Es gibt Dinge, die ändern sich nie. „Die Bürger im Land wollen, dass der Strom aus der Steckdose kommt“, hat schon vor Jahren der brandenburgische SPD-Politiker Christoph Schulze festgestellt. Nur der ehemalige FDP-Vorsitzende Martin Bangemann hat da mal scheinbar widersprochen, aber das war eher ein Sprachunfall: „Es soll uns keiner einreden, das Geld kommt von der Bank und der Strom aus der Steckdose. Das Gegenteil ist der Fall“, sagte Bangemann 1985. Aber auch er hatte eigentlich die FDP-typische Aussage im Sinn, dass der Strom eben gerade nicht mehr aus der Steckdose komme, wenn sich die Anti-AKW-Bewegung durchsetzte und Schluss wäre mit der Kernspalterei.
Der Spruch mit der Dose dient bis heute denjenigen als Propagandamasche, die einem so gewinnt
so gewinnträchtigen wie gefährlichen Relikt des fossilen Kapitalismus (und seinen Profiteuren in den Konzernen) doch noch eine Zukunft gönnen möchten. In diesen Tagen der Gaskrise ist es Christian Lindner, der in die Fußstapfen Bangemanns tritt, seines vor einigen Wochen verstorbenen Vorgängers im Parteivorsitz. Er hat die neue Debatte losgetreten, und mit den Vorsitzenden von CDU und CSU, Friedrich Merz und Markus Söder, bildet er eine neue Pro-Atom-Koalition. Einige ihrer Freunde aus der Industrie schließen sich inzwischen an, Metall-Arbeitgeberpräsident Stefan Wolf fordert gleich den Bau neuer Reaktoren.Dass dieses Bündnis in offener Opposition zu Lindners offiziellen Koalitionspartnern SPD und Grüne steht, schert Christian Lindner offensichtlich nicht. Sein taktisches Kalkül: Wer den Leuten erfolgreich einredet, ohne Atomenergie käme bald gar nichts mehr aus der Steckdose, hat den Kampf um die Köpfe schon halb gewonnen und damit ein paar dringend benötigte Wählerstimmen – zumal wenn viele Menschen in berechtigter Angst vor explodierenden Energiekosten leben.Selbst Atomkraft-Gegner von einst könnten schwach werdenTatsächlich dürften selbst unter denjenigen, die einst gegen die Atomkraft demonstrierten, inzwischen manche ins Wanken gekommen sein. Zu reizvoll erscheint es auf den ersten Blick, die letzten Atomkraftwerke noch ein bisschen laufen zu lassen, damit wir im Winter notfalls unbesorgt den Radiator anwerfen können.Wer so denkt, muss allerdings dreierlei wissen: Erstens ist die Stromerzeugung per Kernspaltung natürlich nicht sicherer geworden, nur weil wir vielleicht die Kälte des Winters im Moment mehr fürchten als den GAU (so menschlich verständlich das auch ist). Zweitens knüpfen sich an die längere Laufzeit Versprechungen, die bei genauerer Betrachtung zumindest übertrieben sind. Drittens machen die Kernenergie-Lobbyisten innerhalb und außerhalb der Politik immer unverhohlener deutlich, dass sie langfristig am liebsten den Atomausstieg rückgängig machen würden.Alle drei Aspekte würden es eigentlich nahelegen, die AKW-Scheindebatte rasch zu beenden und verstärkt über Energieeinsparung, Gebäudesanierung oder eine echte Verkehrswende zu reden. Oder über den Ausbau der Stromnetze und der Windenergie, nicht zuletzt im Bayern des Atomfreundes Söder, wo beides immer wieder behindert wurde.Die Versprechungen von Christian Lindner sind ungenauWas die Sicherheit betrifft: Beim bayerischen AKW Isar 2 zum Beispiel wurde die 2019 fällige Überprüfung gestrichen, weil Ende 2022 ohnehin Schluss sein sollte. Der TÜV sagt zwar (im Auftrag des Umweltministeriums in München und in nicht ganz überraschender Übereinstimmung mit Söder), es gehe auch so noch für eine gewisse Zeit. Aber Experten fragen schon, wofür solche Checks vorgeschrieben sind, wenn sie angeblich niemand braucht.Zweiter Punkt: Die Versprechungen von Lindner und Co. sind zumindest ungenau: Die etwa 15 Prozent unseres Stroms, die mit Gas hergestellt werden, lassen sich keineswegs mal so durch Atomenergie ersetzen. Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge hat das gerade in aller Ruhe vorgerechnet: Der Ausgleich von Schwankungen im Netz, der zum Teil von Gaskraftwerken geleistet wird, funktioniert mit Atomkraft nicht. Außerdem produzieren manche Gaskraftwerke neben Strom auch Wärme, sie sollen deshalb auch bei schweren Mangellagen vordringlich mit Gas versorgt werden und weiterlaufen. Und der „Streckbetrieb“, der jetzt weniger Stromproduktion per Atom und im Winter mehr bedeuten würde, bringt in der Summe gar nicht mehr Strom. Dröge kam zu dem Ergebnis, dass durch Kernenergie gerade ein Prozent des deutschen Gesamt-Erdgasverbrauchs zu ersetzen wäre.Dritter Punkt: Es geht offensichtlich um eine längerfristige Renaissance der Atomkraft, der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz sagt es ziemlich offen: „Wir müssen einen Weiterbetrieb so lange ermöglichen, bis die Gefahr eines Engpasses beseitigt ist.“ Das muss gar nicht allein daran liegen, dass die lobbyierenden Atompolitiker speziell den Betreibern die entsprechenden Gewinne zuschanzen wollen. Es dürfte vielmehr vor allem darum gehen, den Druck für eine grundlegende Energiewende zu reduzieren, die letztlich einen Umbau des Wirtschaftssystems mit sich brächte. Das ist es, was genau diejenigen um jeden Preis verhindern wollen, die immer behaupten, sie gingen die Atomfrage „unideologisch“ an.