Was heißt es, wenn Israels Generalstabschef Herzi Halevi verkündet, der Gaza-Feldzug werde noch Monate dauern? Zunächst einmal, dass es seiner Armee nach gut 100 Tagen Krieg nicht gelungen ist, die Hamas und ihre Alliierten so zu schlagen, dass sie als „vernichtet“ gelten. Auch sind weiterhin 136 Geiseln nicht befreit, vermutlich nicht einmal geortet, sonst würde gezielter vorgegangen, um zumindest einige zu erlösen.
Israel bestreitet mittlerweile die längste Militäroperation seit 1948/49, als 14 Monate lang Krieg gegen arabische Regimes geführt wurde, die sich seiner Staatsgründung widersetzten. Fest steht schon jetzt, dass es der palästinensische Widerstand als Erfolg verbuchen kann, den Kernkonflikt einer Region wieder als Wel
er als Weltkonflikt im allgemeinen Bewusstsein verankert zu haben. Je länger der Krieg dauert, desto irreversibler dürfte das sein – umso mehr ist Nahost-Diplomatie daran zu messen, ob sie dem gerecht wird.Wie zwingend das ist, zeigt die Zahl der Kriegsopfer, die zu Jahresbeginn bei über 22.000 Menschen, darunter etwa 6.500 Kinder, lag. Zum Vergleich, 2017 gab es bei monatelangen Gefechten um die vom Islamischen Staat (IS) eingenommene syrische Stadt Raqqa etwa tausend zivile Tote. Die 2016/17 ausgetragene Schlacht um das nordirakische Mossul, ebenfalls temporär vom IS beherrscht, forderte nach UN-Angaben 9.000 bis 11.000 nichtmilitärische Opfer. Wer den Gaza-Zahlen nicht traut, weil sie zum Teil von der dortigen Gesundheitsbehörde stammen, kann auf offizielle israelische Quellen zurückgreifen, die 8.000 getötete Hamas-Kämpfer reklamieren, sodass von etwa 14.000 bis 15.000 toten Zivilisten auszugehen ist. Auf der Suche nach Referenzwerten bietet sich der Konflikt in Syrien an. Laut Syrian Network for Human Rights (SNHR) starben dort zwischen März 2011 und März 2023 etwa 230.000 Menschen, die nicht an Kampfhandlungen beteiligt waren. Das kostete pro Woche im Schnitt 343 Menschenleben – in Gaza liegt der Vergleichswert mittlerweile bei 1.167 Toten und ist mehr als dreimal so hoch, wie er in Syrien war.Werteorientierte Außenpolitik muss intervenierenMan kann verstehen, dass sich António Guterres fast schon verzweifelt bemüht, das Töten und Sterben aufzuhalten, wenn Weltmächte wie die USA damit überfordert sind. So machte der UN-Generalsekretär am 6. Dezember von seinem in Artikel 99 der UN-Charta verbrieften Recht Gebrauch und berief eine Sondersitzung des Sicherheitsrates zu Gaza ein. An die 15 Mitglieder gerichtet, schrieb er, dass es mehr denn je gelte, „eine humanitäre Katastrophe zu verhindern ... Ich wiederhole meinen Aufruf, dass ein humanitärer Waffenstillstand ausgerufen werden muss“.Sich auf jenen Passus der Charta zu berufen, um gehört zu werden, erschien wie der Griff nach einem letzten Mittel, damit im Sicherheitsrat das Bewusstsein für ein ausuferndes, beschämendes Leid geschärft wird. Wenigstens das. Israels damaliger Außenminister Eli Cohen warf Guterres prompt vor, mit einer Waffenruhe in Gaza die „Terrororganisation Hamas“ zu unterstützen, und verstieg sich dazu, die Amtszeit des jetzigen UN-Generalsekretärs als „Gefahr für den Weltfrieden“ zu denunzieren. Spätestens hier durfte man erwarten, dass eine werteorientierte Außenpolitik interveniert und eine solche Bezichtigung verurteilt. Gerade weil Deutschland einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat beansprucht, hätte die Bundesregierung Guterres verteidigen müssen.Dysfunktionalität politischen AgierensSie verzichtete, und es erhärtete sich der Eindruck, dass deutsche Nahost-Politik verzwergt, je mehr in Gaza israelische Selbstverteidigung in die kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung mündet. Die Autorin Deborah Feldman schrieb im Freitag von einem Krieg, auf den die religiöse Rechte in Israel gewartet habe. Ob berechtigt oder nicht, wird die von ihr kritisierte „bedingungslose Loyalität“ auch als Solidarität mit dem Kriegskabinett Netanjahus wahrgenommen und mit dem, was in dessen Namen geschieht. Ist es zur Staatsräson erhoben, für das Existenzrecht Israels einzustehen, kann das kaum für das Existenzrecht dieser Regierung gelten. Das aber nicht aussprechen zu wollen, führt zu krasser Dysfunktionalität politischen Agierens.Wenn Außenministerin Annalena Baerbock vor ihrer jüngsten Reise in die Krisenregion erklärt, Gaza dürfe weder durch Israel besetzt noch territorial verkleinert werden, verpufft diese Rhetorik des Minimums, solange jede klare Distanzierung von einer Kriegsmethode unterbleibt, die der israelische Flottillenadmiral Daniel Hagari wie folgt beschrieben hat: „Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Präzision.“ Dieses Mantra hat den Norden Gazas in einen „unbewohnbaren“ Zustand versetzt, was im Übrigen kein Hamas-Vertreter, sondern UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths konstatiert hat.Die häufiger beklagte Bedrängnis der westlichen Zivilisation weltweit könnte etwas damit zu tun haben, dass sie in Schlüsselsituationen wie in Gaza versagt. Wer sich für zivilisiert hält, darf unzivilisierte Praktiken nicht tolerieren und sich auf die Zwei-Staaten-Lösung herausreden, die das heutige Israel verhindert, ohne daran gehindert zu werden.