Susan Neiman: „Ich soll Israel verachten, dessen Bürgerin ich bin? Das ist haltlos“
Replik Der Historiker Ernst Piper kritisierte die Position der Philosophin Susan Neiman zu Israel im Interview mit dem „Freitag“ scharf. Hier antwortet sie auf seine Vorwürfe und weist diese entschieden zurück
Die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman weist die Anschuldigungen des Historikers Ernst Piper entschieden zurück
Foto: James Starrt
Es ist mühsam, alle Fehler im Freitag-Interview mit Ernst Piper zu korrigieren, aber da Pipers Aussagen meinen Ruf grundlos schädigen, ist eine Antwort notwendig.
Zunächst: Ich habe mit der Leitung von PEN Berlin nichts zu tun. Ich bin lediglich Mitglied, und ich wurde zum Kongress 2023 eingeladen, weil mein neues Buch Links ist nicht woke an Themen von Ayad Akhtar anknüpft, die letztes Jahr heiß diskutiert wurden. Auf dem Kongress bin ich eine von 27 eingeladenen Autoren.
Zweitens: In einer ersten Fassung des Interviews stand, ich würde aus einer postkolonialen Perspektive argumentieren. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. In dem oben genannten Buch habe ich postkoloniales Denken scharf kritisiert, vor allem aufgrund der ignoranten Kritik
mentieren. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. In dem oben genannten Buch habe ich postkoloniales Denken scharf kritisiert, vor allem aufgrund der ignoranten Kritik der Aufklärung, die dazu führt, dass Werte wie der Universalismus und die Menschenrechte als eurozentrisch, gar kolonialistisch verschrien werden. Insofern war ich entsetzt, aber nicht überrascht, dass viele Menschen, die sich links nennen, den Terror der Hamas als Befreiungskampf feierten. Dies wird international als Versagen der Linken verurteilt. Doch für mich sind sowohl die Postkolonialisten als auch die Woken – zwei schwammige Begriffe, die überlappen – längst nicht mehr links. Wer tribalistisch statt universalistisch denkt, wer Macht ohne Gerechtigkeit sucht, wer die Hoffnung auf Fortschritt aufgegeben hat – der ist nicht mehr links.Verachtung für das Land, dessen Bürgerin ich bin?Die Werte der Aufklärung habe ich immer verteidigt, beginnend mit meiner Doktorarbeit über Kants Vernunftbegriff, die ich bei John Rawls in Harvard schrieb. Der Vorwurf des Postkolonialismus kann daher nur der binären Vorstellung entstammen: entweder ist man „für die Juden“ oder „für die People of Color“, „für Israel“ oder „für den Globalen Süden“. Diese tribalistische Haltung behandelt politische Konflikte wie Fußballspiele, wo es hauptsächlich darum geht, der eigenen Mannschaft die Treue zu beweisen. Vielmehr suggeriert es, dass ethnische Herkünfte unsere moralischen und politischen Haltungen determinieren.Leider vertreten nicht nur Postkolonialisten solche binären Vorstellungen. Tribalismus findet man auch bei Deutschen, die glauben, man muss jede Politik des israelischen Staates unterstützen, weil die eigenen Vorfahren sechs Millionen Juden ermordet haben. Dass Deutsche eine Verantwortung für Israel empfinden, ist erfreulich. Wie viel einfacher wäre das, wenn diese Verantwortung auf der Basis universeller Menschenrechte stünde! Dann könnte man anerkennen, dass schwere Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten des Nahost-Konflikts geschehen – und entsprechend handeln. Millionen von Juden tun dies täglich.Zum wichtigsten Punkt: Piper wirft mir und Eva Menasse „selbstherrliche Verachtung für Israel“ vor. Ist ihm bekannt, dass Menasses Vater nur deshalb den Holocaust überlebte, weil er mit acht Jahren auf einen Kindertransport nach England geschickt wurde? Weiß er, dass ich nicht nur Jüdin, sondern israelische Staatsbürgerin bin, die