Barenboim-Said-Akademie und der Nahostkonflikt: Musik ist auch keine Lösung
Klassik Alumni der Barenboim-Said-Akademie in Berlin-Mitte relativieren den Terror der Hamas. Aber könnten – und sollten – kulturelle Orte nicht der Verständigung dienen?
Konnte immerhin musikalisch anzeigen, wo’s langgeht: Daniel Barenboim bei einem Konzert im Pierre-Boulez-Saal
Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa
Es wäre zu schön, um wahr zu sein: Musik als Möglichkeit, die Welt ein wenig besser zu machen. Musik als Raum, in dem sich gegensätzliche Weltbilder im Geiste Mozarts oder Beethovens vereinen. Gerade in einer Welt der unlösbaren Konflikte scheinen unsere Hoffnungen auf die Musik in einem Maße zu wachsen, wie sich das Gefühl unserer Verlorenheit ausbreitet.
Seit vielen Jahren predigt der Dirigent Daniel Barenboim diese Hoffnung. Dabei warnte Barenboim stets davor, die Harmonie als Zustand des Gleichklanges misszuverstehen. Harmonie beinhalte für ihn stets die Dissonanz als selbstverständliches Spannungsfeld. Erst die Allgegenwart der Reibung erhebe Musik in Zeiten von Konflikten zur Basis eines konstruktiven Dialoges. Eine Idee, die auch dem West
dem West Eastern Divan Orchestra zu Grunde liegt: Reibung als Möglichkeit, die Perspektive von Juden, Christen und Muslimen im Dialog zu verschieben.So weit die Theorie.Seitdem Hamas-Terroristen am 7. Oktober israelische Kinder brutal getötet, Frauen auf barbarische Weise misshandelt und Menschen kaltblütig ermordet und verschleppt haben, und seit Israel in Gegenwehr den Gazastreifen in Schutt und Asche legt, scheint die Hoffnung vieler Menschen auf die heilende Kraft der Musik noch größer zu sein. Die Erwartungen an Institutionen wie das West Eastern Divan Orchestra oder die Barenboim-Said-Akademie, die der argentinisch-israelische Dirigent gemeinsam mit dem palästinensisch-US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Edward Said in Berlin gegründet hat, sind unerfüllbar hoch. An der Akademie werden Studierende aus Israel, den Palästinensichen Autonomiegebieten, dem Libanon, Ägypten und der Türkei unterrichtet. Ein musikalisches Pionierprojekt, das von derBeauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und dem Auswärtigen Amt gefördert wird.Ein Alumni schreibt: „Hamas bekämpft seine Besetzer“Konzerte des Akademie-Orchesters werden derzeit wie heilige Offenbarungen gefeiert. Die Süddeutsche Zeitung spricht bei Auftritten von einem „Wunder“, und Michael Barenboim, Sohn des Dirigenten und Leiter des Orchesters, wird als lebender Messias vorgestellt: „Wie er die Augen schließt, die Geige in der einen Hand, wie er schwer in diese geladene Luft ausatmet, wie er sich mit der anderen Hand über das junge, traurige Gesicht streicht. Dann zieht er die Brauen hoch und mit einem Blick dirigiert er wortlos die Runde.“ Das ist selbst für Kriegszeiten sehr viel Pathos.Worüber nationale und internationale Zeitungen kaum berichtet haben, waren Posts von Alumni der Akademie. Da forderte eine Studierende alle in Deutschland lebenden Ausländer auf, deutsche Geschäfte zu boykottieren, „aus Solidarität mit Palästina“. Ein anderer Post zeigte das Bild eines kämpfenden Palästinensers mit den Worten: „Seht, wie man das Fleisch von Menschen, aber nicht ihren Geist brechen kann.“ Ein Alumni relativierte und rechtfertigte den Terror der Hamas auf Facebook: „Hamas bekämpft seine Besetzer, seine Kolonialisten, seine Unterdrücker, die seit fast 100 Jahren Straftaten an Palästinensern begehen, die 100 Mal schlimmer sind als die Taten vom 7. Oktober.