Beihilfe zur Brandstiftung: Warum ungebändigter Kapitalismus Krisen erzeugt
Anfälligkeit Warum muss der Kapitalismus alle paar Jahre wieder gerettet werden? Und warum wird jede Krise wegerklärt, anstatt dass man die Ursachen dafür erkennt und angeht? Der Ökonom Stephan Schulmeister hat Antworten
Denken sei etwas, „das auf Schwierigkeiten folgt und dem Handeln vorausgeht“, sagte Bertolt Brecht. Allerdings: Das bedeutet leider nicht, dass jeder „Schwierigkeit“ oder Krise ein Nach-Denken folgt.
Wenn es brennt, muss man löschen. Wenn es aber immer wieder brennt, sollte man auch die Ursachen der Brände ergründen. Und was tun, wenn Zündeln attraktiv ist, die Brände also systemisch bedingt sind? Dann dient jede Rettung nur dem Weiterwursteln, und damit auch den Brandstiftern.
Über fast 50 Jahre ist so eine umfassende ökonomische, soziale, ökologische und politische Krise herangewachsen, und zwar nach folgendem Muster: Systemänderungen wie die Entfesselung der Finanzmärkte generieren Krisen, diese werden von den akade
den von den akademischen, politischen oder medialen Eliten auf Sonderfaktoren zurückgeführt. Die Vernachlässigung ihrer systemischen Ursachen bereitet den Boden für die nächste Krise – dazwischen aber muss gerettet werden: Rettung der Banken nach der Finanzkrise, Rettung der Autokonzerne durch die Abwrackprämie, Rettung von Griechenlands Gläubigern durch den „Rettungsschirm“, Rettung der Großeinleger bei der Silicon Valley Bank, Rettung von Firmen des Self-made Milliardärs und Pleitiers René Benko und demnächst vielleicht Rettung einer seiner Gläubigerbanken.Die Retter retten vor allem sich selbstRetten gehört zum Kerngeschäft der Eliten. Regierungen erwecken so den Anschein von Durchblick und Verantwortung, Ökonomen erklären, warum man („nur diesmal“) die Marktselektion stoppen müsse, die geretteten Investoren und Kreditgeber freuen sich, dass die Allgemeinheit die Verluste trägt.Wichtiger als die Rettung von Vermögen ist die Rettung des Systems selbst. Die mit akuten Krisen verbundene Aufregung und das begleitende Rettungsgetöse verdrängen die Frage: Gibt es gemeinsame Ursachen der seit den 1970ern höheren Krisenhäufigkeit? Die Ausblendung ihrer systemischen Ursachen ist Grundlage von Lernverweigerung und Weitermachen.Das beste Beispiel dafür ist die Bankenrettung nach der Finanzkrise 2008. Deren (Symptom-)Diagnose lautete: Banken in den USA hatten immer mehr – auch mittellosen – Haushalten den Kauf eines Eigenheims finanziert, begünstigt durch staatliche Förderung und Niedrigzinsen. Die Kreditforderungen der Banken wurden zu Wertpapieren gebündelt und weltweit verkauft. Als die US-Notenbank den Leitzins von 1 Prozent auf 5,25 Prozent erhöhte und die Immobilienpreise zu sinken begannen, kollabierte das Geschäftsmodell, die Wertpapiere wurden zu „Schrottpapieren“.Krise ist kein Betriebsunfall, sondern die Folge von business as usualOberflächlich betrachtet erscheint die Finanzkrise als gigantischer Betriebsunfall, tatsächlich war sie das Ergebnis von „business as usual“ auf den Vermögensmärkten für Wertpapiere, Rohstoffe und Immobilien. Deren Preise entwickeln sich in einer Abfolge „überschießender“ Bullen- und Bärenmärkte. Boomende Aktienkurse etwa machen alle Aktienbesitzer „auf dem Papier“ reicher, der nachfolgende „Bärenmarkt“ entwertet das „fiktive Kapital“ (Karl Marx). Gleichzeitig müssen Unternehmen, also auch Banken, ihre Bilanzen zu aktuellen Marktpreisen erstellen, im Gegensatz zum alten „vorsichtigen“ Niederstwertprinzip. Die Folge: Bullenmärkte „blasen“ Bilanzsumme und Eigenkapital