von 1995 bis 2000 Philosophieprofessorin an der Universität Tel Aviv war? Vermutlich nicht, denn gewiss würde jeder anständige Deutsche einen Moment innehalten, bevor er zwei jüdische Frauen als Israel-Verächterinnen diffamiert.Mit meinen drei Kindern bin ich nach dem Osloer Friedensvertrag nach Israel gezogen („Aliyah gemacht“) in der Hoffnung, zu einer friedlichen Lösung des Konflikts beizutragen. Leider wurde diese Hoffnung von Netanjahu und seinen immer weiter nach rechts rückenden Regierungen untergraben. Dafür kritisiere ich sie seit Jahrzehnten, wie Hunderttausende anderer Israelis auch. Aber Verachtung für das Land, dessen Bürgerin ich bin? Dafür wird man keinen Beleg aus meiner Feder finden.Sollen nur deutsche Historiker über deutsche Geschichte schreiben dürfen?Weil Piper keinen Beleg für seine Beschuldigungen anführen kann, begnügt er sich mit Auslassungen über den Band Historiker streiten, den ich, aufbauend auf einer Tagung im Einstein Forum, zusammen mit Michael Wildt herausgegeben habe. Pipers Kommentare zum Band sind bizarr. Der Vorwurf, es gäbe darin nur einen deutschen Historiker der NS-Zeit, lässt staunen. Will er den Streit zwischen Martin Broszat und Saul Friedländer aufwärmen? Sollen nur deutsche Historiker über deutsche Geschichte schreiben dürfen? Will Piper die Kompetenz der israelischen Historiker Yehuda Bauer und Omer Bartov, die in unserem Band zu Wort kommen, infrage stellen?Die Mehrheit der Beitragenden sind Historiker, die über Holocaust, Genozid, Faschismus und Erinnerungskultur geforscht und publiziert haben. Hinzu kamen namhafte Schriftsteller wie Ingo Schulze und Eva Menasse. Weder Michael Wildt noch ich sind mit allen Beiträgen einverstanden. Vielmehr wollten wir eine Sammlung unterschiedlicher, auch widersprüchlicher Stimmen anbieten. Denn der Historikerstreit von 1986/87 bleibt nicht in Erinnerung, weil er eine Fachveranstaltung war, sondern weil er zentrale Interpretationen der deutschen Geschichte verhandelt hat. Zur Diskussion stand die Frage, welche politischen und moralischen Haltungen für die deutsche Gesellschaft relevant sind. Und wenn sich Ernst Piper wundert, „warum eine Philosophin sich in diese Debatte einmischen will“, muss er daran erinnert werden, dass es damals ein Philosoph war, Jürgen Habermas, der die Diskussion in Gang gebracht hat?Dass Piper meine Einleitung zum Band „unglaublich wirr und schwach“ fand, ist bedauerlich. In dem Text ging es gerade um die Unterschiede zwischen den historischen und moralischen Ebenen des Historikerstreits, die immer wieder verwischt werden. Aber wer keine Erfahrung hat, sich mit philosophischen Argumenten auseinanderzusetzen, wird möglicherweise manches wirr finden.Auf einen Brief, in dem ich Herrn Piper aufgefordert habe, seine rufschädigenden Behauptungen zu belegen oder sie von seiner Facebook-Seite zu entfernen, antwortete er, dass er sich auf meinen „Kampf gegen die deutsche Erinnerungskultur“ beziehe. Sollte ich darüber staunen oder lachen? Denn die deutsche Erinnerungskultur hat mich seit 40 Jahren auf intensivste Weise beschäftigt – notgedrungen, da ich 1982 nach West-Berlin zog, zu einer Zeit, wo wenige Amerikaner, und noch weniger Juden, eine Deutschland-Reise in Erwägung zogen. Schon in den 80er Jahren, als die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit in den Kinderschuhen steckte, fand ich einiges zu loben – im Vergleich zu dem Land, wo ich herkam und dessen Erinnerungskultur weder Hiroshima noch Vietnam bedachte. Mein erstes Buch Slow Fire: Jewish Notes from Berlin (Schocken 1991) handelt davon.Die Instrumentalisierung des Holocaust durch die RechteDas müsste Piper nicht wissen, aber sein