“Carsten Siebert, Kanzler der Akademie, erklärt in einem Telefonat, sämtliche Äußerungen seien vom demokratischen Diskurs gedeckt. Dann schickt er eine Mail hinterher: „Alle Menschen in diesem Land haben zum Glück das Recht, sich frei zu äußern. Wir sind als Hochschule sogar in besonderer Weise zum Schutz und zur Pflege dieser Rechte verpflichtet.“ Das Gleiche gilt wohl auch für einen Professor der Akademie, der Deutschland auf seinen Social-Media-Kanälen als „neue DDR“ oder als „einen vom Ministerium für Staatssicherheit geführten Menschenzoo“ interpretiert.Claudia Roth hofft auf respektvollen UmgangAuch Kulturstaatsministerin Claudia Roth, aus deren Etat die Akademie ja mitfinanziert wird, will weiter an die friedensstiftende Wirkung der Musik glauben. Ein Sprecher lässt auf Anfrage wissen: „Wir haben Vertrauen in die Akademie, dass sie diese Debatten unter ihren SchülerInnen, LehrerInnen und Mitarbeitenden respektvoll führt. Keinen Zweifel haben wir, dass sich die Barenboim-Said-Akademie gegen Antisemitismus und Rassismus positioniert und dies auch zum Selbstverständnis aller dort gehört.“Doch welche Bedeutung haben Konzerte mit Paul Hindemiths Trauermusik, wenn sie von bluttriefenden Insta-Posts begleitet werden? Stehen sie nicht im Widerspruch zu Daniel Barenboims Hoffnung auf gegenseitiges Verständnis durch die Erfahrung der Musik?Die israelische Sängerin Chen Reiss singt derzeit in London, auch sie möchte sich den Glauben an die friedensbringende Kraft der Musik nicht nehmen lassen. Sie argumentiert ähnlich wie Daniel Barenboim und gibt ein Beispiel aus dem Privatleben: „Wenn meine Töchter sich streiten, frage ich nicht, wer angefangen hat oder wer schuld ist. Ich suche lieber nach einer spannenden Bastelarbeit. Wenn die beiden dann gemeinsam an einem ganz anderen Ziel arbeiten, löst sich der Streit schnell auf und ist schon bald vergessen.“Aber ist diese Idee, der ja auch die Barenboim-Said-Akademie folgt, am Ende nicht nur eine Form des Eskapismus? Was bedeutet es, wenn Musik zur Ablenkung wird, der Frieden auf ein anderes Feld verschoben und die grundlegende Geisteshaltung der Mitwirkenden tabuisiert wird? Wenn die Musik nicht dem Dialog dient, sondern den Raum des Schweigens lediglich mit Klang füllt? Gleicht ein Konzert dann nicht einem dieser unsäglichen Weihnachtsfeste, bei dem die Mutter und der Onkel um des lieben Friedens willens die Bockwurst und den Kartoffelsalat in sich hineinstopfen, einige Gläser Wein trinken, sich für einige Stunden nicht anblaffen, um dann auf dem Heimweg wieder aufeinander loszugehen?Das offizielle gemeinsame Statement der Musikerinnen und Musiker der Barenboim-Said-Akademie bleibt ebenfalls indifferent: „Möge unsere Musik uns zusammenführen, möge sie einen kleinen Teil unserer Herzen heilen. Letztendlich können wir nichts Anderes tun, als auf Frieden, Freiheit und Sicherheit für alle zu hoffen.“Daniel Barenboim war klar in seinem EngagementDer Frieden wird hier nicht als eigener Auftrag formuliert, sondern als Hoffnung auf die Welt da draußen ausgelagert. Die Musikerinnen und Musiker machen Musik und entziehen sich gleichzeitig der Verantwortung als politisch handelnde Menschen. Die Musik ist hier also keine Offenbarung der „Harmonie in Dissonanz“ mehr, kein friedlicher Kampfplatz der Weltanschauungen, sondern ein klingendes Trostpflaster, das jeder nach seinen eigenen Bedürfnissen aufkleben kann.Die Musik wird zum ästhetischen Äquivalent des Cocooning-Effekts: In turbulenten Zeiten entfliehen wir den Weltproblemen in den Mikrokosmos unserer Familien und unserer Sofagarnituren. Aber wäre es nicht wichtiger, in konkreten Worten zu verhandeln, Lösungen aus der Musik heraus für die Realität unserer Welt zu finden? Oder anders: Wenn die Musik mehr als gut