Palästinenser und Juden in Deutschland: „Die Schmerzen brauchen Raum“
Gespräch Gemeinsam über die Traumata von Palästinensern und Juden in Deutschland sprechen – geht das? In dem Berliner Projekt wird im „Trialog“ daran gearbeitet. Ein Gespräch mit Gründer:in Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann
Deutsch-Palästinenserin Jouanna Hassoun: „Es geht um Verständnis und Empathie“
Fotos: Erica Lansner/Redux/Laif, Porträts: Transaidency e.V., Gesellschaft im Wandel (unten)
Viel wurde über die Haltung von Jugendlichen in Berlin-Neukölln zum Nahost-Konflikt gesprochen – Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann sprechen mit ihnen. Sie gehen seit Kurzem in „Trialogen“ an Schulen und sprechen über muslimisches und jüdisches Leben in Deutschland.
der Freitag: Frau Hassoun, Herr Hoffmann, wie haben Schüler*innen in Berlin-Neukölln auf das Massaker am 7. Oktober in Israel reagiert?
Jouanna Hassoun: Ich war in einer Neuköllner Schule. Von den Jugendlichen, mit denen ich dort gesprochen habe, war niemand dabei, der verteidigte, was die Hamas gemacht hat. Aber natürlich wird es die geben. Auch in der Vergangenheit gab es einige Schüler, bei denen ich keinerlei Reflexion gesehen habe. Und das waren nicht mal Palä
Schüler, bei denen ich keinerlei Reflexion gesehen habe. Und das waren nicht mal Palästinenser, das ist ja das Schlimme.Wieso ist das das Schlimme?Hassoun: Wenn ich selbst als Palästinenserin genug Empathie für beide Seiten haben kann, also für israelische Opfer und palästinensische Opfer und ihre Angehörigen – wieso glauben dann Nicht-Palästinenser, mehr Mitgefühl haben zu müssen für meine Landsleute? Dann denke ich mir: Du bist hier in Deutschland geboren und aufgewachsen. Aber ich habe den Krieg erlebt. Wenn ich aus dem Fenster geguckt habe, waren die Panzer vor meiner Haustür. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, was meinem Vater und meinem Onkel angetan wurde. Und trotzdem empfinde ich selbstverständlich Mitgefühl, wenn jüdischen Israelis Gewalt angetan wird.Auch in Deutschland haben Jüd*innen Angst vor Gewalt.Hoffmann: Furchtbar, dass in Deutschland 2023 Juden Angst haben müssen und sich Szenen abspielen wie vor 80 Jahren, dass Davidsterne an Haustüren geschmiert werden. Ich würde mir wünschen, dass genauso wie ich als Jude hier in Deutschland immer darauf hinweise, dass die Muslime nicht in Kollektivhaftung genommen werden dürfen, auch Muslime an der Seite der Juden stehen. Es war noch nie so wichtig, dass wir uns verbünden und zeigen, dass wir gegen jeglichen Hass kämpfen. Das ist jetzt die Probe.Hassoun: Es tut mir weh, wenn mir Leute schreiben, sie haben Angst, ihre Kinder in die Schule zu bringen, die sichtbar jüdisch sind. Auch muslimische Menschen werden jetzt stigmatisiert, haben Angst, abgeschoben zu werden, wenn sie sich äußern. Das ist leider der medialen Debatte und den Extremisten mit ihrem Hass auf allen Seiten zu verdanken. Auch auf der muslimischen. Wir sind zwar die Mehrheit, aber sie sind lauter.„Mein Leben hat sich durch den neuen Krieg um 180 Grad gedreht“Sie gehen zusammen in Schulklassen, um die Zwischentöne lauter zu machen. Wie ändert sich Ihre Arbeit durch die aktuelle Situation?Hassoun: Mein Leben hat sich durch den neuen Krieg um 180 Grad gedreht. Es ist das Traurigste, das in meinem Leben passiert ist. Und dass es erst ein Massaker an jüdischen Menschen und einen brutalen Krieg im Gaza braucht, dass unsere Arbeit hier in Deutschland gesehen und gewürdigt wird, ist einfach todtraurig. Ich arbeite ja schon seit 15 Jahren dazu. Bisher haben wir nie diese Aufmerksamkeit gekriegt.Hoffmann: Das Israel-Palästina-Bildungsprojekt ist unter den widrigsten Umständen entstanden. Ich habe 2018 bei staatlichen Förderinstitutionen um Geld gefleht. Ich wusste, wir müssen die israelische und die palästinensische Perspektive zusammenbringen, das fliegt