Minister des Kabinetts Netanjahu drängen zur „Gaza Nakba“
Israel Premier Netanjahu und Generalstabschef Halevi haben zum Jahresende verkündet, dass die Kampfhandlungen in Gaza noch Monate dauern können. Die US-Regierung nimmt das hin und umgeht den Kongress bei der Genehmigung weiterer Waffenlieferungen
Wer hat mehr Angst um seine Macht? US-Präsident Joe Biden und der israelische Premier Benjamin Netanjahu in Tel Aviv, Oktober 2023
Foto: White House/picture alliance/ZUMAPRESS.com
Generalstabschef Herzi Halewi hat verkündet, dass Israel seine Gaza-Operationen noch monatelang fortsetzen werde. Er tat dies Ende Dezember, als nach fast drei Monaten Krieg die Zahl der zivilen palästinensischen Toten das 20-Fache der Opfer des Terrorangriffs der Hamas am 7. Oktober erreicht hatte. Wenn kein Ende des israelischen Feldzugs „Eiserne Schwerter“ abzusehen ist, stellt sich insofern immer dringlicher die Frage, ob damit nicht das Selbstverteidigungsrecht des israelischen Staates überschritten wird und eine unverhältnismäßige Rachekampagne überhandnimmt, die neben dem bewirkten Zerstörungswerk die Gefahr einer internationalen Gewalt-Eskalation mit sich bringt. Agrarminister Avi Dichter drängte jüngst im Fernsehen zur
ur „Gaza Nakba“, als die er Israels Intervention offenbar sieht.Die Regierung in Jerusalem erklärt, das Ziel sei noch nicht erreicht, die Hamas endgültig zu vernichten oder wenigstens so weit zu schwächen, dass sie ähnliche Attacken oder Schlimmeres künftig nicht auf den Weg bringen kann. Derzeit scheint die Armee darauf fokussiert zu sein, die Umgebung der militärischen Hamas-Führer Yahya Sinwar und Mohammed Deif zu treffen, die als Planer des Angriffs vom 7. Oktober gelten und irgendwo in oder unter der Stadt Chan Yunis vermutet werden. Auf der Todesliste steht ebenso Ismail Haniyya, der in Israel wie den USA als Terrorist gelistet ist, seit er 2006 politische Führungsämter übernommen hat.Das von der Knesset seinerzeit erstmals verhängte Verdikt, wonach Haniyya als „vogelfrei“ zu betrachten sei, sobald Hamas-Raketen auf Israel abgeschossen würden, ist kürzlich erneuert worden. Gegenwärtig hält er sich in Katar auf und ist Vorsitzender des Büros des Schura-Rats der Hamas. Obwohl sich der Konsul Großbritanniens in Katars Hauptstadt Doha nicht scheute, Haniyya persönlich um Unterstützung bei der Freilassung eines von der Hamas festgehaltenen britischen Journalisten zu bitten, will Israel ihn nicht als Verhandlungspartner anerkennen. Es gäbe prinzipiell keine solchen Emissäre, wird immer wieder behauptet.Selbst Mahmud Abbas, Präsident der Fatah-Regierung und der Autonomiebehörde im Westjordanland, gilt wegen angeblicher politischer Ohnmacht nicht als satisfaktionsfähig. Dabei rührt Abbas’ Schwäche auch daher, dass die von internationalen Organisationen gezahlten Hilfsgelder für das Westjordanland an Banken in Israel überwiesen werden müssen, das sich für berechtigt hält, diese Mittel stets dann zurückzuhalten, wenn die Autonomiebehörde allzu selbstständig handelt.Möglicher Tod der Geiseln gilt als tragbarer KollateralschadenDass die Palästinenser keine Verhandlungspartner präsentieren könnten, weil Hamas und Fatah zerstritten seien, ist eine gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung westlicher Medien. Verschwiegen wird, dass sich Abbas und Haniyya seit 2012 immer wieder in der Türkei und in Algerien trafen und Versöhnungsabkommen aushandelten, denen zu entnehmen war, dass nicht nur die Fatah, sondern gleichfalls auch die Hamas bereit wäre, den israelischen Staat als Gegenleistung für ein faires Friedensabkommen anzuerkennen.Israel dagegen ist nicht einmal bereit, in der Frage der etwa 120 Geiseln einzulenken, die sich noch in der Gewalt der Hamas befinden. Ihre Qualen und ihr möglicher Tod werden offenkundig als tragbarer Kollateralschaden hingenommen. Eine militärische Befreiung der Gefangenen scheint momentan keine sonderlich realistische Option zu sein. Sind sie doch – wie mehr und mehr bekannt wird – nicht an einem, sondern an verschiedenen Orten untergebracht, unter anderem in Familien. Für ihre Freilassung verlangt die Hamas mittlerweile, dass alle politischen Gefangenen der Palästinenser freigelassen werden, allen voran Marwan Barghuthi. Dieser gilt als potenzieller Nachfolger für den 88-jährigen Abbas. Selbst die Hamas würde Barghuthi als gemeinsamen