gepolsterter Eskapismus sein will, muss sie ihre Form der Kommunikation dann nicht auch mit der Kommunikation der Realität unserer Welt verbinden? Daniel Barenboim hat das übrigens stets getan, etwa in seinem Einsatz für eine Zwei-Staaten-Lösung im Nahen Osten. Dass seine eigene Akademie jetzt schweigt, ist auch eine Flucht vor den eigenen Ansprüchen.Natürlich sind Stillstands-Momente durch Kultur auch heilsam und wichtig, gerade in Kriegszeiten. Kunst und Kultur werden so zur wertvollen Auszeit von der Wirklichkeit, zu einer Atempause und zu einer Möglichkeit zum Durchatmen, zur neutralen Schweiz in einem turbulenten Weltgeschehen. Doch dieser Urlaub von der Wirklichkeit hat nur wenig mit dem großen Narrativ der Konfliktlösung durch Musik zu tun.Auch die Musik-Mär des Dirigenten Teodor Currentzis funktioniert nach dem Prinzip, dass der Künstler sich aus jeglicher Haltung verabschieden kann, solange die Musik spielt. Der griechische Dirigent, der nach der Annexion der Krim noch die russische Staatsbürgerschaft annahm, versteht das Musizieren offensichtlich als Ersatz für eindeutige Positionierungen zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Aber ist das Unkonkrete der Musiksprache nicht lediglich eine Ablenkung, sich der Konfrontation (und damit der nötigen Argumentation) zu entziehen? Ist es nicht naiv, zu glauben, dass die Musik ein Raum ist, in dem politische Propaganda nicht eindringt?Romantisierung bringt nichtsEs ist doch klar, dass ein Verdi-Requiem – und erst recht ein historisch aufgeladenes Werk wie die 13. Symphonie von Dimitri Schostakowitsch, die das Massaker an den Juden von Babyn Jar (bei Kiew) thematisiert – in Moskau anders verstanden wird als in Berlin oder Barcelona. Natürlich bezieht Russland die Friedensbotschaft auf sich und legitimiert durch das Konzert seinen Angriff auf die „faschistische Ukraine“, während die Europäische Union zu gleicher Musik die Verteidigung der Ukraine legitimiert. Musik findet nicht in einem Paradies der Kunst statt, in das die Erkenntnis der Politik noch nicht eingedrungen ist. Kultur entbindet den Menschen nicht von seiner Verantwortung zur Positionierung.Zumal stets die Frage gestellt werden muss, wer eigentlich die Weihnachtsgans zum Friedensfest bezahlt. Auf der einen Seite wird das Orchester MusicAeterna von Teodor Currentzis weiterhin von der in Europa sanktionierten VTB-Bank finanziert, auf der anderen Seite kassiert Currentzis als Chefdirigent Rundfunkgebühren vom SWR. Gerade weil die Musik so gern als klingende Schweiz des Weltgeschehens auftritt, wäre es absurd, anzunehmen, dass sie nicht selbst als politischer Spielball benutzt wird.Ja, wir brauchen die Musik als geschützten Raum, als Flucht vor der Wirklichkeit, als Möglichkeit zum Durchatmen, als Erkenntnisort, dass sie es schaffen kann, Gegensätze kurzfristig zu verdrängen. Und auch als Trost taugt das Konzert. So wie neulich bei Igor Levit und seinen Gästen in ihrer Veranstaltung gegen Antisemitismus am Berliner Ensemble. Hier diente die Musik dem Zusammenkommen, dem schlichten Dasein – und: der seelischen Vergewisserung und Heilung.Eine Romantisierung der Kultur als Vorbild für reale Friedensprozesse bleibt dagegen solange unglaubwürdig, wie sie Positionierungen von Kulturschaffenden und Kulturinstitutionen in der Weltwirklichkeit verweigert. Erst, wenn die Okkupation der Kultur durch politische Propaganda ebenso angeklagt wird wie jeder Verstoß gegen humanistische Werte und den Geist der Empathie, kann die Musik jenen konkreten und kultivierten Dialog beflügeln, der uns auf allen Seiten gerade so schwer fällt.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.