Die Jüngeren werden sich nicht erinnern, es ist ein Vierteljahrhundert her: Es war einmal eine Bundestagswahl, bei der die SPD und die Grünen eine Mehrheit der Sitze im Bundestag errangen. An diesem Tag, es war der 27. September 1998, hatte die Hoffnung auf eine sozial-ökologische Reformpolitik in der Bundesrepublik Deutschland ihren Höhepunkt erreicht: Das „rot-grüne Projekt“, von dem gelegentlich die Rede war, konnte die Regierung übernehmen, Gerhard Schröder und Joschka Fischer führten die Geschäfte bis 2005.
Rot-Grün hat zwar in vieler Hinsicht enttäuscht, und die 16 Merkel-Jahre, die folgten, werden als Epoche des sträflichen Stillstands in die Geschichte eingehen. Nun aber, nach dem 8. Oktober 2023, ist selbst bei
selbst bei notorischem Optimismus nicht mehr zu übersehen: Es geht noch viel schlimmer.Es waren zwar diesmal „nur“ zwei Landtagswahlen. Aber sowohl in Bayern als auch in Hessen haben die Wählerinnen und Wähler brutalstmöglich deutlich gemacht: Der Trend geht nach rechts. Noch sind wir hier nicht so weit wie Italien und andere Länder, wo der Partei gewordene Rassismus bereits eigene Mehrheiten erringt. Aber der Aufstieg der weitgehend rechtsextremen AfD hat sich mit den anti-liberalen und ökologisch ignoranten Tendenzen in weiten Teilen etablierter Parteien zu einer so giftigen wie wirksamen Mischung verbunden. Sie droht die Reste reformerischer Politikentwürfe im einst „rot-grünen Lager“ endgültig zu marginalisieren. Ein Prozess, den SPD und Grüne durch eigenes Versagen verstärken, statt sich ihm entschlossen entgegenzustellen.Vor 25 Jahren war die Mehrheit noch linksWer das in Zahlen messen möchte, muss nur mal die Resultate der beiden Landtagswahlen neben früheren Bundes-Ergebnissen betrachten: In den Jahren 1998 und 2002 lagen SPD und Grünezusammen zwischen 47 und 48 Prozent der Stimmen, was jeweils für eine Mehrheit der Sitze genügte. Zählt man die Linke (damals PDS) noch mit, kam das „linke Lager“ damals auch bei den Wählerstimmen auf eine absolute Mehrheit. Nach Sitzen wäre Rot-Rot-Grün danach sogar noch zweimal möglich gewesen (2005 und 2013). Aber da es jeweils vor den Wahlen keine vorbereitende Zusammenarbeit gegeben hatte und große Teile der SPD die Linke weiter tabuisierten, blieb „R2G“ politisch aussichtslos.Im Herbst 2023 sieht die Lage in Bayern und Hessen, die zusammen immerhin annähernd ein Viertel der deutschen Bevölkerung beherbergen, folgendermaßen aus: In Bayern kommen Grüne und SPD zusammengerechnet auf 22,8 Prozent, in Hessen (wo die Linke nun ebenfalls nicht mehr im Landtag vertreten ist) sind es 29,9 Prozent. Der große Rest sitzt, hier wie dort, rechts von Rot-Grün.Wie sich rechte Rhetorik verbreitetDamit wäre prägnant illustriert, was sich jenseits reiner Zahlen nur mit einer verheerenden Diskursverschiebung nach rechts erklären lässt. Immer deutlicher erobert eine Rhetorik die Hegemonie im politischen Raum, der es gelingt, die Verantwortung für die Krisen der Gegenwart und die daraus entstehenden Brüche in der Gesellschaft zu vertuschen und zu verschieben. Vor allem auf drei Spielfeldern findet diese Diskursverschiebung, deren Erfolge sich jetzt offenbaren, bereits seit Jahren statt:Der Migration wird nicht mit humaner Zuwanderungspolitik oder Bekämpfung von Fluchtursachen begegnet, sondern mit dem zwar eingängigen, aber ebenso