Der Preisschlächter aus China: Wie die App Temu ein Imperium des Billigshoppings aufbaute
Hyperkapitalismus Die Shopping-App Temu hat das Internet im Sturm erobert. Zu kaufen gibt es alles – vom billigen Toilettenpapierhalter bis zur Schürze, die Barthaare beim Rasieren auffängt. Doch das Käuferparadies hat eine düstere Kehrseite
Wir sollen ohne Ende kaufen – so funktioniert das Geschäftsmodell von Temu
Foto: Getty Images
Eine Lampe in Form eines Huhns. Ein Toilettenpapierhalter in Form eines lächelnden Velociraptors. Eine Schürze, die Barthaare beim Rasieren auffängt. Die Liste der ungewöhnlichen Produkte geht weiter. Unter den eher alltäglichen Produkten befinden sich Reinigungsmittel, Smartwatches, ausgefallene T-Shirts, gefälschte Turnschuhe und Grillwerkzeuge. Aber allen gemeinsam ist eines: Sie sind unglaublich billig.
Das ist Temu, die neueste chinesische Shopping-App, die das Internet im Sturm erobert und Fragen zu Wettbewerb und Warenwert aufwirft. Temu ging 2022 in den USA an den Start. Anfang dieses Jahres expandierte es nach Kanada und in den letzten Monaten in mehrere europäische Länder, nach Australien sowie nach Neuseeland. Temu hat sich schnell zu einem
l zu einem Marktführer entwickelt, der laut Online-Monitoring in mehreren Ländern die App-Charts anführt. In den USA hat er mehr als die Hälfte des Marktanteils seines größten Konkurrenten, des Fast-Fashion-Riesen Shein, erobert.Seine Anziehungskraft liegt auf der Hand. Inmitten der weltweit steigenden Inflation hat Temu durch sein scheinbar grenzenloses Angebot und seine unglaublich niedrigen Preise Kunden angezogen. Laufschuhe für Männer kosten weniger als sechs Euro, ein Avocadoschneider wird für weniger als einen Euro beworben, und ein gut bewertetes Outdoor-Zelt gibt es für nur etwas mehr als zwei Euro. Laut China Project hat sich das Unternehmen während der Black-Friday-Verkäufe im vergangenen Jahr den Spitznamen „der Preisschlächter“ verdient. Der Gesamtwert der auf der Website verkauften Produkte ist von drei Millionen US-Dollar im September 2022 auf 400 Millionen US-Dollar im April gestiegen. Doch das hat auch Kontroversen und Verbraucherbeschwerden ausgelöst.Umgeht Temu die US-Sanktionen gegen Zwangsarbeit?Temu befindet sich in einem Rechtsstreit mit dem Konkurrenten Shein in den USA. Die beiden Unternehmen haben sich gegenseitig vor US-Gerichten wegen angeblicher „kartellrechtlicher Aktivitäten“ verklagt. Shein warf Temu vor, die Verbraucher in die Irre zu führen und sie glauben zu lassen, es handele sich um dieselbe Marke. Temu wiederum beschuldigte Shein, seine Lieferanten zur Unterzeichnung von Exklusivverträgen zu zwingen, was nach Ansicht von Temu sein wirtschaftliches Wachstum behindere. Die beiden Unternehmen haben die Vorwürfe zurückgewiesen. Temu wurde auch beschuldigt, die US-Sanktionen gegen Zwangsarbeit zu umgehen und Lieferanten zu schwierigen Arbeitsbedingungen zu zwingen. Wie lange kann ein solches Geschäftsmodell funktionieren?„Im Moment kümmert sich Temu nicht darum, die Gewinnzone zu erreichen“, sagt die Wirtschaftsjournalistin Ivy Yang. „Sein primärer Wettbewerbsvorteil besteht darin, Produkte so billig wie möglich zu verkaufen.