Israelisch-palästinensische NGO Combatants for Peace: „Es gibt einen anderen Weg“
Interview Osama Iliwat und Rotem Levin von der israelisch-palästinensischen NGO Combatants for Peace setzen sich für eine gewaltfreie Beendigung der israelischen Besatzung und eine friedliche Ko-Existenz von Israelis und Palästinensern ein
Rotem Levin (links) und Osama Iliwant im Cafe „Zuka“ in Freiburg
Foto: Marc Doradzill
der Freitag: Rotem Levin, wie geht es Ihnen im Angesicht der aktuellen Eskalation der Gewalt?
Rotem Levin: Ich persönlich habe immer wieder Streit mit meinen Eltern und meinem engeren Umfeld. Alle besorgen sich Waffen. Alle haben Angst. Ich habe Leute in meiner Familie, die jetzt freiwillig den Reservedienst antreten. Auf Social Media kann man gar nichts mehr sagen, ohne angegriffen zu werden. Zum Beispiel nach Israels Ankündigung, dass Bewohner des Gazastreifens in den Süden ziehen sollen, da fragte ich auf Facebook: Was wird ihre sichere Rückkehr gewährleisten? Leute nannten mich „Verräter“, reihenweise Leute, die ich gar nicht kenne und die mir wütende Nachrichten schrieben. Seit wir hier in Berlin sind, weine ich viel.
Waren Sie persönl
nnten mich „Verräter“, reihenweise Leute, die ich gar nicht kenne und die mir wütende Nachrichten schrieben. Seit wir hier in Berlin sind, weine ich viel.Waren Sie persönlich vom Hamas-Massaker am 7. Oktober betroffen?Rotem Levin: Nicht ersten Grades, aber zahlreiche Freunde von Freunden waren betroffen.Osama, wie erleben Sie die vergangenen Wochen?Osama Iliwat: Ich konnte mir anfangs gar nicht vorstellen, wie das Massaker vom 7. Oktober überhaupt passiert ist. Wo war die Armee? Als ich davon hörte, begriff ich zunächst nicht, wie schlimm es ist. Als ich hörte, dass Zivilisten beteiligt waren, wurde ich wütend. Aber ich verstand immer noch nicht, wie sehr es ans kollektive Trauma des jüdischen Volkes rührt. Dann sprach ich mit linken israelischen Freunden und spürte, dass auch sie sehr verletzt waren. Es dauerte ungefähr einen Tag, bis ich das eigentliche Ausmaß dieser Katastrophe erkannte. Anfangs habe noch verglichen, weil, sehen Sie, jedes zweite Jahr wird in Gaza jemand bombardiert und getötet, und es interessiert niemanden. Aber dann habe ich beschlossen, den Schmerz nicht mehr zu vergleichen. Ich glaube, es sollte hier keinen Wettbewerb geben. Wir müssen jetzt präsent sein, unsere Freunde spüren, ihnen Mut machen, sie umarmen. Selbst, wenn das nur in Form eines Telefonats geschieht.Wie wirkte sie sich das Massaker auf das Leben der Palästinenser im Westjordanland aus?Osama Iliwat: Es folgte eine kollektive Bestrafung für alle Palästinenser. Die Bilder aus Gaza sind schwer zu ertragen. Meine Kinder sind in Jericho. Jede Nacht rufen sie mich an, jede Nacht haben sie Angst. Jeden zweiten Tag werden Menschen auf offener Straße getötet. Fünf Kinder wurden in den letzten drei Tagen getötet, zehn im vergangenen Monat. Meist sind sie zwischen 16 und 18 Jahren alt.Kennen Sie die Menschen in Gaza?Osama Iliwat: Ja. Aber für jemand wie mich, der Gleichberechtigung mit Israelis fordert, gibt es gerade kaum Raum für ein solches Gespräch. Wenn ich dort jetzt über Frieden spräche, würde man mich als Verräter bezeichnen. Sehen Sie, die meisten meiner Familienmitglieder sind Geflüchtete. Ich kann auch mit ihnen kaum reden. Sie kennen einfach keine Israelis. Das System ist eins der konsequenten Trennung. Das erste Mal, dass ich einen Israeli traf, der kein Soldat war, war ich um die 30.„Mit 14 habe ich in meiner Schule in Jericho eine palästinensische Flagge in einen Baum gehängt. Dafür war ich neun Monate lang in Haft, ohne Prozess“Worin besteht Ihre Mission bei Combatants for Peace?Osama Iliwat: Combatants for Peace ist eine binationale Organisation, bestehend aus ehemaligen Kämpfern, ehemalige israelische Soldaten und Palästinenser, die in israelischen Gefängnissen gesessen haben. Viele von uns haben sich nach der Zweiten Intifada kennengelernt. Wir tauschen persönliche Geschichten aus. Unser Ziel ist es, die militärische Besetzung Palästinas durch Israel auf friedliche Weise zu beenden. Nicht mit Waffen, nicht mit Gewalt. Dafür haben wir die Organisation gegründet. Wir glauben, dass Besatzung uns alle