inhumanen wie uneinlösbaren Versprechen, sie durch immer mehr Aufrüstung und Abschottung an den Grenzen zu unterbinden. Einen besonders traurigen Akzent stellt dabei übrigens die Tatsache dar, dass Führungskräfte der ehemals internationalen Solidaritätspartei SPD sich dieser Linie längst angepasst haben. Dass die Bundesinnenministerin und hessische SPD-Spitzenkandidatin Nancy Faeser mit dieser Strategie krachend scheiterte, ist verdient, aber kein Trost. Sie werden wohl auch jetzt nicht verstehen, dass das rechte Spektrum in seinen unterschiedlichen Färbungen – von der im Ton verbindlichen, aber in der Sache unerbittlichen Variante eines Boris Rhein über den AfD-Imitator Friedrich Merz bis zum ganz rechten Original – dieses Spiel besser beherrscht.Der Klimaschutz wird gezielt ausgespielt gegen Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der persönlichen Freiheit. Es ist schon ein starkes Stück, wie Leute vom Schlage des CDU-Vorsitzenden Merz die Nöte der „kleinen Leute“ entdecken, wenn es um Heizung oder Gebäudesanierung geht – während sie ein soziales Mietrecht, einen höheren Mindestlohn oder ein bisschen mehr „Bürgergeld“ geradezu wütend bekämpfen.In Fragen gesellschaftlicher Liberalität und Diversität nimmt die hegemoniale Rechte das Geschenk verunsicherter Reflexe in relativ weiten Teilen der Bevölkerung sehr gerne an. Dass manche Ausformungen des Kampfes einzelner Gruppen um Anerkennung für Irritationen und Entwertungsängste in Teilen der Mehrheitsgesellschaft führen, nutzen die AfD und in erschreckendem Gleichklang klassische Konservative zu einer maßlosen Propaganda gegen Gendersternchen oder die „Dekolonisierung“ von Kunst und Literatur, der jede kritische Reflexion und Differenzierung fernliegt.Die positive Perspektive fehltWer alldem etwas entgegensetzen will, hat es wahrhaft nicht leicht. Die Ursachen für durchaus berechtigte Ängste und Verunsicherungen sind ja tatsächlich komplexer, als die Schuldzuweisung an Flüchtende, Klimaschützende oder Emanzipationsbewegungen es nahelegt. Forderungen nach Umverteilung von Reichtum, ökologischer und zugleich sozialer Klimapolitik oder gar nach einem Umbau der ungerechten Wirtschaftsverhältnisse stoßen offensichtlich auf viele Menschen, die an Veränderungen dieser Art nicht mehr glauben – vielleicht, weil sie die bestehenden Machtverhältnisse allzu gut kennen.Um das zu ändern, bräuchte es politische Kräfte, die dem komplexen Krisengeschehen zumindest Konturen einer positiven Alternative zur herrschenden Politik entgegensetzen. Vor einem Vierteljahrhundert hat Rot-Grün, mitgetragen von gesellschaftlichen Kräften wie der Anti-Atom-Bewegung, zumindest für eine historische Sekunde den Eindruck vermittelt, genau dies zu tun.Seitdem sind SPD und Grüne, je auf ihre Art, den Weg der Anpassung gegangen: Mal aus populistisch-wahltaktischen Gründen, mal aus Fixierung auf Regierungsbeteiligungen, mal aus überpragmatischer Koalitionstreue bis zur Unkenntlichkeit eigener Ziele haben sie sich als mehr oder weniger linke Alternativen zur ideologisch zusammenrückenden Rechten von CDU bis AfD fast unsichtbar gemacht. Hier liegt ihre Mitverantwortung für eine bedrohliche Entwicklung, die sich bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen so deutlich gezeigt hat wie kaum jemals zuvor in der Bundesrepublik.Placeholder infobox-1