“ Die Plattform konzentriere sich darauf, die Aufmerksamkeit der Kunden auf sich zu ziehen.Es gibt einen Grund, warum die App online plötzlich so allgegenwärtig zu sein scheint: Eine kürzlich durchgeführte Marktanalyse ergab, dass Temu jedes Quartal fast 500 Millionen US-Dollar in Marketing und Werbung investiert. „Das sind zwei Milliarden US-Dollar pro Jahr, um all die Social-Media-Anzeigen, Display-Banner und bezahlten Suchanfragen zu betreiben, die alle darauf ausgerichtet sind, den Kundenstamm aggressiv zu erweitern“, sagt Yang.Kunde: „Das Ganze wirkt wie ein Betrug“Einige Kunden haben die Weiterempfehlungsprämien so erfolgreich genutzt, dass sie zahlreiche Artikel bestellen konnten, ohne etwas zu bezahlen. Die Plattform fordert die Nutzer auf, „wie ein Milliardär“ einzukaufen, und macht das Erlebnis dann mit interaktiven Preisrädern und Belohnungssystemen zum Spiel. Für manche ist das abschreckend.„Das Ganze wirkt wie ein Betrug, auch wenn ich das nicht glaube“, sagt ein australischer Kunde. „Sie haben mir immer wieder Möglichkeiten aufgezeigt, mehr Gutscheine zu erhalten, aber es kam mir immer so vor, als müsste man noch etwas tun, noch einen Freund werben, bevor man endlich die versprochene Fülle erhält. Es fühlte sich an wie eine digitale Pokermaschine.“Und wie sieht es mit der Datensicherheit aus? Analysten sagen, dass Temu nicht viel mehr Nutzerdaten zu sammeln scheint als Amazon oder Ebay. Aber sie sagen auch, dass Temu in Bezug auf seine Sicherheitstests und Datensicherheit nicht transparent ist. Die App wurde Anfang des Jahres vorübergehend aus den Apple Stores verbannt, nachdem Apple festgestellt hatte, dass sie die Nutzer über die Verwendung ihrer Daten in die Irre führte, wie Politico berichtete. Laut Apple wurden die Transparenzbedenken im Juli ausgeräumt.Welche Gefahr Temu für die Lieferanten darstelltIm März wurde Pinduoduo (das chinesische Pendant zu Temu) aus den Google Play Stores entfernt, nachdem festgestellt wurde, dass es Malware enthält, die auf Android-Geräte abzielt. Außerdem wurde festgestellt, dass Pinduoduo etwa viermal so viele Anfragen nach Nutzerdaten und Berechtigungen stellt wie Temu. Die Untersuchung von Pinduoduo scheint Temu dazu veranlasst zu haben, sich von Pinduoduo und der gemeinsamen Muttergesellschaft, PDD Holdings, zu distanzieren. Temu hat seinen internationalen Hauptsitz dieses Jahr von Shanghai nach Dublin verlegt.Die Plattform funktioniert ähnlich wie Shein: Sie bietet eine scheinbar unendliche Auswahl an Artikeln direkt von Lieferanten an. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass Shein die Lieferanten direkt beauftragt, die Bestellungen auszuführen. Temu fungiert eher als eine Art Brücke, die es den Lieferanten ermöglicht, sich auf ihre Produktion zu konzentrieren, während die Plattform die Produktlisten, das Marketing und die Logistik verwaltet.„Dies hat jedoch einen Preis für die Verkäufer“, sagt Yang. „Sie geben die Kontrolle über die Preisgestaltung, die Rückgabepolitik und die langfristige Planung des Umsatzwachstums ab.“ Bei diesem Modell sei die Dauer der Zahlungen von Temu an die Verkäufer deutlich länger, und der Druck auf den Cashflow liege bei den Verkäufern und nicht bei der Plattform.Temu beansprucht zu viel Frachtraum – dadurch steigen die Preise für den Export aus ChinaDer Aufstieg von Temu (und Shein) hat erhebliche Auswirkungen auf verschiedene Bereiche der E-Commerce-Branche gehabt. Yang sagt, dass die aggressiven Marketingausgaben von Temu in den sozialen Medien „unbeabsichtigt die Kosten für das Anzeigeninventar für alle in die Höhe getrieben haben.