Konservativ zu sein, war auch schon mal leichter. „Der Konservative verteidigt heute, was er gestern noch bekämpft hat“, so hat vor einigen Jahren Andreas Rödder, Historiker und CDU-Aktivist, das Dilemma zusammengefasst. Weibliche Konservative waren sicher mitgemeint, aber das Gendern kann man nun wirklich nicht verlangen von einem Mann, der alles, was heute mit dem Kampfbegriff „woke“ verdammt wird, für die eigentliche Ursache der meisten Übel hält: „Der umstürzlerische Rechtspopulismus ist eben die Antwort auf Wokeness“, hat er im Oktober der Zeit erzählt.
Die rechts-autoritären Umtriebe und Umsturzfantasien als Folge antirassistischer, anti-sexistischer, ökologischer, anti-ausbeuterischer, also „woker&
also „woker“ Bewegungen zu bezeichnen, so angreifbar deren Ausdrucksformen gelegentlich sein mögen – das ist in der Tat ein starkes Stück. Zumal wenn es derjenige tut, der vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz mit dem Entwerfen einer Grundsatzcharta beauftragt worden ist. Widerspruch gegen Rödder und ähnlich Denkende ist also angebracht. Vor allem aber verdienen sie Aufmerksamkeit, weil sich in solchen Äußerungen die Konturen eines Konservatismus abzeichnen, der auf den überstandenen Merkelismus folgt.Wie dieser Konservatismus aussehen könnte, darüber ist seit dem Abgang der ewigen Kanzlerin viel spekuliert worden. Fast immer ging es um die Frage, ob Friedrich Merz und Markus Söder die Unionsparteien „nach rechts“ führen, und wenn ja, wie weit; oder ob sich die „Liberalen“ aus dem Merkel-Lager durchsetzen werden, womöglich sogar mit Unterstützung eines gewandelten CDU-Vorsitzenden Merz.Anlässe für derartige Spekulationen über einen Richtungsstreit gibt es genug: Die Idee von CSU-Mann Alexander Dobrindt, Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ zur „Klima-RAF“ zu erklären (inzwischen steigt er auf „Klima-Chaoten“ um), stieß auch im eigenen Lager nur auf begrenzte Gegenliebe. CDU-Altstar Wolfgang Schäuble zum Beispiel raunzte ihm entgegen: „Von solchen Begriffen halte ich überhaupt nichts.“Allerdings ist dieser Streit eher ein Beispiel dafür, dass manche Differenzen im Unionslager sich mehr auf die Tonalität beziehen als auf Inhalte: Der Schaufenster-Antrag der Unionsfraktion zum Thema – Titel: „Straßenblockierer und Museumsrandalierer härter bestrafen“ – rief intern keinen hörbaren Widerspruch hervor. Die etwas milderen Interview-Töne von Schäuble und anderen waren also eher taktischer Natur: Auch die „Woken“ dürfen wählen, da muss man sie nicht allzu grob vergraulen.Abwehrreflexe ade?Zum offenen Streit kam es dagegen beim Thema Migration: Das Gesetz der Ampel-Koalition mit dem PR-gesättigten Titel „Chancen-Aufenthaltsrecht“, das die Aussicht auf einen sicheren Status immerhin erhöht, lehnte eine etwa 20-köpfige Minderheit in der Unionsfraktion nicht ab, sondern enthielt sich der Stimme. Hier zeigt sich tatsächlich ein (wenn auch begrenzter) strategischer Konflikt: Soll sich die Union als Bollwerk gegen jede Liberalisierung ins Schaufenster stellen, oder wäre es nicht besser, alte Abwehrreflexe dort zu überwinden, wo sie ohnehin chancenlos geworden sind – also im Einzelfall nach Andreas Rödder mal zu verteidigen, was man gestern noch abgelehnt hat?Auch hier allerdings geht es keineswegs um eine umfassende politische Wende. Dass Deutschland sich der Fluchtmigration auch in Zukunft nicht stellen, sondern sich und Europa so weit es nur geht dagegen abschotten soll, unter Inkaufnahme oft tödlicher Zustände an den Außengrenzen – darüber herrscht bekanntlich Konsens. Und das nicht nur in den Unionsparteien, sondern