Benjamin Netanjahu: Der ehemalige „Mr. Sicherheit“
Israel Benjamin Netanjahu war nie ein konventioneller Ideologe. Seine Absage an eine Zwei-Staaten-Lösung hatte weder etwas mit messianischer Überzeugung noch biblischer Inspiration zu tun. Eher war sie Ausdruck einer pessimistischen Weltsicht
Kriegsbereiter Neoliberalismus, Technokratie und Populismus: Netanjahu am neu errichteten Grenzzaun zu Jordanien, 2016
Foto: Marc Israel Sellem/dpa
Er war, wie es seine Parteigänger ausdrückten, „Mr. Sicherheit“ und wollte später einmal als „der Beschützer Israels“ erinnert sein. Benjamin Netanjahu rühmte sich, dass sein Land nie eine friedlichere Zeit erlebt habe, als während der 16 Jahre, in denen er Regierungsmacht besaß. In dieser Zeit wurde das Iron-Dome-Abwehrsystem installiert, um Raketen aus dem Gazastreifen abzufangen. An der Grenze zu diesem Gebiet entstand ein 64 Kilometer langer und 1,1 Milliarden Dollar teurer Zaun, ausgestattet mit Untergrundsensoren, ferngesteuerten Waffen und einem omnipräsenten Kamerasystem.
Netanjahus Vision von der „Festung Israel“ ließ sich daran ablesen, dass die Palästinenser und ihr Leid von der Behaglichkeit ei
ichkeit eines Cafés in Tel Aviv nicht mehr wahrgenommen werden konnten. Freilich nährte diese relative Ruhe eine Reihe von Illusionen, von denen die Vorstellung, die Palästinenser und ihr Streben nach Freiheit ließen sich hinter Betonbarrieren verstecken, die gefährlichste war. Man glaubte, dass die Welt – besonders die sunnitischen arabischen Staaten – des Palästinenser-Themas so müde seien, dass es getrost von der globalen Agenda genommen werden könne. Netanjahus Regierungen mochten infolgedessen tun, was ihnen gefiel. Unangenehme Folgen würden ihnen erspart bleiben, so die Überzeugung.Schüsse in den RückenDer Angriff am 7. Oktober machte diese Annahme zunichte und das gründlich. Bewaffnete Hamas-Kämpfer auf Motorrädern und Pick-up-Lastern durchbrachen mit Leichtigkeit die „smarte“ Mauer, die mehr gekostet hatte als das derzeitige Bruttoinlandsprodukt des Karibikstaates Grenada. Schwer getroffen, wirkte die israelische Armee wie gelähmt. Netanjahus Projekt brach an einem Tag zusammen, den die Israelis mittlerweile „den schwarzen Schabbat“ nennen.Er erscheint geradezu paradox: Obwohl Netanjahus Vision für Israel komplett unglaubwürdig wurde, gibt es keinen klar erkennbaren Nachfolger, der sich legitimiert, indem er mit dieser Vision bricht. Ein Indiz von vielen, wie sehr das Land in den von Netanjahu geschaffenen Verhältnissen wahrlich gefangen ist.Um dies zu erklären, ein Blick zurück: An einem dunklen Oktoberabend des Jahres 1995 stand Netanjahu auf einem Balkon mit Blick auf Jerusalems Zion-Platz. Vor ihm war ein großes Banner ausgerollt, auf dem stand: „Tod den Arabern“. Der damalige Ministerpräsident Jitzchak Rabin drängte auf eine Verhandlungslösung mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und stieß auf Protest wie diesen, der von rechten Gegnern des Oslo-Abkommens ausging. Seinerzeit hatte der 46-jährige Netanjahu gerade den Vorsitz der rechten Likud-Partei übernommen – ein frisches, neues Gesicht in einer müde wirkenden politischen Szene, die noch von den Gründungsveteranen Israels dominiert war. Als gewiefter Akteur gründete Netanjahu seine politische Zukunft auf sein Veto gegen den Oslo-Prozess. Im Sommer zuvor hatte er an einer Demonstration teilgenommen, die als gespielter Leichenzug für Rabin mit einem Sarg und einer Schlinge inszeniert war, während die Demonstranten „Tod für Rabin“ skandierten.An jenem Oktoberabend wurden vor Netanjahus Balkon Plakate hochgehalten, die Rabin als Verräter diffamierten und ihn abwechselnd in SS-Uniform oder mit Palästinensertuch zeigten. Als Sprechgesang war zu hören: „Wir werden Rabin mit Blut und Feuer vertreiben“ und wieder: „Tod für Rabin“. Einen Monat später feuerte der religiös-nationalistische Jurastudent Jigal Amir zwei Schüsse in Rabins Rücken, tötete ihn und damit die Vision des territorialen Kompromisses mit den Palästinensern. Vor dem Hospital, in dem Rabins Leichnam lag, riefen Anhänger des ermordeten Ministerpräsidenten: „Bibi (wie Netanjahu häufig genannt wird) ist ein Mörder“. Es war Amir, der den Abzug betätigte, aber Netanjahu hatte als prominenter Akteur eine Atmosphäre der Gewalt geschürt, in der Amir seine Tat verübte.1996 rief Rabins Nachfolger, Schimon Peres, Wahlen in der Hoffnung aus, ein Mandat für den Friedensprozess zu bekommen. Laut Umfragen schien das sicher zu sein, denn nach Rabins Ermordung wankte Netanjahus Popularität. Aber nach mehreren palästinensischen Selbstmordattentaten in den Monaten vor der Abstimmung im Mai sah es plötzlich besser für ihn aus. Er hielt Peres die Gefahren eines territorialen Kompromisses vor, bezichtigte ihn der Schwäche und warnte: „Der wird Jerusalem teilen!