Amazon in Saudi-Arabien: Prekäre Beschäftigung und womöglich Arbeitskräftehandel
Ausbeutung Externe Arbeitskräfte in Amazon-Warenlagern in Saudi-Arabien berichten von betrügerischer Anwerbung und miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen
Momtaj Mansur wollte nur noch zurück nach Hause, zu seiner Mutter und seinem Bruder und den Weiden der Ebenen im Süden Nepals. Er habe sich wie ein Gefangener gefühlt, sagt er, in einer schäbigen Schlafbaracke in Saudi-Arabien, ohne Arbeit, hungrig und hoch verschuldet. Der 23-Jährige war 2021 in die saudi-arabische Hauptstadt Riad gekommen, um für eins der größten Unternehmen der Welt zu arbeiten: Amazon.
Doch die Realität seines vermeintlichen Traumjobs waren niedrige Bezahlung und elende Lebensumstände. Bei Amazon musste er sich von Vorarbeitern beschimpfen lassen. Er war ihnen zu langsam, während er durch ein riesiges zweistöckiges Lagerhaus hetzte, um iPhones und andere von Kunden auf der arabischen Halbinsel bestellte Artikel
ein riesiges zweistöckiges Lagerhaus hetzte, um iPhones und andere von Kunden auf der arabischen Halbinsel bestellte Artikel zusammenzusuchen.Im Mai vergangenen Jahres dann wurden er und viele seiner nepalesischen Arbeitskolleg:innen plötzlich aus ihren Jobs bei Amazon entlassen. Sie befanden sich fast 3.900 Kilometer von zu Hause entfernt, ohne Einkommen und mit wenig zu essen.Mansur wandte sich an das saudi-arabische Vermittlungsunternehmen, bei dem die Arbeiter:innen unter Vertrag standen und das sie als Zeitarbeiter:innen bei Amazon platziert hatte. Wenn es keine Arbeit mehr gebe, solle man sie nach Nepal zurückkehren lassen, forderte er.Doch die saudi-arabische Firma stellte Mansur vor eine für ihn dramatische Wahl. Entweder konnte er an einem Ort bleiben, der für ihn „wie eine Hölle“ war, oder seine Familie zu Hause in Nepal noch weiter in die Armut treiben: Für den vorzeitigen Ausstieg aus dem Vertrag verlangte die Agentur eine Strafgebühr in Höhe von 1.300 US-Dollar (1.220 Euro).„Quälen Sie uns nicht so“„Ich sagte zu ihnen: Töten Sie uns oder schicken Sie uns nach Hause, aber quälen Sie uns nicht so“, erzählt er. Momtaj Mansur ist einer von Dutzenden aktuellen und früheren Arbeiter:innen, die Arbeitsvermittlern in Nepal und Leiharbeitsfirmen in Saudi-Arabien Betrug und Ausbeutung vorwerfen und die harten Arbeitsbedingungen in Amazon-Warenlagern beklagen.Ihre Berichte zeigen, wie große US-amerikanische Unternehmen direkt oder indirekt von Beschäftigungspraktiken profitieren, die möglicherweise auf Arbeitskräftehandel hinauslaufen. Der Definition nach ist das der Fall, wenn jemand unter Anwendung von Gewalt, Nötigung oder Betrug zu Arbeit oder Dienstleistungen bewogen wird.48 von 54 der für diesen Artikel interviewten nepalesischen Arbeiter:innen gaben an, irregeführt worden zu sein, indem Arbeitsvermittler ihnen fälschlich eine Direktanstellung bei Amazon versprachen. Alle 54 berichteten, sie hätten Anwerbungsgebühren zwischen rund 830 und 2.300 US-Dollar (780 und 2.016 Euro) gezahlt. Das ist deutlich mehr, als in Nepal erlaubt ist.Laut Angaben der Arbeiter:innen erhielten sie nur einen Bruchteil dessen, was direkt bei saudi-arabischen Amazon-Warenlagern angestellte Mitarbeiter:innen verdienen, da die Arbeitsvermittler einen Großteil des Geldes einbehalten, was Amazon für ihre Arbeit bezahlt.Amazon räumt Missstände einWie Mansur berichteten insgesamt 20 Arbeiter:innen davon, dass nach Ende ihrer Arbeitszeit bei Amazon die Vermittlungsfirmen versuchten, noch mehr Geld aus ihnen herauszupressen. Sie hätten dafür die saudi-arabischen Gesetze ausgenutzt, die den Arbeitgebern weitreichende Macht über die Kontrolle der Freizügigkeit ausländischer Arbeitnehmer:innen geben. Eine frühzeitige Rückkehr nach Nepal wurde an eine Gebühr geknüpft, die oft mehrere Monatslöhne betrug. „Wir haben bereits Geld dafür bezahlt, hierherzukommen. Und jetzt müssen wir noch mehr Geld bezahlen, um zurückzukehren?