Ausnahmezustand Israels Maßnahmen gegen die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland sind die schärfsten seit einer Generation. Es gibt ständig willkürliche Festnahmen und tödliche Schüsse von Siedlern auf Bauern, die ihre Olivenbäume abernten wollen
Tränengasschwaden der israelischen Armee umhüllen Palästinenser bei der Olivenernte, dabei unterstützt von internationalen Friedensaktivisten: Westjordanland, Mitte Oktober, nahe der illegalen israelischen Siedlung Ma'on.
Foto: Abed Al Hashlamoun/EPA/Picture Alliance
Shaadi, Isa und Mahmud Saleh blicken über das Tal, ringen die Hände und machen sich Sorgen. In der Gegend gibt es keine Arbeit, und woanders Arbeit zu suchen, ist fast unmöglich wegen der Restriktionen, mit denen Israel die Westbank nach den Angriffen der Hamas am 7. Oktober belegt. Die Hauptstraße, die in ihr Dorf führt, ist fast vollständig blockiert. Derweil wachsen die Schulden der Familie. „So etwas gab es noch nie“, klagt die 73-jährige Isa. „Das ist kein normales Leben mehr.“ Mehr oder weniger gilt das überall in Palästina.
In Gaza hat die israelische Offensive Städte in Trümmerwüsten verwandelt, mehr als eine Million Menschen vertrieben und über 15.000 getötet, darunter zu 40 Prozent Kinder
ent Kinder. Auch die Westbank steckt im Sog der Gewalt. Es gibt Razzien der israelischen Armee, Schusswechsel mit bewaffneten palästinensischen Gruppen, Luftangriffe und immer wieder Proteste, bei denen Steine fliegen. Das harte Durchgreifen der Besatzungsmacht führt zu Tausenden von Verhaftungen. Die Palästinenser fühlen sich den schärfsten Maßnahmen seit Jahrzehnten ausgesetzt.„Es ist eine kollektive Bestrafung für den 7. Oktober“Israels Autoritäten rechtfertigen das als notwendig, um die Sicherheit von Israelis zu gewährleisten und weitere Gewalt zu verhindern, die von der Hamas und anderen Extremisten in der Westbank geplant werde. Es handle sich bei Verhafteten entweder um Hamas-Anhänger oder Leute, die angreifen wollten. NGOs bezweifeln das: Viele der über 2.000 Verhafteten seien unschuldig, sie würden wahllos festgenommen. „Das hat nichts damit zu tun, irgendjemanden zu beschützen. Es ist eine kollektive Bestrafung für den 7. Oktober“, meint der 48-jährige Mahmud Saleh. Was seine Familie jedoch am meisten umtreibe, sei die Sorge um ihre Oliven. Die traditionelle Erntezeit sei fast vorbei, doch könne man die Olivenhaine derzeit kaum erreichen.Das bedeutet kein Öl, keine Seife, keines der anderen Produkte – kein Einkommen aus ihrem Verkauf. Für die drei Millionen Palästinenser ist eine sehr wichtige Zeit außer Kraft gesetzt. Riham Jafari, der in Bethlehem für Action Aid Palestine arbeitet, meint, die Olivenernte sei traditionell „eine besondere und fröhliche Zeit, in der Familien und Freunde zusammenkommen, um ihre Oliven zu pflücken, zu singen und gemeinsam zu essen“. Oliven sind für sich genommen das wichtigste Agrarprodukt im Westjordanland. Von der Ernte leben 110.000 Bauern mit ihren Familien, dazu kommen weitere 50.000 Menschen, die einen Großteil ihres Einkommens durch die Pflege der Bäume oder Olivenprodukte verdienen. Wenn das alles entfällt, ist ein Viertel, wenn nicht ein Drittel der Palästinenser in der Westbank betroffen.Entwurzelt oder verbranntMilhem von der Palestinian Farmers’ Union (PFU) macht dafür die Angriffe und Einschüchterung durch israelische Siedler verantwortlich. Er rechne damit, dass dadurch gut die Hälfte der Ernte an den Bäumen bleibe. Unverkennbar nutzen die Siedler, deren Präsenz nach internationalem Recht illegal ist, das Klima der Angst seit dem 7. Oktober, um ihre ideologische Agenda durchzusetzen. „Es ist ganz anders als die Jahre zuvor. Bäume werden gefällt, entwurzelt oder in Brand gesteckt. Es ist nicht nur dieser Schaden. Die Olivenhaine verkörpern unsere Verbindung zum Land. Auch daraus erwächst unsere Identität als Palästinenser“, so