“. Mit knappem Vorsprung, weniger als einem Prozent, schaffte Netanjahu einen Überraschungssieg und wurde der bis dahin jüngste Premier Israels.Auch wenn der ersten dreijährigen Regierungszeit kein Erfolg beschieden war, ließ sich doch Netanjahus Markenzeichen – keine Zugeständnisse – klar erkennen. Von der US-Regierung unter Präsident Bill Clinton gedrängt, die Friedensverhandlungen mit der PLO voranzutreiben, hielt Netanjahu die Amerikaner hin, indem er sich auf ein Minimum einließ, um den Friedensprozess nicht vollends abzuwürgen. Ansonsten tat er alles, was möglich war, um auch nur den Hauch einer Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern – zunächst still, ohne Fanfarenstöße, ohne Annexionen und die direkte Zurückweisung des von den USA verlangten Verständigungswillens. Bei einer Rede an der Bar-Ilan-Universität gab er vor, „einen demilitarisierten palästinensischen Staat“ eventuell zu akzeptieren. Doch waren die einem solchen Staat auferlegten Bedingungen, wie er sie bei diesem Auftritt beschrieb, derart, dass kein Palästinenserführer sie je hätte annehmen können.Für immer mit dem SchwertDabei war Netanjahu nie ein konventioneller Ideologe. Seine Absage an eine Zwei-Staaten-Lösung war und ist weder messianischer Überzeugung noch biblischer Intention geschuldet. Während seine Unterstützer häufig religiöse Traditionalisten sind, ist er standhaft säkular und seine Weltsicht von tiefem Pessimismus geprägt. „Ich werde gefragt, ob wir für immer mit dem Schwert leben werden. Die Antwort ist: Ja“, sagte er 2015 vor einer Gruppe von Parlamentsabgeordneten. Nach seiner Auffassung werde jeder Palästinenserstaat beinahe unvermeidlich zu einem islamistischen Terrorstaat, der Israels Existenz bedrohe. Eine unbegrenzte Kontrolle über die besetzten Gebiete sei daher eine absolute Notwendigkeit für jüdisches Überleben.Netanjahu verband seine düstere Weltsicht mit einer meisterhaften Kunst der öffentlichen Präsentation. Er war Israels erster TV-Ministerpräsident, nahm Schauspielstunden, um seine Auftritte zu perfektionieren, trug Make-up auf und stellte sicher, dass die Kameras nur seine gute Seite zeigten. Als die meisten anderen israelischen Politiker noch aufgerollte Hemdsärmel bevorzugten, erschien Netanjahu in mutigen Brioni-Anzügen. Sein Hang zum Luxus flankierte die Jahre an der Macht.Als einstiges Mitglied einer Eliteeinheit der Armee und späterer Unternehmensberater verkörperte Netanjahu Israels neue Synthese von kriegsbereitem Neoliberalismus, Technokratie und Populismus. 1996 kam er mit Plänen ins Amt, die eigene Wirtschaft nach dem Vorbild der britischen Premierministerin Margaret Thatcher umzugestalten. Er wollte einen liberalisierten Arbeitsmarkt und gekürzte Subventionen für Branchen mit Problemen. Bedeutender aber war der von ihm angestoßene Wandel in der politischen Kultur. Netanjahu schärfte das Likud-Profil für ein Zeitalter des Schlagworts. Sein Anhang sammelte sich hinter dem Slogan: „Netanjahu – gut für die Juden!“, was suggerierte, seine politischen Rivalen könnten sich nicht loyal gegenüber jüdischen Interessen verhalten.Nachdem er 2009 erneut an die Macht kam, schwor Netanjahu, er werde diese niemals wieder verlieren. Wie der israelische Journalist Ben Caspit in seinem Buch Die Netanjahu-Jahre schreibt, wurden alle potenziellen Gegenspieler innerhalb des Likud verdrängt. 2015 habe „die Metamorphose begonnen“, hieß es jüngst in der Zeitung Haaretz, „von einem risikoscheuen Konservativen hin zu einem radikalen Exponenten des rechten Flügels der Politik“. Er transformierte eine Partei, die schon immer zuverlässig nationalistisch war und einmal ökonomische und soziale Liberale vereint hatte, in einen autoritär geführten, populistischen Verein, in dessen Zentrum eine charismatische Persönlichkeit stand. Ermutigt von seiner Frau Sara und dem Sohn Yair, begann Netanjahu, sich selbst für unersetzlich, für die Inkarnation des nationalen Spirits und identisch mit dem Staat selbst zu halten. „Ohne Bibi“, verkündet Sara Netanjahu gelegentlich, „ist Israel dem Untergang geweiht“.Placeholder authorbio-1
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