“, klagte ein Arbeiter. „Wir haben das Gefühl, in der Falle zu sitzen.“In einer schriftlichen Stellungnahme zu Fragen für diesen Artikel räumte Amazon Missstände bei der Behandlung einiger Arbeiter:innen in ihren saudi-arabischen Warenlagern ein. „Sichere, gesunde und faire Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, ist in allen Ländern, in denen wir arbeiten, eine Voraussetzung für die Zusammenarbeit mit Amazon. Wir sind äußerst besorgt darüber, dass einige unserer Vertragsarbeiter in Saudi-Arabien nicht nach den von uns festgelegten Standards und mit der Würde und dem Respekt behandelt wurden, die sie verdienen“, hieß es in dem Statement. „Wir schätzen ihre Bereitschaft, sich zu äußern und von ihren Erfahrungen zu berichten.“Amazon versprach dafür zu sorgen, dass bezahlte Anwerbungsgebühren zurückerstattet werden. Das Unternehmen „sei dabei, strengere Kontrollen einzuführen“, um „ähnliche Vorfälle zu verhindern und generell die Standards für Arbeiter in der Region zu verbessern“. Dazu gehöre auch, „dass wir unsere externen Dienstleistungsanbieter verstärkt zu Arbeitsrechtsstandards schulen, mit besonderem Augenmerk auf Anwerbung, Löhne und Betrug“.Potenzieller Handel mit ArbeitskräftenIn Interviews schilderten die befragten Arbeiter unlautere Praktiken bei Amazon und den beteiligten Arbeitsvermittlern. Zur Untermauerung legten sie Fotos, Videos und Hunderte von Dokumenten vor, darunter Pässe, Arbeitsverträge, Flugtickets, Ankunftsdokumente, Amazon-Ausweise, Gehaltsabrechnungen, Arbeitserlaubnisse, Krankenakten und Screenshots von internen Chat-Nachrichten. Mehrere frühere Mitarbeiter gaben ihre Aussagen offiziell zu Protokoll. Einige frühere und aktuell noch Beschäftigte baten aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen darum, ihren Namen nicht zu nennen.Die Befragten beschreiben Praktiken, die nach US-amerikanischen Recht und UN-Standards als Anzeichen für Arbeitskräftehandel gelten. Dazu gehören etwa, Arbeitnehmer missbräuchlichen Arbeits- und Lebensbedingungen aussetzen, ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken und falsche Versprechungen über Löhne, Arbeitsbedingungen und darüber zu machen, wer der Arbeitgeber ist. Nach UN-Standards dürfen private Arbeitsagenturen auch niemals Gebühren oder andere Zahlungen verlangen. Die Anwerbung ist vom Arbeitgeber zu bezahlen.Die von den Warenlagerarbeitern beschriebenen Praktiken verstoßen auch gegen Amazons eigene Beschäftigungspolitik. 2022 erklärte der Online-Händler, dass seine Standards „die besondere Schutzbedürftigkeit in- und ausländischer Arbeitsmigranten anerkennen“ und „klarstellen, dass von den Arbeitnehmern zu keinem Zeitpunkt des Anwerbungsprozesses Gebühren verlangt werden dürfen“.Arbeiter suchen nicht die volle Schuld bei AmazonLaut eigenen Angaben hat auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International die Lage nepalesischer Arbeiter in den Amazon-Filialen in Saudi-Arabien unter die Lupe genommen. In Zusammenarbeit mit einer weiteren NGO befragte Amnesty 22 Arbeitskräfte, die von missbräuchlichen Praktiken berichteten, etwa hohen Anwerbungsgebühren und Falschaussagen zu ihrer Beschäftigung.Laut Ella Knight, die in London für Amnesty zu Arbeitsrechtsfragen recherchiert, konfrontierte die Organisation Amazon im Juni mit den Vorwürfen und reichte im August ausführlichere Berichte über die Ergebnisse ihrer Nachforschungen nach. Knight hält es für wahrscheinlich, dass die Nachforschungen von Amnesty und die