann nicht länger vorgeben, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein und hat sich nun de facto in einen theokratischen Staat verwandelt, der der Scharia entspricht. Es ist daher sinnlos, nach Recht und Unrecht, Helden und Schurken zu suchen. Das Einzige, was bleibt, ist, den beiden Gruppen einen Spiegel vorzuhalten und ihnen zu zeigen, dass sie sich in Wirklichkeit ziemlich ähnlich sind, was ich, Žižek, zu sagen wage.“Schlicht falsch, auch hier. Ich stimme Eva Illouz zwar vollkommen zu, wenn sie schreibt: „Wie der Soziologe Max Weber sagte, ist es keine bessere Garantie für die Wahrheit, in der Mitte zu stehen, als sich klar auf eine Seite zu stellen.“ Ich stehe aber auch nicht in der Mitte im Sinne einer bequemen Neutralität, ich bestehe nur darauf, dass die Situation von Grund auf tragisch ist, weshalb man sich nicht auf eine Seite schlagen und gegen die andere stellen kann. Die Hamas ist fürchterlich, und Israel ist nicht unschuldig – um Illouz selbst zu zitieren: „Israel trägt eine moralische und politische Verantwortung dafür, die Staatenlosigkeit der Palästinenser zu beenden. Diese Verantwortung ist umso dringlicher, als Israel die 1967 eroberten Gebiete auf unrechtmäßige und sogar kriminelle Weise besetzt hält.“Gemeinsam trauern, ja: Auch um Palästinenser im WestjordanlandDas ist übrigens auch der Grund, warum ich den 7. Oktober nicht „als eine Variante der Besatzung“ betrachte. Ich verwende den Begriff „Besatzung“ nur, wenn er sich auf die Expansion Israels nach 1967 bezieht, also in dem Sinne, in dem Illouz selbst sagt, dass Israel die 1967 eroberten Gebiete „kriminell besetzt“ hält. Folglich verfehlt Illouz völlig meinen Standpunkt, wenn sie schreibt:„Ich möchte Sie, Slavoj Žižek, Sie und Ihre salonlinken Genossen fragen: Warum gab es keinen Platz für solchen Herzenstakt? Konnten Sie kein Mitgefühl für den unfassbaren Schock und Schmerz zeigen, die Juden erfahren haben? Warum konnte die Linke nicht eine kurze Woche lang in Stille mit uns trauern, bevor sie sich in ihre dozierenden Analysen stürzt? Warum scheinen Sie und so viele andere den Antisemitismus dermaßen auf die leichte Schulter zu nehmen, als sei der Hass auf Juden die natürliche Grundhaltung der Welt? Wir hätten um alle drei zusammen trauern können: um die ermordeten Israelis, um die von Antisemitismus bedrohten Juden in der ganzen Welt und um die unschuldigen Palästinenser, die von israelischen Bomben zerfetzt werden.“Den letzten Satz teile ich vollkommen – mit einer Ergänzung: Die Palästinenser leiden nicht nur unter den Bombenangriffen im Gazastreifen. Auch im Westjordanland explodiert die Gewalt, und es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass Israel eine vollständige Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen anstrebt. Aber die Behauptung, ich würde den Antisemitismus auf die leichte Schulter nehmen, geht zu weit: Ich habe jahrzehntelang Seiten über Seiten darüber geschrieben und den Antisemitismus schon vor mehr als 30 Jahren in meinem Buch Das erhabene Objekt der Ideologie als Grundform von Ideologie analysiert. Was die Trauer angeht, muss ich allerdings zugeben, dass ich ein Problem mit öffentlichen Trauerbekundungen habe. Sie geraten allzu oft zu einem Spektakel, besonders jetzt in Deutschland, wo die Trauer bürokratisiert wird.Zwei Schmerzen gleichzeitig ertragenWarum also „konnte die Linke nicht eine kurze Woche lang in Stille mit uns trauern, bevor sie sich auf ihre dozierenden Analysen stürzte?“ Weil in dieser „kurzen Woche“ bereits gewaltige Dinge geschahen, die Bombardierung des Gazastreifens wurde vorbereitet. Gerade in diesen Tagen war die Analyse so entscheidend, um die Aufmerksamkeit auf die Katastrophe zu lenken, die sowohl für die Palästinenser als auch für die Juden bevorstand.Ich bin aus einem einfachen Grund denkbar weit davon entfernt, „herumzudozieren“, wie Eva Illouz mir vorwirft: Es gibt keinen sicheren Ort, von dem aus ich das tun könnte. Mein Schmerz ist viel schlimmer und tiefer: Angesichts des anhaltenden Grauens auf beiden Seiten ist es obszön, sich für eine Seite zu entscheiden. Ich bin angewidert, wenn der Angriff der Hamas als einzigartiges „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ herausgestellt wird, während die Verwüstung des Gazastreifens und die Gewalt im Westjordanland als sekundäre Exzesse abgetan werden, für die letztlich die Palästinenser selbst verantwortlich seien. Man sollte solche einfachen Erklärungen ablehnen und sich der tragischen Ausweglosigkeit der Situation aussetzen.Tamer Nafar, ein palästinensischer Rapper und israelischer Staatsbürger, schrieb in einem in der israelischen Zeitung Haaretz veröffentlichten Brief: „Wenn unsere kleinen Augen das riesige Ausmaß der Gräueltaten sehen können, können unsere großen Herzen dann zwei Schmerzen auf einmal ertragen?“ Zwei Schmerzen gleichzeitig zu ertragen, DAS ist meine Haltung, und deshalb verstehe ich Tamer vollkommen, wenn er fortfährt:„Wenn ich israelischen oder westlichen Medien begegne, fühlt es sich immer eher wie ein Verhör als ein Interview an. ‚Verurteilen Sie die Hamas?