gefährdet. Die Organisation bestand anfangs aus zehn Personen, die sich im Geheimen trafen. Heute sind wir etwa 100 aktive Menschen. Wir engagieren uns für Palästinenser, die in Area C in der Westbank leben. Wir versuchen, ihnen zu helfen zu überleben, trotz der ethnischen Säuberungen, die dort tagtäglich stattfinden. Wir versuchen auch, Menschen über gewaltlosen Widerstand aufzuklären und sie weltweit für unsere Ideen zu gewinnen.Osama, Sie selbst haben Zeit in einem israelischen Gefängnis verbracht?Osama Iliwat: Ja. Ich war neun Monate lang in Verwaltungshaft, ohne Prozess. Ich war damals 14 Jahre alt. Ich habe damals in meiner Schule in Jericho eine palästinensische Flagge in einen Baum gehängt. Das war mein Vergehen.Dort leben Sie heute noch?Osama Iliwat: Ja, ich bin noch immer staatenloser Palästinenser ohne Staatsbürgerschaft oder Pass.Und Sie beide haben sich innerhalb der Organisation kennengelernt?Rotem Levin: Genau, ich wurde 2017 aktiv. Damals habe ich angefangen, Arabisch zu lernen. Ich wollte Palästinenser kennenlernen. Ich begann mit Vorträgen über Gewaltlosigkeit. Ich selbst trug eine Waffe, als ich in der Armee war. Ich habe zwar nie jemanden erschossen, aber ich war Teil einer Struktur der Gewalt, die dieses Land prägt. Selbst die Weise, wie die israelische Flagge im israelischen Kontext verwendet wird, ist gewalttätig, auch bei den Anti-Regierungs-Protesten. Sie bedeutet: „Das hier ist unser Platz. Wir wollen hier niemand anders sehen.“Im August urteilte das Oberste Gericht Israels gegen eine von Ihnen eingebrachte Petition zur Teilnahme von Palästinensern an einer gemeinsamen Gedenkfeier, zudem ist die rechte Regierung weiter an der Macht. Wie groß ist der Spielraum, den Organisationen wie Ihre noch haben?Rotem Levin: Es wird immer schwieriger, zusammenzukommen. Die meisten Israelis sind sehr ahnungslos. Sie bräuchten ein Gegenüber, das erkennt, dass viele Israelis im Grunde gute Absichten haben. Aber ich kann von den Palästinensern auch nicht verlangen, dass sie Israelis beibringen, was momentan passiert.Was erwarten Sie sich von deutschen Politikern?Osama Iliwat: Ich erwarte mir, dass sie sich auf die Seite der Menschlichkeit stellen und Menschenrechte schützen, auf beiden Seiten. Die internationale Gemeinschaft ist leider nicht wirklich an unserer Freiheit interessiert. Sie sehen unseren Schmerz nicht. Im Gegenteil, sie machen ihn klein. 300 Menschen wurden allein dieses Jahr im Westjordanland getötet. Die Gewalt der Siedler nimmt täglich zu. Auch Israel zahlt einen hohen Preis hierfür.„Ich selbst setze mich für die Entkolonialisierung Palästinas ein. Aber nicht so. Das Massaker lässt sich nicht entschuldigen“Auf der Linken gibt es Leute, die das Hamas-Massaker anfangs noch relativierten.Rotem Levin: Ich glaube, was diese Art Rechtfertigungs-Diskurs ermöglicht, ist die Distanz. Wenn man vor Ort ist, wenn man das Massaker aus nächster Nähe erlebt hat, merkt man, dass der Schmerz real ist. Und auch, dass jeder Tod eines Israelis die Zahl der Getöteten in Gaza automatisch vervielfachen wird. Ich selbst setze mich für die Entkolonialisierung Palästinas ein. Aber nicht so. Das Massaker lässt sich nicht entschuldigen.Was unterscheidet Ihre Gruppe von anderen Gruppen, die vor Ort in Israel/Palästina tätig sind, wie etwa „Breaking the Silence“?Rotem Levin: Uns geht es um Koexistenz und gewaltlosen Widerstand. Bei „Breaking the Silence“ geht es mehr um die Aufdeckung dessen, was durch Besatzung passiert. Das Besondere bei uns ist der binationale Ansatz, der Nähe erzeugt. Wenn Sie mich fragen, ist das der einzige Weg zur Lösung des Konflikts. Wir müssen lernen, zusammen zu leben, zu arbeiten, Freundschaften zu schließen, Familien zu gründen. Segregation aufzuheben.Osama Iliwat: Wir haben ein palästinensisches und ein israelisches Büro. Wir haben einen palästinensischen Geschäftsführer und einen israelischen. Palästinensische und israelische Medienteams. Wir besprechen und entscheiden alles gemeinsam. Unsere Stimmen sind zu 100 Prozent gleichberechtigt. Wir alle wissen, was Gewalt bedeutet, wir alle haben Freunde verloren. Und trotzdem haben wir beschlossen: Es gibt einen anderen Weg.Gehen Sie auch in Schulen?Osama Iliwat: Früher