davon unabhängige Investigation der Medien zu Amazons Entscheidung beitrugen, öffentlich zu versprechen, strengere Kontrollen einzuführen und dafür zu sorgen, dass Arbeiter ihre Anwerbegebühren zurückbekommen.Einige der nepalesischen Arbeiter wollen nicht die volle Schuld bei Amazon suchen. Ohne Arbeitsvermittlungsfirmen zwischen ihnen und den globalen Unternehmen wäre die Situation vielleicht akzeptabel, argumentieren sie. Ein Arbeiter, der noch für das Unternehmen arbeitet, wünschte sich, dass Amazon-Gründer Jeff Bezos weiß, dass er unter dem aktuellen Konstrukt leidet, aber „bereit wäre, überall hinzugehen, um für Amazon zu arbeiten, wenn es eine Direktanstellung wäre“.Ein ehemaliger Arbeiter dagegen hatte eine andere Botschaft für Bezos, der als drittreichster Mensch der Welt gilt, und 2021 versprach, Amazon zum „besten Arbeitgeber der Welt“ zu machen. „Sie sind durch unsere Arbeit in dieser Position. Sie wären nicht in dieser Position ohne die Anstrengungen der Arbeiter und Helfer aus Nepal, den Philippinen, Bangladesch, Pakistan und anderen. Aber Sie ignorieren die Belange der Arbeiter.“Nepal – eines der ärmsten Länder der WeltLaut mehreren Interviewten wussten die Amazon-Führungskräfte von vielen Problemen der Arbeiter in Saudi-Arabien. Sie hätten sich sowohl bei der Leitung von Warenlagern als auch bei den Personalagenturen über niedrige oder ausstehende Löhne, schlechte Unterbringung und die Belastung durch die Arbeit beklagt. „Sie wissen alles über unsere Lage und unser Leid“, ist Amir Yadav überzeugt, der von 2021 bis 2023 in Amazon-Vertriebszentren in Saudi-Arabien beschäftigt war.Laut Amazon waren es „unser Lieferketten-Prüfverfahren und unsere eigene Untersuchung in Saudi-Arabien, die Verstöße gegen unsere Standards aufdeckten“, die das Unternehmen dazu brachte, etwas gegen die Missstände zu tun. Das Unternehmen verwies auf „eine große Bandbreite an Möglichkeiten für Arbeiter in unseren Warenlagern, Probleme zu melden, darunter eine anonyme 24-Stunden-Hotline.“Amazon machte 2017 einen großen Schritt nach Saudi-Arabien und kaufte den in Nahost tätigen Einzelhandelsriesen Souq.com. Später nannte das Unternehmen das saudi-arabische Geschäft von Souq.com in Amazon.sa um und stockte die Mitarbeiterzahl auf, indem es Arbeitskräfte aus Pakistan, Indien, Bangladesch und Nepal ins Land holte. Derzeit beschäftigt Amazon in Saudi-Arabien fast 1.500 permanente und saisonale Arbeitskräfte.Da Nepal eins der ärmsten Länder Asiens ist, werden dort seit Langem viele Arbeitskräfte fürs Ausland rekrutiert. Bei der Volkszählung 2010/2011 gab mehr als die Hälfte der Haushalte im Land an, Geld von im Ausland arbeitenden Familienmitgliedern zu erhalten. 2021 machten Rücküberweisungen aus dem Ausland fast ein Viertel des nepalesischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus.Arbeiten bei einer der größten Marken der WeltMansur hatte sich verpflichtet gefühlt, ins Ausland zu gehen. Seine Familie lebt von rund 300 US-Dollar (281 Euro) Einkommen im Monat sowie Reis, Weizen und Saat-Platterbsen, die sie auf 4.000 Quadratmeter Land anbauen, die sie sich mit den Familien seiner Onkel teilen.Viele nepalesische Arbeiter haben Horrorgeschichten über schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen von Familienmitgliedern oder Nachbarn im Ausland gehört. Sie wissen, dass sie bei manchen Ländern und Arbeitgebern vorsichtig sein müssen und am besten eine Direktanstellung suchen, anstatt sich bei einer Leiharbeitsfirma zu verdingen. Doch die weltweite Immigrations- und Arbeitspolitik ist häufig so gegen sie angelegt, dass sie am Ende doch ausgebeutet werden. In einer Umfrage von 2017 im renommierten britischen medizinischen Magazin BMJ gaben die meisten nepalesischen, im Ausland arbeitenden Männer an, „in allen Phasen des Migrationsprozesses Ausbeutung zu erleben“. Die Hälfte berichtete, Ziel betrügerischer Anwerbungspraktiken gewesen zu sein. „Arbeit im Ausland ist für alle eine Falle“, meinte ein nepalesischer Arbeiter, der derzeit für ein Amazon-Warenlager in Saudi-Arabien arbeitet. „Egal, wie clever du bist; am Ende ziehen sie dich über den Tisch.