auf, Bärenmärkte bewirken das Gegenteil. Darin liegt die Hauptursache der Finanzkrise und ihrer Vorgeschichte.Zwischen 2002 und 2007 stiegen die Aktienkurse in den USA um 90 Prozent und die Immobilienpreise um 60 Prozent, gleichzeitig vervierfachten sich die Rohstoffpreise. Diese Schaffung von „Papierreichtum“ beflügelte die Wirtschaft ohne nennenswerte Güterinflation. Ökonomen sprachen von der „great moderation“ und Wirtschaftsnobelpreisträger Robert E. Lucas meinte, der Kapitalismus hätte damit seine Krisenanfälligkeit verloren.Doch ab Anfang 2007 verloren Aktien, Immobilien und Rohstoffe in weniger als zwei Jahren mehr an Wert als sie in den fünf Jahren davor gewonnen hatten: Runter geht’s immer schneller als rauf. Da die Banken in der Boomphase ein „großes Rad“ gedreht hatten durch eine immer kleinere Eigenkapitalquote, verloren sie in wenigen Wochen ihr gesamtes Eigenkapital und mussten vom Staat gerettet werden, allein in Deutschland um etwa 500 Milliarden Euro.Mit der „Brille“ der herrschenden Gleichgewichtstheorie bleiben diese Zusammenhänge verborgen. Denn ihre Annahmen schließen aus, dass die „freiesten“ Märkte systematisch manisch-depressive Schwankungen generieren und damit falsche Preise. Also machte man weiter wie vorher, nur exzessiver: Seit 2009 sind die Aktienkurse in den USA auf das Neunfache gestiegen, in Deutschland auf das Vierfache. Gleichzeitig wurde auch Kontinentaleuropa vom Immobilienboom erfasst. Das Wachstum der Realwirtschaft war jedoch das niedrigste der Nachkriegszeit. Denn je attraktiver es wird, Profit durch Höherbewertung von Finanz- oder Immobilienvermögen zu machen, desto schwächer fällt die reale Investitionsdynamik aus.Das „Wirtschaftswunder“ war kein Wunder, sondern Ergebnis von PolitikDies verdeutlicht die Nachkriegsgeschichte: Bis 1971 blieben die Finanzmärkte strikt reguliert. Bei festen Wechselkursen und stabilen Rohstoffpreisen, Zinsen unter der Wachstumsrate und „schlafenden“ Aktienmärkten konnte sich das Profitstreben nur in der Realwirtschaft entfalten – das „Wirtschaftswunder“ war also gar kein Wunder, sondern ähnlich in China seit 1982 das Ergebnis von Wirtschaftspolitik. Nach der Entfesselung der Finanzmärkte verlagerte sich das Profitstreben von der Real- zur Finanzwirtschaft, die Folge: Das Wirtschaftswachstum sank von Jahrzehnt zu Jahrzehnt.Der Unterschied zwischen einer real- und einer finanzkapitalistischen „Spielanordnung“ zeigt sich markant am Beispiel der Immobilienwirtschaft: In den 1950er und 1960er Jahren machte ein Investor Profit, indem er mehr Gebäude produzierte, im Finanzkapitalismus hingegen, indem er bestehende Gebäude kauft und auf ihre Wertsteigerung setzt. Allgemein gilt: Realkapitalistische Rahmenbedingungen „belohnen“ unternehmerisches Handeln, finanzkapitalistische Bedingungen das Besitzen (die „Rentierökonomie“, ein altes Problem der Klassiker wie Adam Smith und insbesondere David Ricardo).Die Folgen des Finanzkapitalismus – Wachstumsschwäche und Finanzkrisen – versuchte die Geldpolitik durch Niedrigzinsen zu bekämpfen, was aber das „Rentiermodell“ nur noch stärkte. Denn die günstigen Kreditbedingungen wurden überwiegend für Finanz- und Immobilieninvestitionen genützt, insbesondere nach der Finanzkrise 2008. Der Aufstieg des René Benko ist prototypisch: Zu Niedrigzinsen Immobilien kaufen, auf deren Wertsteigerung setzen, entsprechende „Papiergewinne“ ausweisen und noch mehr Investoren gewinnen.Das Volumen des „Bewertungskapital“ ist mittlerweile so gigantisch, dass die Geldpolitik mehr auf die Vermögens- als auf die Güterinflation