Ligurische Raunächte: Was Olaf Scholz in diesem Jahr erwartet
2024 Kleine und große Wahlen in Europa und den USA, ein verspäteter Geburtstag und eine neue Generalsekretärin für die NATO und „möglicherweise weitreichende Konsequenzen“ für Deutschland: Was Bundeskanzler Olaf Scholz über all das wohl denkt
Olaf Scholz und seine Frau Britta Ernst, wie sie während ihres Weihnachtsurlaubs in einem schönen italienischen Restaurant an der ligurischen Küste sitzen und Labskaus essen.
Collage: der Freitag, Material: Midjourney, Imago Images, Unsplash
In den Raunächten zwischen Weihnachten und Dreikönig hat man die seltsamsten Klarträume. Ich sah – wie durch ein Vergrößerungsglas – Olaf Scholz und seine Frau Britta Ernst, wie sie während ihres Weihnachtsurlaubs in einem schönen italienischen Restaurant an der ligurischen Küste sitzen und Labskaus essen. Er blickt verdrossen aufs Meer, sie stochert in ihrer Fleisch-und-Matjes-Pampe. Dann gibt sie sich einen Ruck. „Olaf“, sagt sie, „so kann es nicht weitergehen, du kannst nicht alles Robert und Christian überlassen, die tanzen dir auf der Nase herum, du musst deinen Kommunikationsstil ändern. Du musst endlich aus dir herausgehen. Am besten, du feuerst deine Berater und Pressesprecher und stellst dich selbst vo
esprecher und stellst dich selbst vor die Mikrofone, tu endlich was, damit nicht noch mehr glauben, du seist dem Amt nicht gewachsen. Das neue Jahr darf auf keinen Fall so werden wie das alte.“Keine Sorge, dachte ich, das neue Jahr wird ganz sicher schwieriger und unberechenbarer als 2023. Denn national will sich Deutschland in der Konfrontation mit dem „russischen Imperialismus“ (Olaf Scholz) endgültig als „Führungsnation“ Europas etablieren, mit den entsprechenden finanziellen Belastungen für die Bevölkerung. International stehen die Weichen auf Multipolarität, sosehr sich „der Westen“ auch dagegen sperren mag. Beide Entwicklungen verdeutlichen, dass sich die Welt in einer labilen Übergangsphase befindet. Für den italienischen Marxisten Antonio Gramsci zeichnen sich solche Zeiten dadurch aus, dass sie „Monster“ gebären: politische Verwerfungen, kriegerische Auseinandersetzungen, Wirtschaftskrisen. Das Alte will partout nicht loslassen, das Neue kann sich noch nicht durchsetzen. Spannende Zeiten. Aber der Reihe nach.National wird die Stimmung geprägt von den üblichen Klageliedern: die unsichere Haushaltslage, die steigenden Energiepreise, die hohen Zinsen, der schwächelnde Export. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) malt die Aussichten schwarz in schwarz: „Selten war die Lage so düster wie derzeit, und selten war die Prognose so pessimistisch.“ Dabei sind die Aussichten eher so mittel: Die Erwartungen an die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) schwanken zwischen einem minimalen Wachstum von 1,3 Prozent (laut Regierung) und einem minimalen Rückgang von 0,5 Prozent (IW). Alle anderen Schätzungen liegen irgendwo dazwischen.Eine Katastrophe ist das nicht, aber in Wirtschaftskreisen geht die Angst um, Weltmarktanteile an aggressivere Wettbewerber zu verlieren. Da bietet ein Wahljahr wie 2024 die Gelegenheit, ordentlich Druck auf die Regierung auszuüben, gemäß dem deutschen Panik-Motto „Weltmacht oder Niedergang“. Und so wird die Ampel-Regierung vor den Europawahlen im Juni, den Kommunalwahlen in neun Bundesländern und den drei ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst permanent am Rande des Zusammenbruchs agieren. Auch die im Mai anstehenden Feierlichkeiten zum 75-jährigen Bestehen der Bundesrepublik Deutschland mit ihren wohl zahllosen Zusammenhalts-, Schulterschluss- und Unterhak-Appellen werden daran nichts ändern.NATO-Manöver „Quadriga“ an der OstfrontDas gezielte Aufpumpen der Wahlen zur nationalen Schicksalsfrage wird zwar viel über die gereizte Stimmung im Land aussagen, aber wenig mit der Realität zu tun haben. Denn die drei Länder Sachsen, Brandenburg und Thüringen repräsentieren zusammen nur 10,5 Prozent der Bundesbürger, 9,3 Prozent der Erwerbstätigen, 7,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 5,5 Prozent des Exports. Sie fallen