“Diese Bedingungen zwingen Arbeitsmigranten dazu, trostlose Rechnungen anzustellen: Es geht nicht darum, den besten Arbeitsplatz zu finden, sondern den mit den wenigsten schlechten, bei dem man noch genug verdient, um den Umzug und die damit verbundenen Belastungen wettzumachen.Als ein Agent von Rove International, einer nepalesischen Arbeitsvermittlungsfirma in Kathmandu, ihm einen Job bei Amazon anbot, recherchierte Mansur. Er kam zu dem Schluss, dass eine große amerikanische Firma wie Amazon anders sein könnte als die missbräuchlich agierenden Firmen, auf die viele Arbeitsmigranten treffen. Weil er weiß, dass „Agenten Lügen erzählen“, habe er mehrfach nachgefragt, ob es um Leiharbeit gehe. Der Agent „versicherte mir, dass es sich um eine Direktanstellung bei Amazon handele, die mein Leben verändern würde“, erzählt Mansur.Horrende AnwerbegebührenEs überraschte ihn, als Rove International eine Anwerbegebühr von rund 2.300 US-Dollar von ihm verlangte, insbesondere weil er wusste, dass die nepalesische Regierung den Betrag für nach Saudi-Arabien ausreisende Arbeiter bei 85 US-Dollar (knapp 80 Euro) deckelt. Sechs weitere Nepalesen bestätigten, dass Rove International von ihnen ebenfalls mehr als 1.000 US-Dollar (940 Euro) für Arbeitsplätze in Saudi-Arabien berechnete.Eine detaillierte Frageliste zu diesem Artikel beantwortete Rove International nicht. Als ein Reporter das Büro der Firma aufsuchte, sagte ein Unternehmensvertreter: „Wir haben alle gesetzlichen Vorgaben der Regierung befolgt und diese Arbeiter wussten, wo und wie sie arbeiten würden.“Nepalesische Arbeiter, die nach Saudi-Arabien gehen, sind besonders gefährdet, weil die nepalesische Regierung es versäumt hat, ihre Politik durchzusetzen, die es Anwerbeagenturen verbietet, hohe Gebühren zu verlangen. Da sind sich das nepalesische Parlament, der Oberste nepalesische Gerichtshof und das US-Außenministerium einig.Arbeiter, die in einigen arabischen Ländern Arbeit suchen, sind auch durch das Kafala-System gefährdet – ein Geflecht von Arbeits- und Einwanderungsgesetzen, das den Arbeitgebern eine „beinahe vollständige Kontrolle“ über die Beschäftigung und den Einwanderungsstatus von Wanderarbeitern ermöglicht, wie die DenkfabrikCouncil on Foreign Relations erklärt. In Saudi-Arabien und anderen Ländern, in denen es noch Formen des Kafala-Systems gibt, fürchten viele ausländische Arbeiter, dass sie bestraft werden, wenn sie einen Arbeitgeber verlassen.Ankunft mit unangenehmen ÜberraschungenIm September 2021, nachdem er einen Kredit für seine Anwerbegebühr aufgenommen hatte, fuhr Mansur aus seinem Heimatort nach Kathmandu und stieg in einen Jazeera-Airways-Flug. Es war sein erster Flug und seine erste Reise ins Ausland.Als sie in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad ankamen, wurden Mansur und weitere Arbeiter von Amazon-Vertretern abgeholt – jedenfalls dachte Mansur das. Die Männer forderten ihn und die anderen auf, einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben, aber erlaubten ihnen nicht, die Papiere zu lesen. Laut Mansur wurde ihnen gesagt, wer nicht unterschreibe, bekäme keinen Platz zu schlafen und keine Arbeit. „Ich unterschrieb das Dokument, weil ich Angst hatte.