ja, bis Naftali Bennett Bildungsminister wurde und uns das verboten hat. Wir haben allerdings ein Programm, innerhalb dessen israelische Soldaten aus der Armee ins Westjordanland kommen können, um dort zu leben, in Area C. Wir nehmen sie mit nach Hebron, ins Jordantal und an andere Orte, um ihnen die Maske der Ignoranz zu nehmen und zu zeigen: Unser Feind ist die Segregation und die Diskriminierung. Jüdische Eritreer, Russen oder Amerikaner können jederzeit nach Israel einwandern und alle Rechte genießen. Ich bin 45 Jahre alt und habe noch immer keinen Pass und keinen Staat. Ist das fair?Rotem, stoßen Sie als Israeli innerhalb Palästinas eigentlich auch auf Feindseligkeit?Rotem Levin: Sicher gibt es Feindseligkeit. Ich würde zum Beispiel nicht mit Kippa in der Westbank spazieren gehen. Das ist problematisch, denn Judentum ist nicht gleich Israel. Es braucht Zeit, um Vertrauen aufzubauen. Ich habe viele Freunde im Westjordanland. Es ist ein Prozess, diese Freundschaften aufzubauen, aber es ist möglich. Was die Leute in Gaza betrifft: Ich kann nicht erwarten, dass sie jetzt mit mir reden. Manche würden sicher sagen: „Schmeiß doch einfach deinen Pass weg, wenn du Solidarität zeigen willst.“ Manchmal frage ich mich selbst, ob das noch geht: diesen Pass zu besitzen und die Arbeit zu leisten. Ich glaube, Israelis müssen verstehen: Wenn sie in diesem Land leben wollen, müssen sie sich integrieren. Für mich war das ein jahrelanger Prozess. Ich habe Jahre in Bethlehem und Ramallah verbracht und einfach zugehört, um zu versuchen, die andere Seite zu verstehen.„Als Ukrainer Molotowcocktails auf russische Besatzer warfen, hat die Welt geklatscht. Wenn ich eine leere Flasche auf einen Militärkontrollpunkt im Westjordanland werfen würde, würde ich als Terrorist bezeichnet“Verfolgen Sie als Gruppe eine bestimmte Lösung, die Ein- oder Zweistaatenlösung?Osama Iliwat: Das Problem ist nicht die Form. Israel hat hart daran gearbeitet, die die Zweistaatenlösung zu verhindern. Und die internationale Gemeinschaft hat geschwiegen. Niemand hat Israel gezwungen, sich an das Völkerrecht zu halten. Wir als Palästinenser im Westjordanland haben während der Oslo-Verhandlungen beschlossen, auf 78 Prozent unseres Landes zu verzichten und 22 Prozent als Lösung zu akzeptieren. Seitdem wurde die Zahl der Siedler von 100.000 auf 700.000 erhöht. Die Welt spricht kaum darüber. Es wird mit zweierlei Maß gemessen. Als Ukrainer Molotowcocktails auf russische Besatzer warfen, hat die Welt geklatscht. Wenn ich eine leere Flasche auf einen Militärkontrollpunkt im Westjordanland werfen würde, würde ich als Terrorist bezeichnet.Wie könnte Koexistenz in Ihren Augen praktisch aussehen?Osama Iliwat: Man braucht das gar nicht in die Zukunft denken, es gibt diese Koexistenz ja bereits. Das Problem ist, dass in der jetzigen Form eine Seite alle Rechte hat und die andere nicht. Wenn Sie zu einer Tankstelle in Area C im Westjordanland gehen, werden Sie feststellen, dass Israelis und Palästinenser dort schon heute zusammensitzen und Kaffee trinken. Ich selbst fahre oft mit israelischen Siedlern im gleichen Bus. Und trotzdem darf ich nicht mit meinem Auto nach Israel fahren. Es geht hier um Diskriminierung. Es geht darum, dass eine Seite Macht hat und die andere Seite nicht als Menschen ansieht. Vor ein paar Monaten beschlossen 300 Siedler, in das palästinensische Dorf Huwara zu gehen und es niederzubrennen. Keiner wurde verhaftet. Lediglich sechs Siedler wurden festgenommen und am Tag darauf wieder freigelassen …Rotem Levin: … und ein paar Tage später beschlossen wir dann als Gruppe, die Einwohner von Huwara zu unterstützen, um zu zeigen, dass es Juden und Palästinenser gibt, die so etwas nicht unterstützen. Dass dies auch nicht das Judentum repräsentiert. Was ist passiert? Die Armee griff uns an und verhaftete uns. Israel ist nicht daran interessiert, dass Palästinenser und Juden zusammenkommen. Diese Trennung ist es, was den Gewaltkreislauf aufrechterhalten wird. Wenn die internationale Gemeinschaft sich um Juden in diesem Land kümmern will, sollte sie aufhören, uns immer mehr Waffen zu geben. Helft uns, Teil des Nahen Ostens zu werden.
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