Deutschlands Außenpolitik: Mehr Pragmatismus wagen
Diplomatie Der Wertefundamentalismus von Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock und die Panikmache von SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius stehen einer vernünftigen Sicherheitspolitik im Weg
Wer sich zum Krieg ertüchtigt, braucht rote Linien nicht mehr zu fürchten ...
Foto: Odd Andersen/AFP via Getty Images
Wir leben in einer Ära der Gewalt in den internationalen Beziehungen – ob das neu ist, darüber lässt sich streiten. Jedenfalls gibt es zu Beginn des Jahres 2024 eine Zahl, Intensität und Dauer von bewaffneten Konflikten wie seit 1990 nicht mehr. Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier sprach 2014 davon, dass die Welt „aus den Fugen“ sei; zehn Jahre später muss man wohl eher sagen: Sie steht in gewisser Hinsicht in Flammen. Neben den die westlichen Öffentlichkeiten bestimmenden Hotspots Ukraine und Nahost gilt dies für massive Gewalt im Südkaukasus oder im Jemen, im Sudan ebenso wie in Äthiopien, und der Militärputsch in Niger war der sechste Staatsstreich in der Sahelzone seit 2020, betroffen davon auch die
ch in Niger war der sechste Staatsstreich in der Sahelzone seit 2020, betroffen davon auch die gescheiterte Bundeswehrmission in Mali.Mit dem überstürzten Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan im August 2021 nach einer mehr als 20 Jahre andauernden massiven Präsenz – wer redet heutzutage noch darüber? – war insofern ein Wendepunkt erreicht, als zunehmend kritisch diskutiert wurde, ob sich mit militärischem Engagement andere Staaten stabilisieren und die teils hochgesteckten politischen Ziele von Regimewechsel bis Demokratisierung erreichen lassen. Die langen zwei Dekaden der Interventionen, die mit dem Afghanistan-Krieg 2001 begonnen hatten und mit desaströsen Ergebnissen etwa im Irak 2003 und in Libyen 2011 fortgesetzt wurden, waren insofern mit dem Abzug aus Afghanistan an ihr Ende gekommen. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 ist dann abermals eine Zeitenwende eingetreten, die so gut wie alle sicherheitspolitischen Gewissheiten der vergangenen Jahre auf den Kopf stellt.Sicherheitspolitik hat also wieder Konjunktur. Ob das eine gute Nachricht ist, ist fraglich, denn zugleich ist Sicherheitspolitik – wie Rentensystem oder Kanalisation – eigentlich nur dann im Fokus der Öffentlichkeit, wenn etwas kaputt ist. Und kaputt ist derzeit vieles. Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine ist ebenso und unmissverständlich zu verurteilen wie der Terrorangriff der Hamas auf Israel. Die Schuldfrage ist eindeutig, das heißt aber nicht, dass die Begleitstrategien unstrittig wären. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) fordert bei jeder Gelegenheit die Verteidigung der Werte und eine „Wehrhaftigkeit auf der Höhe der Zeit“.Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) folgert aus alledem, Deutschland brauche einen Mentalitätswechsel. Deutsche Sicherheit wird plötzlich nicht mehr am Hindukusch verteidigt. Man müsse sich vielmehr an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte, „und das heißt, wir müssen kriegstüchtig werden, wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen“. Pistorius sieht, sekundiert von Think-Tanks wie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, „ungefähr fünf bis acht Jahre, in denen wir aufholen müssen“, um sich gegen einen russischen Angriff zu wappnen.„Kriegstüchtigkeit“Pistorius hat einerseits eine blanke Selbstverständlichkeit ausgesprochen: Wer Frieden sichern will, muss verteidigungsfähig sein, und wer Streitkräfte hat, muss diese auch so aufstellen, dass sie einsatzfähig sind. Aber nach der Ukraine- ist die Nahostkrise nun der zweite Fall, bei dem sehr viele unreflektiert und in erschreckender Eindimensionalität und Schlichtheit auf die Militärkarte setzen. Jede/-r darf dazulernen, und neue Fragen brauchen neue Antworten. Und dass der russische Angriff zu Rückbesinnung auf das Thema Verteidigungsfähigkeit mitsamt den dazu notwendigen und für manche sicher unbequemen Schritten führt, ist unvermeidlich.Aber das Gerede von der „Kriegstüchtigkeit“ ist überzogen und trifft nicht den richtigen Ton. Es ist mehr Eigen-PR zur weiteren Erhöhung des Verteidigungshaushalts als eine sachliche Bestandsaufnahme. Zugleich ist es nicht