“Einige Tage später erkannte Mansur, dass die Männer, die ihn am Flughafen abgeholt hatten, wahrscheinlich keine Amazon-Mitarbeiter waren. Er hatte begonnen, bei einem Amazon-Vertriebszentrum zu arbeiten und bemerkte, dass sein grünes ID-Abzeichen sich von den blauen unterschied, die viele andere Arbeiter trugen. Die Arbeiter mit den blauen Abzeichen waren direkt bei Amazon angestellt, erklärte ihm ein pakistanischer Arbeitskollege. Die mit den grünen dagegen waren gar keine Amazon-Angestellte. Sie waren Zeitarbeiter.Es stellte sich heraus, dass Mansurs eigentlicher Arbeitgeber Abdullah Fahad Al-Mutairi Co war – ein saudi-arabisches Vermittlungsunternehmen, das von der Bereitstellung von Arbeitskräften an Amazon und andere große Unternehmen profitiert. Laut den Unterlagen erteilte die nepalesische Behörde für ausländische Beschäftigung im September 2021 Mansur und 36 weiteren Nepalesen, deren Arbeitsverträge von der nepalesischen Personalvermittlungsfirma Rove International an Al-Mutairi weitergeleitet wurden, eine Arbeitserlaubnis.Die Wahrheit erfuhren sie erst nach der AnkunftVon den 54 nepalesischen Arbeitern, die für diese Geschichte befragt wurden, geben 49 an, sie hätten für Al-Mutairi gearbeitet. Einige sagen, sie hätten dies kurz vor ihrer Abreise aus Nepal erkannt, seien aber dennoch gefahren, weil sie bereits Geld für die Anwerbungsgebühren bezahlt hatten. 42 dagegen sagen, sie hätten die Wahrheit erst erfahren, nachdem sie in Saudi-Arabien gelandet waren. Die meisten hatten Kredite aufgenommen, um die hohen Anwerbegebühren zu bezahlen. Da sie kaum eine Chance sahen, diese Gebühren zurückzubekommen, mussten sie in Saudi-Arabien bleiben – und für einen Arbeitgeber arbeiten, für den sie nicht arbeiten wollten, um die Kredite zurückzuzahlen, die es ihnen ermöglichten, Jobs zu bekommen, die sie nicht mehr wollten.Zu allem Übel, so die Arbeiter, bot das Arbeitsvermittlungsunternehmen nicht die gleiche Bezahlung. Nepalesische Arbeiter verdienten in der Regel für die Tagesschicht bei Amazon rund 350 US-Dollar im Monat, wie aus Interviews mit Arbeitern sowie aus Lohnabrechnungen und Arbeitsverträgen hervorgeht, die dem ICIJ vorliegen. Im Gegensatz dazu verdienten laut mehreren nepalesischen Arbeitern Kollegen mit ähnlichen Jobs, die bei Amazon direkt angestellt waren, etwa 800 bis 1.300 Dollar im Monat. „Was soll der Mist?“, empörte sich Mansur. „Wir arbeiteten länger und härter, aber unser Lohn war viel niedriger.“Auf eine Anfrage an Al-Mutairi, die Vorwürfe zu kommentieren, regierte das Unternehmen nicht.In Amazons Statement heißt es, seit Kenntnis der Standardübertretungen arbeite man eng mit der saudi-arabischen Firma daran, „einen Plan zur Einhaltung der Vorschriften zu entwickeln, dem sie zugestimmt haben und der diese Verstöße behebt und unseren Standards entspricht. Dazu gehört, dass die Mitarbeiter nicht bezahlten Lohn erhalten und gezahlte Anwerbegebühren zurückbekommen, saubere und sichere Unterkünfte zur Verfügung gestellt werden und der Anbieter sich verpflichtet, den Schutz der Arbeitnehmer kontinuierlich zu gewährleisten.“Vom Traumjob zum AlbtraumAmazons Warenlager in Saudi-Arabien sind riesig. Das neueste Versandzentrum wurde im Mai in Riad eröffnet und hat insgesamt etwas mehr als 36.000 Quadratmeter auf fünf Etagen, mit einer Kapazität von 76.500 Kubikmetern. Gelagert werden können mehr als neun Millionen Artikel – laut Amazon genug, um dreißig olympische Wettkampfschwimmbecken zu füllen (50 Meter Länge, 25 Meter Breite und mindestens zwei Meter Tiefe).In Amazons Verteilzentren herrscht ein hohes Tempo. Sogenannte Picker durchsuchen die Stockwerke, greifen Artikel und geben sie an Packer weiter, die stundenlang am Stück stehen. Laut den Arbeitern beobachten die Manager die Picker mit Hilfe von Überwachungskameras und Scannern, die die Lagerarbeiter als „untätig“ einstufen, wenn sie die Artikel nicht schnell genug scannen. Nepalesische Arbeiter berichten, dass sie von Amazon-Vorarbeitern durch die Gänge des Lagers gehetzt werden, die „Yalla! Yalla!