‘ werde ich gefragt. Vor Ihnen steht eine ganze Generation blutender Kinder im Gazastreifen; was ist Ihre Botschaft an sie, abgesehen davon, dass Sie ihnen sagen: ‚Verurteilen Sie die Hamas?‘ oder fragen: ‚Warum hat die vorangegangene Generation für die Hamas gestimmt?‘ oder ‚Ihr werdet als menschliche Schutzschilde benutzt.‘“Der 7. Oktober war kein Terror, sondern abartigDie jüngsten Enthüllungen über das, was die Hamas am 7. Oktober besonders israelischen und jüdischen Frauen angetan hat, die Brutalität dieser Vergewaltigungen: All das zeugt von etwas Schlimmerem als Terror. Denn Terror, das war 9/11: Eine Bombe oder ein Flugzeug explodiert und tötet viele. Was hingegen die Hamas am 7. Oktober getan hat, war eine Form perverser Abartigkeit, die obendrein noch befohlen wurde und nicht etwa einen Ausbruch spontaner Verderbtheit darstellte. Keine Gnade für die Hamas. Sie muss vernichtet werden.Überschattet wird unser Schock über die Gräueltaten der Hamas einzig von einem leichten Schatten des Zweifels, wenn wir sehen, wie Israel Anschuldigungen erhebt, die es dann zurücknehmen musste: Es gibt keine Fotos von enthaupteten Kindern (wohl aber wurden erwachsene Menschen enthauptet). Und die gefundenen verbrannten Leichen waren keine Leichen von Israelis, sondern die Leichen von Hamas-Kämpfern, die von den IDF bei ihrem Gegenangriff verbrannt wurden. Um die Gräueltaten zu verarbeiten, müssen sie ordentlich aufgearbeitet werden.Die Gefahr eines fundamentalistischen GroßisraelLeider wird das Trauern und Entsetzen weiterhin von der Frage überschattet: Was will Israel jetzt tun? Der Historiker Niall Ferguson behauptet, die Hamas beabsichtige „nichts Geringeres als einen zweiten Holocaust“; und auch im umgedrehten Falle haben wir es nicht mit bloßen Absichten zu tun. Was tatsächlich geschieht, ist die immer unverhohlenere Schaffung eines Großisrael „from the river to the sea“, vom Jordan bis ans Mittelmeer. Eine wahre „Wüste des Realen“, die wir auf den Drohnenaufnahmen der zerstörten Städte des Gazastreifens sehen, macht jede Wahl zwischen den beiden Schrecken (welcher ist „weniger schrecklich“?) unmöglich. Nach sieben Tagen Waffenstillstand nahm Israel die Bombardierung des Gazastreifens wieder auf und fügte eine „humanitäre“ Note hinzu, die alles nur noch schlimmer macht: Die israelische Armee warf Flugblätter auf den Gazastreifen ab, die einen QR-Code enthielten, einen Link also, der zu einer Website mit einer Karte führte, die Orte aufzeigte, an denen man angeblich den Bomben ausweichen kann. Ein grausamer Scherz.Es gibt keine Mitte zwischen der Hamas und den messianischen israelischen Hardlinern – wohl aber sind sie, ich bestehe darauf, zwei Seiten derselben Medaille. Die eigentliche Wahl besteht nicht zwischen ihnen, sondern zwischen den Hardliner-Fundamentalisten, die nicht an ernsthaften Friedensverhandlungen interessiert sind, und denen, die für eine Koexistenz offen sind. Ich setze sie nicht gleich, aber die israelischen Hardliner stehen für die Gefahr, dass Israel zu einem fundamentalistischen Staat wird – eine Gefahr, die auch von vielen Juden erkannt wird, von dem israelischen Historiker Yuval Harari bis zu Efraim Halevy, einem ehemaligen Direktor des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad.Ein Satz, auf den man schwören könnteDie bedingungslose Unterstützung Israels vonseiten Deutschlands läuft in dieser Lage nur auf die Unterstützung der gegenwärtigen Regierung gegen die liberale Opposition hinaus, die sich dafür einsetzt, die Belange der Palästinenser ernst zu nehmen. Eine echte Freundschaft mit Israel hingegen muss heute auch eine scharfe Kritik an dieser gefährlichen Regierung beinhalten. Dazu ist Deutschland aufgrund des bürokratisierten Charakters seiner Trauer offensichtlich nicht in der Lage. Das zeigt auch deren jüngster Höhepunkt: Das Bundesland Sachsen-Anhalt knüpft die Einbürgerung an ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels und überprüft Einbürgerungswillige auf „antisemitische Einstellungen“ – während der Bundestag über einen ähnlichen Antrag der oppositionellen CDU/CSU-Fraktion zu beraten hat.In einer idealen Welt wäre eher auf einen denkwürdigen Satz des erwähnten Ex-Geheimdienstchefs Efraim Halevy zu schwören: „Wir können uns nicht den Luxus leisten, zu warten. Wir brauchen eine tragfähige Politik, die mit der Anwesenheit von Juden und Palästinensern in diesem Gebiet umgeht. Und wir sind dazu verdammt, zusammen zu leben. Ich möchte nicht sagen, dass wir dazu verdammt sind, zusammen zu sterben. Und wenn unser Ansatz der ist, dass wir dazu verdammt sind, zusammen zu leben, dann können wir nicht einfach zusammenleben, indem ein Teil der Beziehung die Oberhand behält und die Bedürfnisse der anderen Seite ignoriert. Es muss der Beginn einer Begegnung der Geister sein.“
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