“Sunandan Ray, Geschäftsführer des globalen Versandunternehmens Unique Logistics, sagt, dass das enorme Versandvolumen von Temu den begrenzten Frachtraum für den Export aus China zu stark beansprucht und dadurch die Preise in die Höhe treibt. „Jeder, der auf dem Luftweg importiert, zahlt jetzt wegen des Kapazitätsverlusts einen höheren Preis“, sagt er. „Bis zu einem gewissen Grad wird das vielleicht an die Verbraucher weitergegeben, oder es drückt auf die Margen der Verkäufer.“Im Gegensatz zum allgemeinen Einzelhandel, der große Warensendungen importiert, bündelt das Logistikmodell von Temu für die USA einzelne Kundenpakete, die mit US-Versandetiketten versehen sind. Bei der Ankunft werden die Pakete als Einzelimporte akzeptiert und von den lokalen Postdiensten verteilt. Dieses Modell hat dazu geführt, dass US-Politiker dem Unternehmen vorwerfen, die sogenannten de-minimis-Regeln zu umgehen: Diese schreiben Zollerklärungen, Kontrollen und die Einhaltung von Vorschriften für Sendungen über 800 US-Dollar vor.Im Juni beschuldigte ein Bericht des Sonderausschusses des US-Repräsentantenhauses Temu, Sanktionen im Rahmen des US-Gesetzes zur Verhinderung uigurischer Zwangsarbeit (Uyghur Forced Labor Prevention Act, UFLPA) zu umgehen, das einige chinesische Waren im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang einschränkt. „Temu unternimmt so gut wie nichts, um seine Lieferkette von Sklavenarbeit freizuhalten“, sagte der republikanische Senator und Ausschussvorsitzende Mike Gallagher und bezog sich dabei auf die Vorwürfe von Zwangsarbeitstransferprogrammen. 30 Prozent der Kleinpakete, die in die USA gelangen, stammen von Shein und Temu„Gleichzeitig bauen Temu und Shein ein Imperium auf, indem sie das De-minimis-Schlupfloch in unseren Einfuhrbestimmungen ausnutzen, um Einfuhrsteuern zu umgehen und sich der Kontrolle der Millionen von Waren zu entziehen, die sie an Amerikaner verkaufen“, so Gallagher weiter. Dem Bericht zufolge stammen 30 Prozent der Kleinpakete, die in die USA gelangen, von Shein und Temu. Temu reagierte nicht auf Anfragen für eine Stellungnahme, teilte dem Ausschuss jedoch mit, dass seine Verkäufer einen Verhaltenskodex unterzeichnet haben, der eine „Null-Toleranz-Politik“ für den Einsatz von Zwangsarbeit vorsehe.Der kometenhafte Aufstieg von Temu wird von Beobachtern und Brancheninsidern aufmerksam verfolgt. Im Moment ist Temu noch ein Startup (wenn auch ein sehr großes) und es stellt sich die Frage, ob es seine niedrigen Preise und seinen globalen Marktanteil inmitten der derzeitigen Kontroversen halten kann.Die Wirtschaftsjournalistin Ivy Yang sagt, wenn das Unternehmen neben Giganten wie Amazon überleben will, muss es das Einkaufs- und Liefererlebnis verbessern und eine höhere und gleichmäßigere Produktqualität gewährleisten. „Wenn die wirtschaftliche Dynamik der Händler die Plattform weiterhin unverhältnismäßig stark auf Kosten der Verkäufer begünstigt und Temu es nicht schafft, organische Wiederholungskäufe zu fördern, ist das derzeitige subventionierte Wachstum unhaltbar.“
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