Carsten Linnemann ist neuer Generalsekretär: Die CDU hat wieder einen General
Populismus Rechte Christdemokraten gewinnen an Terrain durch die Ernennung Carsten Linnemanns zum Generalsekretär der Partei. Der will niedrigere Steuern für Unternehmen – finanziert durch Sozialstaatsabbau. Den Auftrieb der AfD wird das nicht stoppen
Ist Carsten Linnemann hier auf dem Weg in eine linke Mainstream-Talkshow?
Foto: Chris Emil Janflen/Imago Images
Anfang Juli hat Carsten Linnemann einen Gastbeitrag für die Welt geschrieben. Zum Einstieg bemühte er die Legende vom linken Mainstream, der mit Wokeness, Gendersternchen und politischer Korrektheit sein furchtbares Regiment über die öffentliche Meinung führt: „Deutschland im Sommer 2023. Das Gesellschaftsklima droht zu vergiften. In den abendlichen Talkshows werden mittlerweile Wörter wie ,Heizungshammer‘ unter die linke Lupe genommen und alles, was nicht dem Mainstream entspricht, wird als rechts und böse abgestempelt.“
Zu diesem Zeitpunkt war Carsten Linnemann noch nicht Generalsekretär der CDU – das ist er erst seit der vergangenen Woche. Aber als stellvertretender Parteivorsitzender und Chef der Programmkommission amtierte
kommission amtierte er schon seit Anfang 2022. Lange genug, um der rechten Klientel den Eindruck zu vermitteln, er habe die Unterdrückung durch den linken Mainstream am eigenen Leib erfahren.Das ist genau die Erzählung, die inzwischen den Diskurs der politischen Rechten bestimmt, und zwar in erstaunlicher Übereinstimmung zwischen den C-Parteien und der AfD: Von „linksgrüner Identitätspolitik“ in die Ecke gedrängt und mit dem „Heizungshammer“ bedroht, habe der normale Bürger (gelegentlich kommt auch die Bürgerin vor) kaum noch die Möglichkeit, zu leben, wie er (oder sie) es will.Zwischenbemerkung: Es geht hier nicht darum, linke Identitätspolitik mit den Blüten, die sie manchmal treibt, pauschal zu verteidigen. Die Frage, wo der notwendige Kampf gegen Diskriminierungen aller Art auf dem Feld der Sprache, der Kunst und Literatur, der Geschichtswissenschaft und der Philosophie seinerseits in gesellschaftliche Spaltung umzuschlagen droht, ist eine eigene Debatte wert. Hier aber geht es darum, wie diese Kämpfe von rechts ausgenutzt werden, um eine eigene, identitäre Erzählung zu konstruieren. Die Rede ist von einer konservativen bis reaktionären Identitätspolitik, wie sie Friedrich Merz offensichtlich zum Markenzeichen seiner CDU zu machen gedenkt – mit Carsten Linnemann, seinem neuen Generalsekretär, als Chefideologen.Natürlich stellt die Geschichte vom bösen linken Mainstream der Talkshows nicht den Kern der Merz-Linnemann-Strategie dar. Die Behauptung rechter Identitätspolitiker, Anwälte der „normalen“ Leute und zugleich deren Leidensgenossen als Opfer der Unterdrückung durch den linken Mainstream zu sein, dient nur als Vehikel. Als rhetorisches Transportmittel, mit dem die neoliberalen Kernelemente der realen CDU-Politik zugleich verbreitet und verschleiert werden.„Schaffende Kräfte des Volkes“Das eigentlich Beängstigende dieser Rhetorik liegt also in dem Zweck, dem sie dient: die Unzufriedenheit vieler Menschen mit den Brüchen und Ungerechtigkeiten einer krisenhaften Gegenwart von ihren realen Ursachen weg- und auf identitätspolitische Schauplätze hinzulenken. Es ist nur folgerichtig, dass sich dieses Ablenkungsmanövers ausgerechnet diejenigen bedienen, die mit neoliberaler Politik diese Brüche und Ungerechtigkeiten noch zu verschärfen drohen: Der Neoliberalismus aktueller Prägung ist offenbar dabei, sein populistisches Leitmotiv für die kommenden Jahre zu finden. Kaum jemand wäre besser geeignet, dieser Entwicklung in der CDU ein Gesicht zu geben, als Carsten Linnemann – an der Seite seines Vorsitzenden Friedrich