kaum ins Gewicht. Trotzdem werden die Sorge vor einer „Machtübernahme“ der AfD und die Ungewissheit über die Erfolgsaussichten der neuen Wagenknecht-Partei die Debatten bestimmen und eine nationale Allianz von Union, SPD, FDP und Grünen gegen die politischen „Ränder“ begünstigen.Erleichtert wird diese Allianzbildung durch den fortdauernden Krieg in der Ukraine und die offensiv ausgestellte Kriegstüchtigkeit der NATO: Fast vier Monate lang – von Mitte Februar bis Ende Mai – probt die Bundeswehr mit ihren Verbündeten den Ernstfall an der Ostfront im Großmanöver „Quadriga“, dem entscheidenden Kampfplatz der NATO-Übung „Steadfast Defender“. In einer Art „Schlachtfeldnetzwerk“ sollen deutsche Spezialkräfte, Panzerdivisionen, Heeresflieger und Gebirgsjäger die NATO-Truppen von Norwegen über Litauen und Polen bis Ungarn und Rumänien bei der Zurückdrängung imaginierter russischer Invasoren unterstützen. Deutschland agiert dabei als „Mittelpunkt“ und „Drehscheibe“ für die Truppenaufmärsche an der „Ostflanke“, übernimmt musterschülerhaft „Führungsverantwortung“ und erhofft sich so „einen Bedeutungszuwachs innerhalb der NATO“.Darüber hinaus soll das Manöver für möglichst viele Bundesbürger „sichtbar“ sein und als Medienereignis eine positive Wirkung auf die Wehrbereitschaft ausüben. Ob Deutschlands beliebtester Minister Boris Pistorius (SPD) dabei auch „Eiserne Kreuze“ an beteiligte Soldaten verleiht, ist noch offen. Das „Leuchtturmprojekt der Zeitenwende“, die künftige Litauen-Brigade der Bundeswehr, wird aber bereits eine Rolle spielen. 2024 startet das Vorkommando Richtung Rukla. Die Kosten für die erste bundesdeutsche Auslandsgarnison dürften, auch wegen der hohen Zulagen, in die Milliarden gehen. Unheilvolle Erfahrungen mit der „Deutschen Legion“ von 1919 und dem späteren Wirken der Wehrmacht in Litauen scheinen niemanden zu schrecken.Wie stark die NATO-Übung und das Wiederauftauchen der Befürchtung, dass „der Russe“ in fünf bis acht Jahren „vor der Tür“ stehen könnte, die Europawahlen am 9. Juni beeinflussen, ist schwer abzuschätzen. Sicher ist nur, dass Russlands Krieg an der „Ostflanke“ gute Chancen hat, als „Einigungskrieg Europas“ in die Geschichte einzugehen. Denn letztlich, so Olaf Scholz in der US-Zeitschrift Foreign Affairs, „bildet die EU … den Gegenpol zu Putins imperialistischer und autokratischer Kleptokratie“. Und so arbeitet Scholz eifrig an einer Art Beschleunigungsgesetz für die kommende EU-Osterweiterung um neun weitere Staaten. Er nennt das Vorhaben aber lieber „Reform des Einstimmigkeitsprinzips“. Die EU soll außen- und sicherheitspolitisch nicht mehr von quertreibenden Kleinstaaten wie Ungarn gebremst werden können.EU: Die „Reform des Einstimmigkeitsprinzips“Deutschland als selbsternannte „Führungsnation“ hat deshalb eine „Gruppe von Freunden“ um sich geschart, die „angesichts des russischen Angriffskriegs“ die sofortige Einführung „qualifizierter Mehrheiten in der Außen- und Sicherheitspolitik“ fordern. Wenn mindestens 15 Staaten, die zusammen 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, politische Interventionen oder Rüstungsvorhaben beschließen, könnte dies künftig nicht mehr blockiert werden. Deutschland als das mit Abstand bevölkerungsreichste Land wäre Tonangeber. „Wenn wir ein geopolitischer Akteur sein wollen“, heißt es in der „Gemeinsamen Mitteilung“ der Freundesgruppe, „müssen wir in der Lage sein, schnell und entschlossen zu handeln“.Einen Strich durch diese Rechnung könnten bei den Europawahlen aber die rechtspopulistischen Parteien machen, die sich gegen eine Zentralisierung Europas zu Lasten ihrer Nationen stemmen. Für die Linke ist das eine Wahl zwischen zwei Übeln. Einerseits lehnt sie ein von Deutschland dominiertes, gegen Russland gerüstetes Europa ab, andererseits will sie den Nationalisten nicht in die Hände spielen. Es steht zu befürchten, dass sie ihre Position nicht hinreichend verdeutlichen kann und deshalb ein Desaster erlebt.Noch aus einem anderen Grund ist die kommende Europawahl „militarisiert“ wie keine zuvor. Die USA haben durchgesetzt, dass die Nachfolge