“ rufen – ein arabischer Ausdruck für „Beeil dich“.Laut Mansur legten er und andere Picker während einer normalen Schicht auf den verschiedenen Stockwerken ganze 14,5 Kilometer zurück. „Ich fühlte mich extrem schwach. Meine Beine schmerzten“, erzählt er. „Wenn ich nach der Schicht in die Unterkunft ging, hatte ich das Gefühl, als würde ich mit Nadeln gestochen oder barfuß auf Steinen laufen. Mein ganzer Körper tat weh.“In Stoßzeiten – wie Schlussverkauf oder vor Feiertagen – überwachte das Aufsichtspersonal die Toiletten und ermahnte die Beschäftigten manchmal, weil sie zu lange nicht in der Lagerhalle waren. „Sie wollten, dass wir bei hohem Arbeitsaufkommen keine Pausen machen“, sagt Surendra Kumar Lama, der von 2021 bis Ende 2022 in einem Amazon-Lagerhaus in Saudi-Arabien arbeitete. „Sie stellten sich in der Nähe von Toiletten und Wasserstationen auf, weil die Arbeiter Angst vor ihnen haben. Oft habe ich eine halbe bis eine Stunde gewartet, um auf die Toilette zu gehen, weil sie da waren.“Zu acht in einem verdreckten ZimmerNach den langen Arbeitstagen bei Amazon kommen die Arbeiter in von Al-Mutairi bereitgestellte Unterkünfte. Viele beklagten sich über überfüllte und heruntergekommene Zimmer, in denen Kakerlaken über den Boden krabbelten und das Wasser so salzhaltig sei, dass es Hautausschlag und Haarausfall verursache. Laut Aussage der Arbeiter schlafen und essen häufig sechs bis acht Männer in einem Raum mit Doppelstockbetten. „Wie können acht Leute in einem kleinen Raum zusammenwohnen?“, fragte Mansur. „Es gab keinen Platz für persönliche Dinge. Wir bewahrten sie auf unseren Betten auf.“In einigen Fällen gelang es Arbeitern, dafür zu sorgen, dass Amazon Al-Mutairi dazu brachte, sich um die Probleme zu kümmern. Aber die Verbesserungen hielten oft nicht lange an und der Mangel an sauberem Wasser ist laut den Arbeitern weiter ein Problem. Als sie das Wasserproblem Amazon meldeten, habe ihnen laut einem Arbeiter „Al-Mutairi gedroht: ,Wer hat sich darüber beschwert? Wir machen ihn arbeitslos!‘“Die Arbeitsvermittlungsfirma mache es den Arbeitern auch schwierig, für Beerdigungen, Geburten oder andere Familienereignisse in Nepal Auszeiten zu nehmen. In solchen Fällen gibt Al-Mutairi laut 23 derzeitigen und früheren Arbeitern zwei Möglichkeiten zur Auswahl. Entweder zahlen sie vorher eine hohe Strafsumme oder sie überzeugen einen ihrer Mitarbeiter in Saudi-Arabien, eine „Bürgschaft“ zu unterschreiben, in der sie zustimmen, eine Strafe für ihn zu bezahlen, sollte er nicht nach Saudi-Arabien zurückkehren, um seinen Vertrag zu erfüllen.Ein ehemaliger Arbeiter sagt, er habe die Geburt seines Sohnes und die Beerdigung seines Vaters verpasst, weil Al-Mutairi ihn nicht nach Hause gehen ließ. Auch nachdem er der Firma die Sterbeurkunde seines Vaters vorgelegt hatte, sagte das Unternehmen, er könne nur gehen, wenn er eine Strafe von 1.600 Dollar zahlt – mehr als vier Monatsgehälter. Das konnte er sich nicht leisten, und er konnte keinen Kollegen finden, der bereit war, für ihn zu bürgen. „Ich konnte nicht bei meinem Vater sein, als er starb. Ich konnte meinen Sohn nicht halten, als er auf die Welt kam“, klagt er. „In dieser Zeit in Saudi-Arabien habe ich nichts erreicht, aber viel verloren.“Nach Belieben einer mächtigen FirmaAn einem Nachmittag im Mai 2022, wenige Stunden vor Beginn seiner nächsten Schicht, tauchte auf Mansurs Handy eine Nachricht auf: „Dienst nicht antreten“, stand da, gefolgt von einer langen Liste von „Leuten, die bei Amazon aufhören“. Er las sie durch und fand seinen Namen. „Ich wusste nicht, warum ich entlassen wurde. Keiner wusste, warum er entlassen wurde“, sagt er. „Ich habe meine Arbeit gut gemacht.