Bilder deiner großen Liebe

Premierenkritik Tobias Wellemeyer belässt in der Potsdamer Inszenierung einer Bühnenfassung des Romanfragments von Wolfgang Herrndorf die lebenshungrige Isa in der Psychiatrie

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Nina Gummich (als Isa) und René Schwittay (als Mann) in Wolfgang Herrndorfs Bilder deiner großen Liebe am Hans-Otto-Theater Potsdam
Nina Gummich (als Isa) und René Schwittay (als Mann) in Wolfgang Herrndorfs Bilder deiner großen Liebe am Hans-Otto-Theater Potsdam

Foto: HL Böhme

Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf hat sich 2013, nachdem es keine Hoffnung mehr auf Heilung seines Hirntumors gab, das Leben genommen. Er wollte das Ende selbst in der Hand haben. Nicht mehr in der Hand hatte Herrndorf die Vollendung seines letzten Romans Bilder deiner großen Liebe. Der posthumen Veröffentlichung des Fragments liegen ein Manuskript von 95 Seiten und ein Textkonvolut Verstreutes zugrunde, das die befreundete Autorin Kathrin Passig und der Rowohlt-Lektor Marcus Gärtner geordnet und zu einer halbwegs linearen Erzählung gebündelt haben. Es geht darin um den Ausbruch der 14jährigen Isa aus einer geschlossenen Psychiatrie. Auf ihrem Weg über Felder, durch Wälder und auf Berge begegnet dieses Mädchen mit wilder Fantasie den unterschiedlichsten Menschen, wie etwa einem philosophierenden Kanalschiffer, einem väterlichen Schriftsteller und auf einer Müllhalde auch zwei gleichaltrigen Jungs in einem alten Lada, die die Herrndorf-Leser schon aus dem Buch Tschick kennen.

Der Roman ist in der Bühnenfassung des Dresdner Chef-Dramaturgen Robert Koall zu einem regelrechten Theater-Renner geworden. Tschick ist neben Dresden und Berlin auch am Hans Otto Theater Potsdam zu sehen. Nachdem Robert Koall im letzten Jahr auch das Romanfragment Bilder deiner großen Liebe für die Dresdner Bühne adaptierte, hat es nun der Potsdamer Intendant Tobias Wellemeyer in der Reithalle neu inszeniert.

„Eine weniger verlässliche Erzählerin als Isa, die mit einem taubstummen Jungen plaudert und sich an Dinge erinnert, die nicht stattgefunden haben können, ist kaum vorstellbar.“ heißt es im Nachwort zum Buch von Kathrin Passig und Marcus Gärtner. Tobias Wellemeyer hat das anscheinend etwas zu wörtlich genommen. Seine Inszenierung spielt in einem Bühnenbild (von Matthias Müller), das etwas von der Sterilität eines Krankenhausflurs mit Medikamentenschrank rechts und gefliester Waschnische links hat. Eine große Glaswand mit Doppeltür bildet die Grenze zwischen Drinnen und Draußen. Das lässt fast unweigerlich nur die eine Assoziation zu: Alle Berichte über ihre Erlebnisse können nur Isas Kopf entsprungen sein. Dagegen spräche eigentlich der konsequent im Präsens gehaltene Erzählstil des Romans. Man kann das natürlich auch anders deuten.

So wäscht sich die fabelhaft wild fabulierende Nina Gummich als Isa nicht mit Fanta die durch einen Einbruch in ein Lebensmittelgeschäft blutig geschnittenen Füße, sondern im Waschbecken und steigt nicht etwa auf den „goldenen Berg“, sondern nur auf den Medikamentenschrank. Dafür schmatzt sie umso genüsslicher echten Lachgummi, dass man ihn bis in die vorderen Sitzreihen riechen kann. Ansonsten hat Nina Gummich wie in der Bühnenfassung vorgesehen einen nur Mann genannten Partner für die Begegnungen auf Isas Weg, dessen Ziel lediglich vage angedeutet ist. Diesen Mann spielt René Schwittay, erkennbar als Mitpatient im Bademantel. Und nicht nur die merkwürdige Klammer an seinem kahlen Kopf lässt erahnen, dass Wellemeyer hier den an Krebs erkrankten Autor persönlich meint, der sich im Mann auf dem Friedhof auch selbst in die Geschichte geschrieben hatte. Am Ende wird sich die Setzung des Regisseurs dann umso deutlicher offenbaren.