achten muss. Das zeigte der bisher größte Aktiencrash im März 2020: Nach dem langen Bullenmarkt löste Covid19 einen globalen Kurssturz um etwa 35 Prozent aus. Darauf intervenierten die wichtigsten Notenbanken auf den Aktienmärkten und motivierten die „big players“, wieder einzusteigen. Das ließen sich diese nicht zweimal sagen und streiften enorme Gewinne ein: Trotz des schwersten Wirtschaftseinbruchs seit den 1930er Jahren stiegen die Aktienkurse um etwa 70 Prozent.Noch wesentlich stärker stiegen die Preise von Erdöl und Erdgas, nicht zuletzt dank einer nachhaltig engen Kooperation zwischen OPEC und Non-OPEC. Schließlich erfasste die Profitlogik der Finanzmärkte alle Gütermärkte: Statt durch Produktionsausweitung wurden die Gewinne durch Preiserhöhungen gesteigert, am stärksten bei den unverzichtbaren Gütern wie Energie, Nahrungsmittel und Wohnen. Die so wiederbelebte Inflation bekämpften die Notenbanken mit höheren Zinsen, allerdings im Bewusstsein der Gefahr von Bärenmärkten und damit Vermögensschmelzen bei Aktien und Immobilien. Zwar konnten diese bisher vermieden werden, doch sind die Immobilienpreise nicht mehr weiter gestiegen (USA) bzw. gesunken (Deutschland). Damit brechen jene Geschäftsmodelle zusammen, die auf eine permanente Aufwertung ihrer Vermögen und niedrige Zinsen angewiesen sind (wie jenes von Rene Benko).Es bräuchte eine dreifache Bändigung des KapitalismusFazit: Ein System, in dem Profitmachen durch Bewertungsänderungen von Finanz-, Immobilien- oder Rohstoffvermögen attraktiver ist als durch Aktivitäten in der Realwirtschaft wird immer kleine und große Krisen erzeugen und damit Rettungsaktionen aller Art nötig machen. Also müssten die Rahmenbedingungen grundlegend geändert werden mit dem Ziel, Unternehmertum besser zu stellen als Finanzalchemie. Dass dies prinzipiell auch in einem kapitalistischen System möglich ist, zeigt die Prosperitätsphase der Nachkriegszeit. Im 21. Jahrhundert bräuchte es eine dreifache Bändigung des Kapitalismus: Stabilisierung der Finanzmärkte, Dekarbonisierung der Wirtschaft und Stärkung des sozialen Zusammenhalts. Würde etwa der Fließhandel in Milli- und Mikrosekunden durch elektronische Auktionen (z. B. dreimal am Tag) ersetzt werden, so würde die immer „schnellere“ Spekulation auf Basis von Algorithmen auf marktkonforme Weise unmöglich gemacht (schon jetzt wird der Eröffnungskurs nach diesem Verfahren bestimmt, aber eben nur dieser).Wegen der enormen Schwankungen der Preise fossiler Energie sowie der CO₂-Zertifikate, können weder CO₂-Steuern noch der Emissionshandel jene Planungssicherheit gewährleisten, die Investitionen in die Vermeidung von CO₂ verlässlich profitabel macht. Dies erfordert die Festlegung von überdurchschnittlich steigenden Preispfaden von Erdöl, Kohle und Erdgas, sodass jeder berechnen kann, wieviel er sich an künftigen Kosten für fossile Energie erspart, wenn er schon heute in deren Vermeidung investiert.Schließlich wird eine nachhaltige Stärkung des sozialen Zusammenhalts ohne eine Modernisierung und Ausweitung des Sozialstaats und damit eine Erneuerung des „European Social Model“, nicht zu erreichen sein.Das wären nur drei Beispiele für Möglichkeiten der Bändigung des Kapitalismus (nicht seine Überwindung). Angesichts des neoliberalen Smogs in den Köpfen der Eliten ist ein Eingehen auf solche systemischen Reformen illusorisch – geschweige denn ihre Realisierung. Es wird also noch viele Rettungen brauchen – bis das Ende der Sackgasse erreicht ist.Placeholder authorbio-1
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