In ihrem Herzen ist die Republik getroffen worden, und auch an den unteren Extremitäten im Süden sind die in blauen Flecken unübersehbar: In Hessen wie in Bayern heißt die Oppositionsführerin im Landtag fortan AfD, und spätestens jetzt muss man sich schon fragen, wie es eigentlich um das Demokratieverständnis beträchtlicher Teile der Westdeutschen bestellt ist. Hat da 100 Jahre nach dem ersten Machtübernahmeversuch Adolf Hitlers, in München, und 60 Jahre nach Beginn des ersten Frankfurter Auschwitzprozesses etwa wer vergessen, welche Verantwortung einhergeht mit der Freiheit, seine Stimme abzugeben?
18,4 Prozent in Hessen, 14,6 Prozent in Bayern für die AfD – und die ganze Wählerwanderung ein einziger Rechtsruck: Von Unionsparteien und FDP zur AfD, in Bayern noch mehr zu den Flugblatt-Separatisten um Hubert Aiwanger, am Main wie an der Donau von SPD, Grünen und FDP zu den Unionsparteien. Nur die Bayernpartei kann nicht profitieren, für sie reicht es nur zur Rolle des Statisten, wenn im Regionalfernsehen bei der Erörterung des Wahlergebnisses in Weiden die Normalisierung der AfD vor Augen geführt wird und der AfD-Direktkandidat selbst fast verdattert wirkt, dass in der Oberpfalz, auch in Niederbayern bei 20, 22 Prozent schon fast sächsische Verhältnisse herrschen. Stellenweise rund 30 weitere Prozent wählen in diesen Regionen ja auch noch die Freien Wähler.
Ob Alexander Gauland oder Hubert Aiwanger
Ob Oberpfalz oder Vogelberg – dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus im Westen nicht so allumfassend war, wie es der dortige Spott über den „staatliche verordneten Antifaschismus“ im Osten vermuten ließe, konnte man auch schon vor Hubert Aiwanger wissen. Stahlhelm-CDU, Vogelschiss-Gauland, von Hessen aus etwa wurde die blaue Soße kräftig mit angerührt. Manch einer im Westen ist vielleicht nie wirklich in der Demokratie angekommen.
Oder im „Einwanderungsland“ Deutschland. Den Bayern reicht nicht einmal ihre eigene Grenzschutzpolizei, und in Hessen helfen weder der schwarz-grüne Ausbau des Frankfurter Flughafens noch die Räumung von Klimaaktivistinnen aus dem Dannenröder Forst für einen schönen Weiterbau der A49 – am Ende kommen ja über Luftweg oder Autobahn doch nur mehr Migranten von den Außengrenzen her.
Nancy Faeser verliert
Den Fachkräftemangel bejammern und Flüchtlingsabwehr wählen – im Westen haben sie wohl vergessen, wie sie vor drei Jahrzehnten zu Abertausenden selbst aufbrachen und von offenen Grenzen wie sicheren Routen profitierten, jenseits einer einstigen Mauer noch einmal neu anfangen konnten und so bis hinauf in viele Führungspositionen den wirtschaftlichen Niedergang stoppten und blühende Landschaften schufen, oder mindestens vernünftige Autobahnen.
Doch „Zuwanderung“, und darauf wird sich am Ende dann wahrscheinlich noch Nancy Faeser (SPD) hinausreden, um einen Verbleib als Bundesinnenministerin zu rechtfertigen, war laut Nachwahlbefragungen in Bayern nur das zweit-, in Hessen nach „Klima und Energie“ gar erst das drittwichtigste Thema für die Wahlentscheidung. Was die meisten umtreibt, das ist „die wirtschaftliche Entwicklung“, oder auch: der befürchtete Niedergang.
Gegen die „Berliner Ampel“
Und da dürften West, Ost, Süd und Nord dann wieder zusammenfinden, es existiert ja auch ein gleichermaßen verortbarer Gegner: die „Berliner Ampel“. Alle sechs Landesverbände der von Berlin aus regierenden Koalition aus SPD, Grünen und FDP haben klar verloren. 85 Prozent der Gespräche im Landtagswahlkampf, schätzt der mit seiner Fraktion aus dem Maximilianeum in München ausgeschiedene Weidener FDP-Abgeordnete Christoph Skutella, hätten sich um Bundespolitik gedreht.
Das hat sicher auch mit der Art von medialer Vermittlung von Politik zu tun, wie sie unlängst Harald Welzer und Richard David Precht beschrieben und kritisiert hatten, in der vor allem Berliner Medien Berliner Koalitionsstreitigkeiten in Permanenz bis in den hintersten Winkel der Republik reinszenieren.
Der Sahra-Wagenknecht-Verein
Doch vielmehr sind die Wahlergebnisse dieses Wochenendes eine nicht allzu überraschende Folge der Versuchsanordnung im Regierungsviertel und ihrer Realitäten fernab seit zwei Jahren: Zum ersten Mal ist auf Bundesebene eine Koalition dreier unterschiedlicher Parteien angetreten, hat die Modernisierung des Landes und nicht zuletzt seiner Volkswirtschaft angekündigt, dann in Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands den Abschied von der für diese Volkswirtschaft elementaren Versorgung mit günstigem russischem Gas gewagt und außerdem die Entkopplung von China als wichtigstem deutschem Handelspartner in Aussicht gestellt, war umstandslos zur Aufnahme Hunderttausender Kriegsflüchtlinge bereit, ohne die Rückkehr zu einem radikalen Sparkurs in der Haushaltspolitik abzusagen, was umso frappierender wirkt, als dass zugleich der transatlantische Verbündete deutsche Unternehmen mit einem Füllhorn an Investitionen in die USA lockt.
Das alles verfolgt Sahra Wagenknecht erkennbar aufmerksam. Entgegen landläufiger medialer Meinung war auch bei ihr Zuwanderung zuletzt nicht Thema Nummer eins, drehten sich ihre Einlassungen vielmehr um eben jene wirtschaftliche Entwicklung, die viele besorgt. „Vernunft“ und „Gerechtigkeit“ kursieren als Schlagwörter für ihre nach der Gründung eines entsprechenden Trägervereins in Aussicht stehende Parteiformation, und so ruhen nicht wenige Hoffnungen, der Rechtsruck in der gesamten Republik möge in Zukunft nicht gar so rechts ausfallen, auf einer in Südwestdeutschland lebenden Ostdeutschen, die den Berliner Politikbetrieb eher meidet.
Noch aber ist die Vagheit dieser Hoffnung mit Blick auf die nächsten anstehenden Wahlen zum Europaparlament und zu den Landtagen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen 2024 auf einem ähnlichen Niveau angesiedelt wie der Wunsch, die Koalitionspartner in Berlin mögen jetzt doch bitte endlich ein Bild der Geschlossenheit abgeben.
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