so, dass Deutschland militärisch „total blank“ wäre. Der Verteidigungshaushalt ist in den vergangenen Jahren rasant erhöht worden, hat sich von 32,4 Milliarden Euro 2014 auf 71 Milliarden 2024 (davon 51,8 Milliarden regulär und 19,2 Milliarden aus dem „Sondervermögen Bundeswehr“) mehr als verdoppelt. Und die NATO ist ungleich stärker als ihr Feind Russland.Krieg, Frieden und RealpolitikFast alle haben verstanden, dass Sicherheitspolitik in Deutschland in der Vergangenheit allzu stiefmütterlich behandelt wurde und Verantwortung in gewisser Weise neu ausbuchstabiert werden muss. Diese Erkenntnis sollte nicht durch Rabulistik und unnötige Kriegsrhetorik konterkariert werden.Deutschland sollte sich und andere nicht überfordern oder überschätzen, sondern ein realistisches Verständnis von außenpolitischer Verantwortung entwickeln. Das geht weit über die aktuellen Kriege in der Ukraine oder im Nahen Osten hinaus, hat aber doch Berührungspunkte damit. Es ist keine gute Idee, im politischen Diskurs um Krieg und Frieden von einem Extrem ins andere zu verfallen und vermeintliche moralische Prinzipienfestigkeit über jede realpolitische Vernunft zu stellen.Richtig bleibt, dass Sicherheitspolitik heute breiter gedacht werden muss und wir uns nicht allein auf militärische Fragen konzentrieren sollten, sondern Sicherheitspolitik umfassender angehen müssen – ohne mit dem Verweis auf das Engagement in einem Bereich den anderen zu vernachlässigen. Gleichzeitig sollten die politisch Verantwortlichen seit Carl von Clausewitz verinnerlicht haben, dass vor der Entscheidung zum Einsatz von Militär als „Mittel der Politik“ die Frage zu beantworten ist, welcher politische Zweck mit welchem militärischen Ziel und welchen Mitteln erreicht werden soll. Bei dieser Zweck- und Zieldefinition sind Chancen und Risiken des eigenen Handelns nüchtern und realistisch zu bewerten.Interessenausgleich mit China und RusslandFehlt eine solche Abwägung, dann besteht das Risiko ungewollter Nebenwirkungen und – das zeigen die Interventionen der vergangenen Jahrzehnte – einer unerwünschten Eskalation oder bestenfalls eines Stillstandes ohne erkennbare Fortschritte. Während bei Clausewitz „Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ war, wird Krieg nun zur Verteidigung unserer Werte mit anderen Mitteln. Das ist ein verhängnisvoller Irrweg. Wie sich Deutschland mit Blick auf die Frage positioniert, ob Demokratie und Menschenrechte zentraler Maßstab für sicherheitspolitisches Handeln sein sollen oder aber auch mit autoritären Staaten wie China und Russland ein stabiler und womöglich pragmatischer Interessenausgleich möglich ist, wird zu den zu entscheidenden Richtungsfragen gehören.Hier pragmatisch zu sein, bedeutet nicht, Gefahren zu ignorieren, über Menschenrechtsverletzungen hinwegzusehen oder kurzfristige Wirtschaftsinteressen absolut zu setzen. Es bedarf aber Kompetenz und Empathie, um andere Länder nach Maßgabe ihrer eigenen historischen und gesellschaftspolitischen Entwicklung einzuschätzen und zu verstehen. Wertefundamentalismus (Baerbock) und Panikmache (Pistorius) vernebeln den Blick für eine realistische Sicherheitspolitik, die den Widersprüchen der Weltpolitik Rechnung trägt.Leitend muss immer die Bewahrung des Friedens und der eigenen Wertebasis sein, aber dort, wo eine wertegeleitete Politik sich als nicht durchsetzbar erweist, muss Realpolitik im Sinne einer realistischen Betrachtung der gegebenen Kräfteverhältnisse und Handlungsmöglichkeiten gemacht werden. In gewisser Weise droht die deutsche Sicherheitspolitik das Kind mit dem Bade auszuschütten. Deutschland sollte zu einer verantwortungsvollen, ausbalancierten, friedensorientierten und zugleich realistischen Sicherheitspolitik zurückfinden. An deren erster Stelle muss eine Politik des Interessenausgleichs, der diplomatischen Tugenden, der Verlässlichkeit und der Rüstungskontrolle stehen. Die Gefahr des „Sicherheitsdilemmas“, das aus dem Streben nach auch berechtigter Sicherheitsvorsorge resultiert, aber letztlich Unsicherheit verstärkt, muss systematisch mitbedacht werden. Wer in diesem Sinne von „Kriegstüchtigkeit“ redet, der überzieht. Die deutsche Sicherheitspolitik sollte weder den „Kriegsertüchtigern“ noch den „Wertefundamentalisten“ überlassen werden.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.