Merz.Für radikalen Marktliberalismus ist der neue Generalsekretär schon länger bekannt: Von niedrigeren Steuern für Unternehmen, finanziert durch den Abbau von Sozialleistungen, über einen späteren Renteneintritt für Beschäftigte bis hin zum Arbeitszwang für Leute ohne Job reichen die Forderungen, die Linnemann unter die Leute gebracht hat – häufig in ebenjenen Talkshows, denen er im fast gleichen Atemzug die Beeinflussung durch einen „linken Mainstream“ unterstellt. Aber vollends verständlich wird die Merz-Linnemann-Strategie eben erst in der Kombination mit zentralen Versatzstücken rechter Identitätspolitik.Auch hier hat sich der neue CDU-„General“ inzwischen für Führungsaufgaben qualifiziert. „Die schaffenden Kräfte des Volkes“, wie er seine Mittelschicht-Klientel mit einem Zitat von Konrad Adenauer beschreibt, sollen für ihn vor allem eines haben: ihre Ruhe. Und zwar nicht nur vor dem Sozialstaat, dessen Kosten sie bisher mitzutragen haben (und von dem sie glauben sollen, sie würden ihn nie brauchen); nicht nur vor Regeln und Verboten, auch wenn sie noch so sehr dem Klimaschutz dienen. Nein, das ist nur der neoliberale Teil. Ihre Ruhe haben sollen die „schaffenden Kräfte“ auch vor dem „Zeitgeist“, der „oft von lauten Minderheiten geprägt wird“ und „eine schweigende Mehrheit … nicht repräsentiert“; vor Flüchtenden („Zäune müssen möglich sein“) und vor Konflikten, die sich in den Brennpunkten jenseits gentrifizierter Stadtzentren entladen. Zum Beispiel in Freibädern, wo aggressive junge Männer ihre Identitätsprobleme auf in der Tat sehr abstoßende Weise ausleben. Da greift der „moderne Konservative“ (Linnemann über Linnemann) ganz schnell in die Werkzeugkiste einer Politik, die den strafenden Staat als einziges Mittel zur Lösung gesellschaftlicher Probleme ansieht: „Wer mittags im Freibad Menschen angreift, muss abends vor dem Richter sitzen und abgeurteilt werden. Auch am Wochenende.“Was die liberalere CDU fordertDas ist der Sound, der Carsten Linnemann und Friedrich Merz („kleine Paschas“) von ihren prominenten Gegenspielern in der CDU unterscheidet. Politiker wie die Ministerpräsidenten Daniel Günther und Hendrik Wüst pauschal als liberal zu bezeichnen, wie das oft geschieht, geht zwar etwas zu weit: Der Nordrhein-Westfale Wüst zum Beispiel versieht zwar den Ruf nach mehr Abschiebungen aus praktischen Gründen mit einem Fragezeichen, würde aber der weiteren Aushöhlung des Asylrechts, wie sie gerade in der EU betrieben wird, nicht widersprechen. Dennoch folgen die CDU-„Liberalen“ gesellschaftspolitisch einem Kurs, der vielfältige Lebensformen eher akzeptiert, als sie mit identitätspolitischen Parolen zu diskreditieren. Diese weltoffenere und freiheitlichere Variante neoliberalen Denkens dürfte mit Linnemanns Ernennung vorerst eine deutliche Niederlage erlitten haben.Ob diese Ausrichtung Erfolg verspricht, ist allerdings noch nicht ausgemacht. Dass die AfD durch eine leicht abgemilderte Version ihrer eigenen Strategie bekämpft werden kann, darf nach bisherigen Erfahrungen bezweifelt werden. Wahrscheinlicher ist, dass es Merz und Co. auf dem jetzt eingeschlagenen Weg gelingt, das politische Koordinatensystem auch in Deutschland weiter nach rechts zu verschieben. Dass sich eine nennenswerte Zahl von Menschen mit den Krisen und Zumutungen des neoliberalen Kapitalismus abfindet, wenn Politik ihnen zwar keine Lösungen, aber eine identitätspolitische Interpretation ihrer Probleme anbietet, haben wir inzwischen nicht nur bei Donald Trump erlebt. Diese Klientel scheint nicht einmal zu merken, dass ein Carsten Linnemann seine Forderungen nach Sozialabbau in ebenjenen Talkshows verkündet, die doch angeblich – auch wenn er es so nicht ausdrücken würde – „linksgrün versifft“ sind.