“Die Arbeiter aus Nepal kamen an den Persischen Golf mit der Erwartung, schwierige, aber geregelte Arbeit zu bekommen. Stattdessen gab es praktisch keine Job-Sicherheit. Laut den Arbeitern entlässt Amazon eine große Zahl von befristeten Arbeitskräften, wenn es weniger Bestellungen gibt – und verfolgt die Versäumnisse der Mitarbeiter, um sie als Vorwand für die Entlassung einzelner Personen zu nutzen. Zu diesen Versäumnissen kann gehören, dass sie die Zielvorgaben für die Bearbeitung von Artikeln nicht einhalten, die falschen Produkte aus den Regalen nehmen oder im Warenlager ein privates Mobiltelefon benutzen.„Jeden Tag fürchten wir, dass wir am nächsten Tag entlassen werden könnten. Wir arbeiten jeden Tag, als sei es der letzte Arbeitstag“, erzählte ein Nepalese, der derzeit in einem Warenlager in Riad arbeitet.Die Angst der Arbeiter wuchs weiter, als Amazon nach dem Diebstahl von iPhones und anderen Artikeln die Sicherheitsvorkehrungen verschärfte. Die nepalesischen Arbeiter hatten das Gefühl, die Sicherheitskräfte hätten sie besonders auf dem Kieker und brächten Anschuldigungen gegen einige von ihnen vor, um einen Vorwand zu haben, sie zu feuern. „Das Sicherheitspersonal hat so viel Macht, dass selbst die Manager den Arbeitern nicht helfen können“, meint Hem Thapa, der in mehreren Amazon-Lagern in Saudi-Arabien beschäftigt war.Sanjay Kumar Mahara, der als Picker arbeitete, sagt, er sei Anfang des Jahres fälschlicherweise des Diebstahls beschuldigt worden. Er habe versehentlich zwei Schmuckstücke aus einem Regal gezogen, während er versuchte, eine Bestellung für ein Stück zu erfüllen.Ohne Arbeit beginnt eine neue TorturEin Sicherheitsmitarbeiter hielt ihn im Gang an, durchsuchte die Tragetasche, die er benutzte, um die Artikel von den Regalen zum Packer zu tragen, fand die beiden Schmuckstücke und brachte ihn zum Manager. Während der Security-Mitarbeiter und der Manager Arabisch sprachen, was Mahara nicht versteht, versuchte er auf Englisch, seine Version der Geschichte vorzubringen.Es wurde ihm gesagt, nicht zurück zur Arbeit zu kommen, bis das Problem geklärt sei. Aber einige Tage später buchte ihm Al-Mutairi einen Flug zurück nach Nepal. „Wenn bei der Arbeit Fehler passieren, sollte Amazon die Sache untersuchen und versuchen, das Problem zu lösen“, meint Mahara. „Aber sie haben es eilig, die Arbeiter zu entlassen. Ich finde das ungerecht. Aber was kann ich tun?“Wenn sie entlassen werden oder keine Arbeit für sie da ist, so die Arbeiter, beginnt eine neue Tortur. Dann müssen sie die Unterkünfte, die für die Beschäftigten von Amazon reserviert sind, verlassen und werden in noch schlechtere Unterkünfte gebracht. Sie erhalten weder Lohn noch Essensgeld. Viele warten wochen- oder monatelang darauf, dass Al-Mutairi sie wieder bei Amazon oder einem anderen Unternehmen unterbringt. „Wenn ich auf den vergangenen Monat zurückblicke, kommen mir die Tränen“, sagte ein kürzlich entlassener Lagerarbeiter, der in Riad festsitzt. „Ich hätte nie gedacht, dass ich so leben würde.