Jafari, dessen Familie einige Pflanzungen besitzt. Bisher galten die Schikanen vor allem Farmern in der Nähe der Trennmauer, die zwischen der Westbank und Israel steht. Seit dem Gaza-Krieg sind so gut wie alle betroffen.Kürzlich machte Benjamin Netanjahu eine „Handvoll Extremisten“ für die Gewalt gegen Palästinenser verantwortlich und warnte, dass ihre Taten zu Problemen in der Westbank führen könnten. Kritiker dagegen sagen, Netanjahus Regierung, an der extrem rechte Parteien beteiligt sind, unterstütze die Siedler und ihre Gebietsansprüche. Im November forderte Finanzminister Bezalel Smotrich, dass es Palästinensern verboten sein müsse, in der Nähe von Siedlungen Oliven zu ernten. Man brauche „sterile Zonen“. Die Siedler waren dafür, schließlich würden sie regelmäßig von palästinensischen Dorfbewohnern angegriffen. Es gehe daher um Selbstverteidigung. Sie hätten immer Angst, wenn sie ihr Zuhause verließen. Im November wurde ein israelischer Soldat an einem Checkpoint der Straße 60 getötet. Daraufhin verlangte Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit, mit der Hamas in der Westbank „genauso umgehen, wie wir es in Gaza tun“.Keine Olivenernte in der WestbankIn den Vorjahren wurde die Olivenernte durch die palästinensischen Behörden und israelisches Militär koordiniert, um es Bauern an bestimmten Tagen zu ermöglichen, ihre Bäume zu erreichen. Für die aus dem Ort as-Sawiya war gerade am Tag vor dem Angriff der Hamas auf das südliche Israel ein Zeitplan veröffentlicht worden. Alle darin vermerkten Termine habe man im Nachhinein annulliert, klagt der 66-jährige Mahoud Ahmed, Sprecher des Dorfrates. „Wir halten Rücksprache und hören von der palästinensischen Autonomiebehörde, dass es keine Antwort von israelischer Seite gibt. Seit dem 7. Oktober ist in unserem Ort jede wirtschaftliche Aktivität erstorben. Die meisten Leute arbeiteten auf dem Bau, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das ist komplett vorbei.“Die israelische Armee verkündet, dass es seit dem 7. Oktober einen deutlichen Anstieg terroristischer Angriffe in der Westbank mit mehr als 550 aufgezeichneten Attacken gegeben habe. Ihre Aufgabe sei es, „die Sicherheit aller Einwohner in der Gegend zu gewährleisten und Aktivitäten zu verhindern, die Bürger des Staates Israel gefährden“.Unterdessen ist inmitten löchriger Straßen und mit Müll übersäter Felder für as-Sawiya die Sorge groß, dass die verschärfte Besatzung vielleicht Jahre dauert. Eine Katastrophe wäre das für den 45-jährigen Shaadi Saleh, der sonst seinen Lebensunterhalt als Maler im Baugewerbe verdient. Er brauche die 13.000 Schekel (3.500 Dollar), die ihm die Olivenernte eingebracht hätte, um die Schulgebühren für seine vier Kinder zu bezahlen. „Aber ich kann nichts machen. Ich sitze nur zu Hause, habe keine Arbeit und keine Oliven.“Von einem israelischen Siedler erschossenZum Schlimmsten für die Familie kam es im Oktober, als ein Cousin von Shaadi in einem Olivenhain erschossen wurde. Bilal Saleh war in der ganzen Region bekannt für die wilden Kräuter, die er auf den Straßen von Ramallah von einem Karren aus verkaufte. Er wurde durch einen Schuss getötet, den ein Siedler abgab, während Bilal am Rand des Dorfes Oliven erntete. Die Bäume stehen ein paar hundert Meter vor den Toren von Rehelim, einer Siedlung auf der abfallenden Hügelkette gegenüber von as-Sawiya. Wie ein Anführer der Siedler mitteilte, handelte es sich um Selbstverteidigung.Die Familie des Toten erzählt, Bilal sei ein stiller, einfacher Mann gewesen, der noch Minuten vor seinem Tod bei seiner Frau und den Kindern war, um das Handy zu holen. „Wir waren nicht mehr bei den Bäumen, seit Bilal erschossen wurde“, sagt Shaadi. „Olivenbäume brauchen sehr lange, um zu wachsen. 50 Jahre oder länger. Man kann sie nicht ersetzen.“Placeholder authorbio-1
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