Identifikation von getöteten Menschen vor der Al-Shifa-Klinik
Foto: Mohammad Abu Elsebah/picture alliance/dpa
In einem abgedunkelten Operationssaal im größten Krankenhauskomplex des Gazastreifens wickeln Mitarbeiter Dutzende Frühgeborene in Bettlaken. Es ist der verzweifelte Versuch, die Säuglinge warm und damit am Leben zu halten. Ohne Sauerstoffversorgung, ohne Strom für die Inkubatoren müssen die Schwestern zudem Babys versorgen, die aus der Station für Neugeborene in einen anderen Teil des weitläufigen Al-Shifa-Komplexes verlegt werden. Allein der Transport ist eine potenziell tödliche Mission, sobald es Angriffe gibt.
„Die Neugeborenenstation ist nicht mit den chirurgischen Einheiten innerhalb des medizinischen Komplexes Al-Shifa verbunden, deshalb die Verlegung trotz der damit verbundenen Gefahr“, sagt Marwan Abu Sada, Leiter der Chirur
der Chirurgie. Diese galt einst als Herzstück des Gesundheitssystems in Gaza. „Wir haben das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und die Israelis angerufen, um sicherzustellen, dass die Babys aus der Neugeborenenstation in den Operationsbereich gelangen“, so Abu Sada.39 Säuglinge überlebten den Transfer, doch habe sich ihr Zustand zuletzt permanent verschlechtert. „Wir haben heute das Leben eines Kindes verloren, gestern waren es zwei. Ich fürchte, dass zu guter Letzt alle nicht zu retten sind“, klagt der Arzt. Das Al-Shifa-Hospital verfüge über die größte Neugeborenenstation in Gaza. Man könne sich nirgendwo anders um die Säuglinge kümmern, was eine Evakuierung ausschließe. „Uns sind die Hände gebunden, wenn nicht einmal mehr ein Generator betrieben werden kann.“Jedes Krankenhaus in Gaza-Stadt hat um sein Überleben gekämpft. Nur eines davon, der Al-Shifa-Komplex, ist zu Wochenbeginn noch in der Lage, täglich Hunderte von Verwundeten aufzunehmen. „Es ist für das Personal schon extrem gefährlich, nur aus dem Fenster zu schauen“, beschreibt Doktor Abu Sada die Situation. Aus Angst vor Scharfschützenfeuer habe man gut 600 Patienten weg von den Fenstern in Korridore tiefer im Inneren des Krankenhauses verlegt. Dies sei nötig, seit israelische Panzer näher kamen und einen Anbau der Intensivstation trafen.Arzt im Al-Shifa-Krankenhaus: „Wir müssen hierbleiben, wir sind ethisch verpflichtet, Patienten zu behandeln“Gesundheitsministerin Mai al-Kaila – sie sitzt in Ramallah und ist für die Westbank zuständig – berichtet, dass ständiger Beschuss die Kliniken in Gaza daran hindere, verwesende Leichen auf ihrem Terrain einzusammeln. Man komme schlichtweg nicht hin. Ein erhebliches Risiko, abgesehen davon, dass streunende Hunde die Körper zerreißen würden. Krankenwagen seien nicht mehr in der Lage, Verletzte aufzunehmen. Wenn sie dazu noch fähig seien, müssten sich die Menschen selbst helfen. Doktor Abu Sada bestätigt das. Einem Mann mit einer Schussverletzung sei es gelungen, zu Fuß auf das Al-Shifa-Gelände zu fliehen – einem anderen habe man in die Brust geschossen. „Es sind schreckliche Zustände für das gesamte Personal, das in ständiger Angst vor Beschuss und Bomben lebt. Aber wir müssen hierbleiben, wir sind ethisch verpflichtet, Patienten zu behandeln. Wir können nicht gehen. Und wohin sollten wir auch?“Die Weltgesundheitsorganisation WHO teilte am frühen Sonntag mit, dass sie die Kommunikation mit Kontaktpersonen im Al-Shifa-Krankenhaus verloren habe. „Letzten Berichten zufolge waren vor den Gebäuden Panzer aufgefahren. Das Personal berichtete uns zuletzt von Mangel an sauberem Wasser und der Gefahr, die noch intakten Beatmungsgeräte auf der Intensivstation ebenfalls einzubüßen, wodurch das Leben von Patienten akut gefährdet sei“, vermeldet die WHO.Wenn die Israelis verlangen, auch aus den Krankenhäusern müssten Menschen in den Süden evakuiert werden, kommt das für Patienten in kritischem Zustand einem Todesurteil gleich. Es kann bedeuten, sie auf der Straße sich selbst überlassen zu müssen. „Dies ist keine Evakuierung, sondern eine Vertreibung mit vorgehaltener Waffe“, findet Doktor Abu Sada. Die israelische Armee (IDF) hat wiederholt behauptet, der Gegner operiere von Bunkern aus, die unter dem Al-Shifa-Gelände lägen. Von der Hamas sowieso, aber auch vom Krankenhauspersonal wird das energisch dementiert.Jordanische Luftwaffe wirft Medikamente über Gaza abOberst Moshe Tetro von der Gaza-Koordinierungseinheit der IDF bestreitet den Beschuss des Krankenhauses. Man könne nicht einmal von Belagerung sprechen. Es lasse sich aushandeln, dass Menschen die Gebäude sicher verlassen können. Inzwischen hat das Rote Kreuz nochmals festgestellt, dass es sich bei Hospitälern um Einrichtungen handle, denen nach dem humanitären Völkerrecht ein besonderer Schutz gelte. Das sei nicht nur eine rechtliche Verpflichtung, sondern ein moralisches Gebot, um in schrecklicher Zeit menschliches Leben zu bewahren.Gegenwärtig jedoch ist es wegen des Zustandes der medizinischen Infrastruktur in Gaza nicht einmal mehr möglich, die tägliche Zahl der Todesopfer zu aktualisieren. Sie liegt mittlerweile bei mehr als 11.000 Menschen, sei aber mutmaßlich viel höher, teilt Barbara Leaf, ranghöchste Nahost-Beamtin des US-Außenministeriums, mit.Hilfe kommt von der jordanischen Luftwaffe, die weitere Notabwürfe von Medikamenten und Equipment für ein Feldlazarett in Gaza riskiert hat. Das Al-Quds-Krankenhaus in Gaza-Stadt, in dem geschätzt 14.000 Menschen behandelt werden oder Zuflucht gesucht haben, hat hingegen kapituliert und musste seine Dienste einstellen. Was der Palästinensische Rote Halbmond bestätigt, Al-Quds sei „nicht mehr betriebsbereit“. Weiter heißt es: „Das Krankenhaus war bei anhaltender israelischer Bombardierung sich selbst überlassen und in großer Gefahr.“ Das galt für Ärzte und Schwestern, für Patienten und Zivilisten.Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) hat daraufhin den Schutz für sämtliche Krankenhäuser im Gazastreifen gefordert. „Der Strom ist für eine Klinik eine Lebensader. Wir wissen, dass Patienten ohne Strom sterben. Wenn jetzt nicht gehandelt wird, wenn wir dieses Blutvergießen nicht sofort durch einen Waffenstillstand stoppen, werden diese Krankenhäuser zu Leichenschauhäusern.“ Es gebe ein „vom israelischen Militär unterzeichnetes Todesurteil gegen Zivilisten, die derzeit im Al-Shifa-Hospital gefangen sind“.
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