von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf einen Zeitpunkt nach der Europawahl verschoben wird. Deshalb werden die Feierlichkeiten zum 75-jährigen Bestehen der NATO nicht am 4. April stattfinden, sondern in den Juli verlegt. Erst beim „historischen Gipfel“ in Washington soll Stoltenbergs Nachfolge bestätigt werden.Da US-Präsident Joe Biden die amtierende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf dem Brüsseler NATO-Stuhl sehen möchte, diese wegen einer möglichen zweiten Amtszeit und der ungewissen Wahlchancen der Christdemokraten aber vorerst Stillschweigen bewahrt, entscheiden die Wähler am 9. Juni auch ein wenig über die künftige Leitung der NATO. So bilden die Europawahlen, das Manöver „Quadriga“ und die Wahl der neuen NATO-Generalsekretärin ein unteilbares Ganzes. Oder, wie Politiker sagen würden: Es handelt sich um eine Paketlösung. Dass die OSZE als friedenssichernde Organisation neben einem kriegstüchtigen NATO-Europa keine Rolle mehr spielt, dürfte niemanden überraschen.G7, G20 und BRICS-Staaten buhlen um AfrikaÄußerer Anlass für das „geopolitische Erwachen der EU“ (so der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell) ist aber nicht allein der Krieg in der Ukraine, sondern mehr noch der rasant sich entwickelnde globale Wettbewerb um die vorderen Plätze an der Sonne. Während die Vereinten Nationen als globales Leitgremium zusehends abdanken, da sie ihre Organisationsreform („Pakt für die Zukunft“) nicht auf die Reihe kriegen und sich in keinem Konflikt mehr durchsetzen können, weder im Gaza-Krieg noch bei der Auflösung der Kuba-Blockade oder den Blauhelmeinsätzen in Afrika, zerfällt die Staatenwelt in miteinander konkurrierende Untergruppen.Im Juni etwa tagt der G7-Gipfel der demokratischen Industrienationen im italienischen Luxusresort Borgo Egnazia (Zimmerpreis 2.000 Euro pro Nacht) mit dem Ziel, die 55 Länder des afrikanischen Kontinents durch mehr „Kooperation“ enger an den Westen zu binden. Der G20-Gipfel in Rio im November hat einen ähnlichen Anspruch. Im Gegenzug probt die auf zehn Staaten gewachsene BRICS-Gruppe der Schwellenländer beim Gipfel im russischen Kasan den Schulterschluss mit den Ländern des globalen Südens. Ein neues „Scramble for Africa“ steht bei all diesen Gipfeln ebenso auf der Agenda wie das Buhlen um wetterwendische Kandidaten wie Indien, Indonesien, Kasachstan oder Argentinien.US-Wahl am 5. November 2024: Kampf der alten MännerAlle Anzeichen sprechen für eine neue Phase konkurrierender Weltpolitik. Wobei die einen ihre „geopolitischen“ (sprich: imperialistischen) Absichten verklärend „Global Gateway“, „Build Back Better World“ oder „Samoa-Abkommen“ nennen, die anderen tiefstapelnd von „Neuer Seidenstraße“, „Shanghai Cooperation Organisation“ oder „BRICS“ reden. Das Ringen um den Übergang von der unipolaren Weltordnung mit den USA als taktgebender Supermacht zu einer multipolaren Welt mit zwei, fünf oder gar acht „geopolitischen Akteuren“ wird unvermindert fortgesetzt, Ausgang offen.Auch deshalb schaut die Welt 2024 vor allem auf ein Datum: den 5. November, Tag der US-Wahlen. Exakt 100 Jahre nach dem Tod der beiden Weltführer Woodrow Wilson und Wladimir Iljitsch Lenin wird sich zeigen, ob die Konfrontation zwischen den USA und Russland auf dem alten Niveau fortgesetzt wird, sich abrupt verschärft oder in eine Phase notwendiger Deeskalation mündet. Biden oder Trump – egal, wie der Kampf der alten Männer ausgeht, Olaf Scholz stellt sich schon mal darauf ein, dass es nach dem 5. November „möglicherweise weitreichende Konsequenzen“ gibt, „auch für uns hier in Europa“.In meinen Klarträumen blickt Scholz, während ihm seine Frau eine Standpauke hält, stur weiter aufs Ligurische Meer hinaus, doch dann wandelt sich sein verdrossener Gesichtsausdruck plötzlich zu jenem berühmten Buddha-Lächeln und er sagt, als gelte es, eine Neujahrsansprache an uns alle zu halten: „Wir in Deutschland kommen da durch, wir kommen auch mit Gegenwind zurecht.“ Und verschmitzt fügt er hinzu: „Vielleicht überstehen wir sogar die Vorrunde bei der Fußball-Europameisterschaft.“
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