Bis auf zwei, drei Szenen durchläuft die Inszenierung die einzelnen Etappen des Romans, mal nur von Nina Gummich erzählt, mal im Dialog mit René Schwittay, der auch kleine Passagen aus dem von Isa mitgeführten Tagebuch vorliest, das hier fast als einziges Requisit ständig präsent ist und auch immer wieder wie zur Bestätigung von der jungen Ausreißerin vorgezeigt wird. Hier hat sie die Erinnerungen an ihre Kindheit oder das, was sie dafür hält, aufgeschrieben. Die enge Vater-Tochter-Beziehung etwa oder einen Traum über ein normales Familienleben wie in einem Heimkehrer-Film aus dem Krieg ins ländliche Idyll. Wirklich ausgespielt wird nur die auch im Roman recht lang beschriebene Kanalfahrt mit einem weisen Schiffer, der dem hibbeligen Mädchen eine merkwürdige Geschichte über einen Bankraub und das Wartenkönnen im Leben erzählt.

Sehr witzig auch die Szenen, in der Isa mit dem taubstummen Jungen Olaf spricht und dazu die Klappe eines Mülleimers bewegt, oder beim Schriftsteller mit einem imaginierten Rasenmäher zwischen den Baumstämmen draußen vor der Glaswand kurvt. Hier verlässt das Mädchen auch erstmals das hermetische Drinnen. Hall, Videoeinsatz und unbändiges Tanzen im Stroboskoplicht unterstreichen die Vitalität Isas gegenüber einem sonoren elektronischen Pling-Pling in den nachdenklich stimmenden Momenten, in denen das Mädchen auch mal vor ihrem Video-Spiegelbild erschrickt.

In ihren Selbstreflexionen sagt Isa einmal, dass sie lieber ein Junge wäre, da man als Mädchen plötzlich einen Körper hat, auf den man ständig reduziert wird. Das ist im Buch an einigen Stellen noch deutlicher ausformuliert, etwa wenn Isa sich unter einem Rasensprenger auf einem abendlichen Fußballplatz wäscht und dabei von einer Gruppe trainierender Jungen beobachtet wird, oder in der Beschreibung des wegen ihr onanierenden Fahrers eines Schweinetransporters. Diese Szenen sind wohl der eher kammerspielartigen Bühnenbearbeitung zum Opfer gefallen.

Das Mädchen Isa ist mitnichten bescheuert oder gar geisteskrank. Sie ist, wie sie selbst betont, nur etwas ver-rückt - neben der ärztlichen Norm. Eine Herrscherin über das Universum, die mit den Fingern die Sonne aufhalten und sich selbst vor dem drohenden Sturz in den Abgrund retten kann. Ganz abzuheben vermag sie in Tobias Wellemeyers Inszenierung, in der der Regisseur viel auf die Vorstellungskraft des Publikums setzt und auf eine großartige Schauspielerin, die in ihrer Darstellung ungezügelter Wildheit und Lebenssucht fast schon etwas zu expressiv agiert. Trotzdem, oder gerade wegen Nina Gummich, ist dieser durchaus bewegende Abend dennoch sehenswert.

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Zuerst erschienen am 24.01. 2016 auf Kultura-Extra.

BILDER DEINER GROSSEN LIEBE (Reithalle, 22.01.2016)
Regie: Tobias Wellemeyer
Bühne / Kostüme: Matthias Müller
Musik / Video: Marc Eisenschink
Dramaturgie: Helge Hübner
Besetzung:
Isa ... Nina Gummich
Ein Mann ... René Schwittay
Premiere am Hans-Otto-Theater Potsdam war am 22. Januar 2016
Weitere Termine. 30. 1. / 20., 21. 2. / 13., 28. 3. 2016

Infos: http://www.hansottotheater.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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