Israel: Urteil des Obersten Gerichts zur Justizreform ist noch kein Sieg der Demokratie

Meinung Die jüngste Entscheidung einer Mehrheit der höchsten Richter Israels ist vor allem eine Niederlage für Premier Benjamin Netanjahu, doch auch kein vollkommener Triumph der Hunderttausenden, die gegen die Justizreform protestierten
Ausgabe 01/2024
Das Oberste Gericht, so war es vorgesehen, sollte Israels Regierung, dem Ministerpräsidenten wie einzelnen Ministern künftig nicht mehr untersagen dürfen, „unangemessene“ Entscheidungen oder Gesetze durchzusetzen.
Das Oberste Gericht, so war es vorgesehen, sollte Israels Regierung, dem Ministerpräsidenten wie einzelnen Ministern künftig nicht mehr untersagen dürfen, „unangemessene“ Entscheidungen oder Gesetze durchzusetzen.

Foto: Ohad Zwigenberg/picture alliance/AP

Justizminister Yariv Levin hatte das Oberste Gericht gebeten, mit seiner Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der von einer Knesset-Mehrheit im Juli 2023 beschlossenen Justizreform zu warten. Sie solle so lange nicht bekannt gegeben werden, wie der Gaza-Krieg andauere. „Während unsere Soldaten Seite an Seite an verschiedenen Fronten kämpfen, und unsere Nation über den Verlust vieler Leben trauert, darf Israels Volk nicht durch Streitigkeiten gespalten werden“, teilte er mit.

Levins patriotischer Bitte kam das Gremium von 15 Obersten Richtern nicht nach. Sie hatten seit September über einen Kernpunkt der Justizreform beraten, wonach das Gericht es der Regierung, dem Ministerpräsidenten wie einzelnen Ministern künftig nicht mehr untersagen dürfe, „unangemessene“ Entscheidungen oder Gesetze durchzusetzen.

Demokratischer, nicht Gottes-Staat

Da das Land bislang keine Verfassung hat, deren Funktion das höchste Gremium nationaler Rechtsprechung teilweise übernimmt, wäre dessen Selbstknebelung einem Staatsstreich gleichgekommen. Worauf sollte das Aufheben der Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative sonst hinauslaufen? Mit der Justizreform wurde ein Versprechen gebrochen, das jahrzehntelang unerschütterlich erschien: Ein vorrangig jüdischer Staat ist kein Gottes-, sondern ein demokratischer Staat. Tugenden wie Pluralität und Gewaltenteilung sind es wert, verteidigt zu werden.

Benjamin Netanjahus rechtsextrem-populistische Regierung sieht das anders, kann sich aber nicht durchsetzen. Was sie als Ausdruck wahrer Demokratie preist, hat das Gericht am 1. Januar verworfen. Seine Präsidentin, Esther Chajut, gab bekannt, acht der Obersten Richter hätten deshalb gegen diesen Teil der Justizreform gestimmt, weil er Rechtsstaatlichkeit untergrabe, der israelischen Demokratie schweren Schaden zufüge und Korruption wie den Hang zur Vetternwirtschaft begünstige. Weil sie Gleiches befürchteten – die Verwandlung des Staates in eine Theokratie –, hatten Hunderttausende israelische Bürger im Vorjahr monatelang öffentlich Einspruch dagegen erhoben.

Dass nun die jüngste Entscheidung bereits als Sieg der Demokratie zu deuten ist, muss angezweifelt werden. Das Land ist nicht nur die Besatzungsmacht eines anderen Volkes, sondern hat auch für seine jüdischen und nichtjüdischen Bürger unterschiedliche Rechte festgelegt. Gesetze, gegen die weder das Oberste Gericht noch eine Mehrheit der Demonstranten etwas einzuwenden hatten. Wenn palästinensische Gruppen an den Protestmärschen teilnehmen wollten, wurden sie stets ausgegrenzt.

Das Oberste Gericht und die Besatzung

Trotzdem ist die jüngste Entwicklung für die Palästinenser nicht ganz bedeutungslos. In seltenen Fällen hat das Oberste Gericht in der Vergangenheit zu ihren Gunsten geurteilt. 1979 verfügte es, dass keine israelischen Siedlungen auf Gebieten errichtet werden dürfen, die in palästinensischem Privatbesitz sind. In Einzelfällen widersprach es Enteignungen von Land, dem Bau von Straßenabschnitten in der Westbank und Teilen der Sperrmauer, wenn dadurch das Leben der palästinensischen Bevölkerung stark beeinträchtigt wurde.

Dass solche Urteile nicht die Qualität von Präzedenzfällen hatten und die in den zurückliegenden Jahren immer brutaler fortschreitende Landnahme nicht stoppen konnten, verweist auf die geringe Durchsetzungskompetenz des Obersten Gerichts. Ersichtlichen Schaden trägt nun vor allem Premier Benjamin Netanjahu davon, der hoffte, mit der Justizreform die gegen ihn laufenden Prozesse stoppen zu können, und weiter an Prestige verlor.

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