Kandidaten akzeptieren.Da deren Kampfkraft noch nicht erschöpft zu sein scheint und die Hardliner in der israelischen Regierung an ihren Maximalzielen festhalten, zu denen nicht zuletzt die Vertreibung der palästinensischen Zivilbevölkerung nach Ägypten und Jordanien gehört, ist kein Ende der Kampfhandlungen abzusehen. Immer deutlicher zeichnet sich auch hier eine Grundkonstante asymmetrischer Konflikte ab: Zwar leidet die Bevölkerung von Gaza seit Jahren unter der islamistischen Disziplinierung der Hamas, dennoch ist ein nicht geringer Teil nach wie vor entschlossen, unter Lebensgefahr auf einem Heimatrecht zu bestehen. Zuletzt sind mehrere Tausend Menschen sogar in den zerstörten Norden und nach Gaza-Stadt zurückgekehrt.In keinem der vier seit 2008 zwischen Israel und der Hamas geführten Kriege geriet die internationale politische Architektur so stark ins Wanken wie während des aktuellen fünften Waffengangs. Nie fanden weltweit so große Demonstrationen statt, die endlich eine politische Lösung des bereits mehrere Generationen währenden und erfassenden Konflikts verlangen. Gefordert wird, dass die Besatzung endet und das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser zum Tragen kommen kann.Ein Indiz für das Singuläre der Situation ist der heftige Druck, unter dem die USA als Israels Schutzmacht stehen. Die Biden-Regierung sieht sich Herausforderungen an verschiedenen Fronten gegenüber. Um eine Eskalation durch erwartbare Angriffe der Hisbollah zu verhindern, wurden Kriegsschiffe, darunter zwei Flugzeugträger, in Richtung der nahöstlichen Küsten entsandt. Bisher schwelt im Norden Israels ein Konflikt von mäßiger Intensität, in dem Hisbollah-Einheiten israelische Streitkräfte dennoch binden. Unter ausdrücklichem Verweis auf den Gaza-Krieg greifen irakisch-schiitische Milizen amerikanische Militärbasen an, die in syrischen Kurdengebieten Erdölfelder besetzt halten.UN-Beschlüsse zu IsraelEs überraschen zudem die Vorstöße kleiner maritimer Huthi-Milizen aus dem Jemen auf israelische und westliche Schiffe im Roten Meer, die teilweise Häfen in Israel ansteuern wollen. Unpassierbar ist das Rote Meer seit Langem für iranische Schiffe, die daran gehindert werden, auf diesem Wege Syrien zu erreichen. Dass die für den Welthandel wichtige Wasserstraße unbehindert befahren werden kann, ist Teil des Hegemonie-Verständnisses der USA in der Region. Ein Grund, weshalb nun fieberhaft eine internationale Allianz aus einem Dutzend Länder formiert wird, für die die seit Längerem betriebene EU-Marinemission am Horn von Afrika ein Muster sein könnte (siehe Glossar unten). Sogar China wurde um Beitritt gebeten. Was die Huthi unternehmen, wenn ein solches Bündnis einsatzbereit ist, bleibt abzuwarten. Mittelfristig dürfte der Aufwand für sichere Routen im Roten Meer den Welthandel verteuern.Auffällig ist, dass die Hisbollah, die Huthi und die irakisch-schiitischen Milizen auf Beistand vom Iran rechnen können, auch wenn sie weitgehend selbstständig entscheiden, was sie tun. Dabei reicht der Einfluss dieser Kombattanten auf die regionale Kräftebalance keineswegs aus, um die Existenz des Staates Israel zu gefährden. Dass eine iranische Atomwaffe zum Einsatz kommt, ist ebenfalls ausgeschlossen, weil sie Israelis und Palästinenser gleichermaßen treffen würde.Mutmaßlich hat aber der von vielen Seiten sowohl moralisch als auch militärisch ausgeübte Druck die USA veranlasst, selbst mehr Druck auf Israel auszuüben, auch wenn der sich bis dato auf gutes Zureden beschränkt, Zivilisten zu schützen, Lebensmitteltransporte zu ermöglichen und eine Perspektive „für die Zeit danach“ anzubieten. Nur laufen alle Ermahnungen ins Leere, weil jene Kräfte, die in Israel selbst für politische Lösungen eintreten, viel zu schwach sind und der Wille zur Deeskalation auf keinen Konsens stößt.Erforderlich wäre eine durch Sanktionen zu erzwingende Umsetzung der Israel betreffenden UN-Beschlüsse, sofern die im Sicherheitsrat nicht von den USA blockiert werden. Durchringen konnte sich die Biden-Regierung immerhin dazu, eine Lieferung von Maschinengewehren zu verbieten, die Benjamin Netanjahus Minister Itamar Ben-Gvir an Siedler verteilen wollte. Von denen wird im Schatten des Gaza-Krieges gerade eine ethnische Säuberung der Westbank vorangetrieben.Placeholder infobox-1
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