Vorwurf übersieht zudem, dass ich 2019 ein Buch mit dem Titel Von den Deutschen lernen auf Englisch, Holländisch, Hebräisch, Farsi und Chinesisch erfolgreich veröffentlich habe. Nur in Deutschland wurde es kritisiert, weil ich die deutsche Erinnerungskultur angeblich zu sehr gelobt hätte. Mir war bewusst, dass der Weg der Deutschen dorthin schwer und oft widerwillig war. Doch hatte ich Respekt vor der ersten Nation der Welt, die ihre Verbrechen ins Zentrum ihrer historischen Narrative stellt. Bei den meisten Ländern warten wir darauf, dass sie ihre vergangenen Verbrechen überhaupt anerkennen. Denken wir nur an Spanien oder Polen.Kurz nach dem Erscheinen der deutschen Ausgabe begannen aber mein Zweifel – vor allem nach den Folgen der BDS-Resolution des Deutschen Bundestags, die ursprünglich von der AfD als Persilschein vorgeschlagen wurde. Wer sich bedingungslos zu Israel bekennt und dazu auch Netanjahus Sohn auf Wahlkampf-Plakaten abbildet, müsste sich vom Nazi-Gedankengut gelöst haben, oder?Die Unfähigkeit, die Instrumentalisierung des Holocausts durch die politische Rechte zu durchschauen, belastet auch die Erinnerungskultur von Menschen, die aus vollem Herzen die Solidarität mit Israel aufrechterhalten wollen. Viele scheinen auch nicht zu merken, dass diese Instrumentalisierung von rechten israelischen Regierungen gefordert wird, um jede Kritik ihrer Politik zu delegitimieren. Wer sich die Mühe gibt, eine englische Ausgabe von Israels führender Zeitung Haaretz oder auch die New York Times zu lesen, wird die Details dazu finden.Solche Zeitungsleser wissen, dass Netanjahu in die Politik gegangen ist, um den Friedensprozess zu zerstören, und dass er ihn weiter absichtlich unterläuft. Heute glaubt die Mehrheit der Israelis, dass auch das Sicherheitskonzept des israelischen Staates am 7. Oktober zerstört wurde. Selbst wenn es nur um den Schutz von jüdischem Leben ginge, könnten militärische Mittel Israel nicht retten ohne eine ernst gemeinte, von der internationalen Gemeinschaft geforderte politische Lösung – die auf den Menschenrechten basiert, welche natürlich für Palästinenser und Israelis gleichermaßen gelten. Doch im Namen der Erinnerungskultur wird die deutsche Geschichte immer wieder heraufbeschworen und der Blick von der Gegenwart in Nahost abgelenkt.Meine eigene AngstUnd die Angst der Juden, die in Deutschland und anderswo leben? Dass der Antisemitismus derzeit aus allen Ecken gekrochen kommt, ist nicht zu übersehen. Es liegt an uns allen, ihn zu bekämpfen. Meine eigene Angst richtet sich derzeit auf ein mögliches Backlash gegen das automatische Festhalten der Bundesrepublik an einer Nahost-Politik, die weder mit ihren eigenen erklärten Werten noch mit ihren Interessen vereinbar ist. Hinter vorgehaltener Hand werden alte antisemitische Klischees schon von Biodeutschen hervorgekramt, um sich das Paradox zu erklären: Vielleicht gibt es wirklich eine jüdische Weltherrschaft?Weitere Reflexionen zur deutschen Erinnerungskultur habe ich neulich in zwei Aufsätzen für die The New York Review of Books geschrieben. Auch wenn Piper anderer Meinung ist, wird er dort nichts finden, das seine verleumderische Aussage belegt.Was leider viel wichtiger ist: Während wir in Berlin über die deutsche Erinnerungskultur streiten, sterben zahllose Kinder in Gaza. Nach Angaben von Haaretz starben im letzten Monat zehn Kinder pro Stunde. Mein Hauptproblem mit der deutschen Erinnerungskultur: Derzeit führt die deutsche Fixierung auf die Vergangenheit zu einer Leugnung der Realität der Gegenwart. Wird es nicht langsam Zeit, sich mit ihr zu beschäftigen?Placeholder infobox-1
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