“Arbeitslose Nepalesen beschreiben ihre neue Unterkunft als „schmutzig“ und „verwahrlost“ – ein Gebäude ohne Betten und Internetanschluss. Wenn Arbeiter massenhaft entlassen werden, finden sie oft nicht einmal einen kleinen Platz zum Schlafen in dem Gebäude, weil dieser bereits von vielen anderen arbeitslosen Arbeitern belegt ist.Strafzahlungen mit hohen ZinsenMansur überlebte die Zeit dort, indem er einmal am Tag arabisches Fladenbrot aß und sich Geld von seinen früheren Kollegen lieh. An manchen Tagen, sagt er, aß er gar nichts. Als seine Freunde ihn nicht mehr unterstützen konnten und Al-Mutairi keinen neuen Job für ihn fand, bat er schließlich seine Familie, einen Kredit für die Gebühr aufzunehmen, damit er nach Nepal zurückkehren konnte.Die einzige Möglichkeit zu entkommen, sagt er, bestand darin, die geforderte Gebühr von 1.300 Dollar (1.220 Euro) als Strafe für die vorzeitige Kündigung seines Zweijahresvertrags zu zahlen – für Mansur und seine Familie eine enorme Summe. Am Ende verschuldete sich die Familie noch mehr, indem sie einen Kredit mit einem Zinssatz von 36 Prozent aufnahm. „Es war besser nach Hause zu gehen, als zu verhungern“, sagt er. Andere arbeitslose Arbeiter schlichen sich aus den Unterkünften fort und nahmen illegale, inoffizielle Jobs an.Einsamkeit, Hunger und Stress ließen bei vielen arbeitslos Gewordenen dunkle Gedanken aufkommen. Yadav erzählte, er habe seinen Job verloren, weil man ihn fälschlich des Diebstahls bezichtigte. Daraufhin weigerten sich die Manager von Al-Mutairi, ihn zurück nach Nepal gehen zu lassen, bis er drohte, „ein Video mit Beschwerden gegen die Firma aufzunehmen und sich umzubringen“.Manish Kumar Sodari ist ein weiterer Arbeiter, der in der Vergessenheit der Arbeitslosigkeit landete. Er erzählte, dass er sich tagelang um einen anderen entlassenen Arbeiter kümmerte, der davon sprach, sich aufhängen zu wollen. Bald begann er selbst, Selbstmordgedanken zu haben. „Wie kann man sich drei oder vier Monate völlig hilflos fühlen?“, fragte er im Januar einen Reporter. „Ich habe schon viel gelitten. Aber das ist die höchste Stufe.“Wieder zuhause – vorerstSodari kam nach Hause, indem er sich verhaften ließ. Er tat das mit Hilfe eines Mannes, der weiß, wie schwierig es für nepalesische Arbeiter ist, aus Saudi-Arabien wieder wegzukommen. Der Mann riet ihm, in eine bestimmte Straße zu gehen und sich dort aufzuhalten, bis ihn die Polizei aufgreift.Er erzählte der Polizei, dass er keine Arbeit und keine gültige Aufenthaltserlaubnis habe, und kam daraufhin ins Gefängnis. Dort verbrachte er zwei Wochen, erzählt er. Dann schob ihn die saudi-arabische Regierung nach Nepal ab. Nach einem kurzen Aufenthalt in seiner Heimat ging er nach Indien, um dort Arbeit zu finden.Auch der frühere Amazon-Lagerarbeiter Thapa verließ Nepal kurz nach seiner Rückkehr wieder, um einen Job in einem Bekleidungsgeschäft in Indien anzunehmen. Er musste wieder weggehen, um Arbeit zu finden, erzählt er, weil fast seine gesamten Einkünfte aus Saudi-Arabien draufgingen, um den Kredit zurückzuzahlen, den er für die Anwerbegebühr für den Amazon-Job aufgenommen hatte. „Ich konnte in Saudi-Arabien kein Geld sparen“, berichtet er. „Ich ging mit leeren Händen und kam mit leeren Händen zurück.“Mansur fühlt sich schuldig wegen der Kredite, die er und seine Familie aufgenommen haben, um ihn an den Persischen Golf und zurück nach Nepal zu bringen. Die Zins- und Rückzahlungsforderungen stapeln sich. Wenn er sie nicht bezahlen kann, befürchtet er, dass die Geldverleiher im Dorf der Familie ihr Land wegnehmen könnten. „Durch die Arbeit bei Amazon habe ich Zeit und Geld verloren. Ich habe alles verloren“, klagt er. „Ich habe meinen Körper und meine Kraft verloren … Die finanzielle Lage meiner Familie ist verheerend.“Doch wie viele Arbeitsmigranten auf der ganzen Welt wird sich Mansur nicht von einer negativen Erfahrung davon abhalten lassen, zu versuchen, einen Arbeitgeber zu finden, der ihm einen fairen Lohn zahlt und ihn anständig behandelt. Er hat schon wieder begonnen, nach einem Job im Ausland zu suchen. Er ist offen dafür, fast überall zu arbeiten – außer in Saudi-Arabien.
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