gemessen am praktischen politischen Handeln auch in der Ampel. Auch von dem Mantra, es dürfe „keine Einwanderung in die Sozialsysteme geben“, wird die Union nicht lassen, wenn sie nicht von Leuten wie Justizminister Marco Buschmann (FDP) rechts überholt werden will. Bei Einwanderung gelte, twitterte er, „dass alle helfenden Hände im Arbeitsmarkt willkommen sind, aber niemand, der nur die Hand im Sozialsystem aufhalten möchte“. Der deutsche Arbeitsmarkt mag der Welt offenstehen, der deutsche Sozialstaat bleibt möglichst exklusiv.Was bedeutet all das für den Konservatismus der Union? Ist Andreas Rödders Satz „Der Konservative verteidigt heute, was er gestern noch bekämpft hat“ die neue Richtschnur? Nun ja, dieses Bonmot hätte auch von der ewigen Bundeskanzlerin stammen können. Aber auch bei ihr hat er mit realer Politik allenfalls zur Hälfte übereingestimmt: einerseits ja, weil sie gesellschaftliche Entwicklungen akzeptierte und in ihre Programmatik übernahm, zum Beispiel Klimaschutz, Atomausstieg, Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder Offenheit für Einwanderung in den Arbeitsmarkt; andererseits nein, weil die politische Gestaltung dieser Neuerungen ihr Motiv und ihre Grenzen immer in dem Bestreben hatte, die sich verändernde Gesellschaft bei der Stange zu halten für die von Merkel selbst so benannte „marktkonforme Demokratie“.In diesem Sinne ist Friedrich Merz seiner verhassten Vorgängerin vielleicht ähnlicher, als er glaubt. Und es gibt noch eine Gemeinsamkeit: So groß die Flexibilität auch mal sein mag, solange ökonomische Machtverhältnisse nicht angetastet werden, so festgefügt ist der ideologische Kern, der in den Äußerungen des neuen Chefdenkers Rödder anklingt. Sowohl den „Woken“ mit ihren Klimaaktionen und Antirassismus-Demos als auch den angeblich von ihnen genährten Rechtsextremen, die das wohlgeordnete Staatsgebäude ebenfalls abfackeln wollen, steht jenes Volk der Ordentlichen gegenüber, auf das die letzte „Volkspartei“ sich beruft.Gesucht: das neue „Wir“Das sind die Menschen, die – wie es in jeder zweiten Rede heißt – „jeden Morgen aufstehen und arbeiten gehen“, als wäre das die einzige Existenzberechtigung für Bürgerinnen und Bürger. Es ist ein großes „Wir“, allerdings eines, das sich vor allem durch Ausschlüsse definiert: Ausschluss durch Abschottung für Flüchtende, für die es längst kaum noch legale Wege gibt; Ausschluss durch Knast für „Chaoten“, die uns ständig die Klimakrise auf die Nase binden, indem sie den Verkehrsfluss stören; und, gerade durchexerziert am ohnehin zu kargen „Bürgergeld“: Ausschluss durch finanzielle Knebelung und Sanktionen für Menschen, die den Weg in den Arbeitsmarkt nicht mehr oder nur unter Schwierigkeiten finden.Dieser Konservatismus malt das Bild einer Zukunft, die sich auf den bisher betretenen Pfaden gestalten lässt. Er mag hier und da verteidigen, was er gestern abgelehnt hat, aber er ist nicht daran interessiert, zu überlegen, was er gern morgen verteidigen würde. Und er stößt, das sollte niemand übersehen, zweifellos auf vorhandene Bedürfnisse in der Gesellschaft, gerade in Zeiten multipler Krisen. „Es dominiert eine regressive Haltung“, sagt der Philosoph Jean-Pierre Wils, „also der Versuch, sich den gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen nicht wirklich zu stellen“.Dieses Bedürfnis ist menschlich verständlich, und es verleiht dem gegenwärtigen Konservatismus eine gewisse Attraktivität. Der allerdings nimmt dafür in Kauf, was Politik nie und nimmer in Kauf nehmen sollte: Er basiert auf Lebenslügen.
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