uns sonst um die Ohren.Sie erhielten keine Förderung?Hoffmann: Nein. Ich habe dann ein Crowdfunding gestartet. Wir haben 30.000 Euro gesammelt. Unser Material wurde mittlerweile tausendfach von der Webseite heruntergeladen.Worum genau geht es in Ihren Workshops an Schulen?Hassoun: Wir sind da, um die Emotionen aufzufangen. Auf der einen Seite versteht die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht, warum muslimische Menschen sich mit den Palästinensern solidarisieren. Und auf der anderen Seite solidarisiert sich die Mehrheitsgesellschaft zu hundert Prozent mit Israel. Die Öffentlichkeit duldet keinerlei Kritik an dem Vorgehen der israelischen Armee, duldet keine palästinensische Identität.Hoffmann: Ich würde meiner Kollegin Jouanna hier einmal widersprechen: Ich finde, man merkt, dass die Mehrheitsgesellschaft ambivalenter wird, was die Position gegenüber der Politik der israelischen Regierung angeht. Ich war gestern bei einem Austausch von jungen Menschen, die wahnsinnig emotionalisiert waren von der Berichterstattung zu Israel, die sie zu einseitig fanden. Aber die Öffentlichkeit funktioniert in Deutschland derzeit so: Wenn ich klarmache, dass es auch um die palästinensische Identität gehen muss, wird im Umkehrschluss verstanden, dass ich etwas gegen Israel habe. Wieso kann ich es nicht ehrlich meinen, wenn ich sage: Das Existenzrecht von Israel darf nicht angetastet werden. Und das Existenzrecht der Palästinenser darf nicht angetastet werden.Auch die Klimabewegung hadert mit einer Positionierung in diesem Krieg.Hoffmann: Die Klimagerechtigkeitsszene verspürt derzeit den Drang, sich auf die Seite des vermeintlich „Schwächeren“ zu stellen.„Manche Linke sind mit ihrer Antwort sehr sicher: Die Unterdrückten sind historisch eindeutig die Jüdinnen und Juden!“Wer sind die Schwächeren aus deutscher Perspektive – Jüdinnen und Juden oder Palästinenser?Hoffmann: Manche Linke sind mit ihrer Antwort sehr sicher: Die Unterdrückten sind historisch eindeutig die Jüdinnen und Juden! Eine andere Wahrheit ist die, dass Palästinenser*innen von Israels Militär in den besetzten Gebieten unterdrückt werden. Das ist eine heikle Frage, die Sie stellen, und sie kann nur multiperspektivisch beantwortet werden. Leider findet oft eine Simplifizierung dieses Konflikts in einer irritierende Binärität statt: gut oder böse.Hassoun: Ab dem Zeitpunkt, als dieses schreckliche, ekelhafte Massaker stattgefunden hat, war mir sofort bewusst, was danach folgen wird. Glauben wir wirklich, dass es jetzt, nach dem, was passiert ist, ein normales Leben geben wird in Gaza oder auch für die Araber in Israel? Während gerade Siedler*innen willkürlich auf Palästinenser losgehen? Ich frage mich, wie schlimm muss es noch werden, bis wir eine Lösung finden? Ich habe auch keine Lösung. Das sage ich jetzt natürlich nicht den Jugendlichen, aber die Gewaltspirale dreht sich einfach gefährlich weiter.Kehren wir zurück nach Deutschland. Wie reagieren Jugendliche auf das Verbot an Schulen, die Palästina-Flagge zu zeigen oder die Kufija zu tragen, das sogenannte Pali-Tuch?Hoffmann: Die sind wütend. Wir wissen ja alle, wie wir als Jugendliche waren: Wenn etwas verboten wird, dann machen sie es erst recht. Wenn nicht in der Klasse, dann woanders. Im schlimmsten Fall gehen sie dann unreflektiert auf irgendwelche Demos und stehen mit dabei, wenn antisemitische Parolen gerufen oder Flaggen verbrannt werden. Ich glaube, ein Ge- oder Verbot ist nicht der richtige Weg, mit diesem emotionalen Kochtopf umzugehen.Sondern?Hoffmann: Erst mal brauche ich Räume, in denen Jugendliche das mitteilen können, was sie fühlen, ohne direkt den Vorwurf zu bekommen, sie stünden der Hamas nahe. Das setzt aber voraus – ganz wichtig! –, dass auch die Lehrer und Lehrerinnen sich über ihre Emotionen zu der Thematik klar sind und bewusst damit umgehen. Die Schüler*innen spüren die Emotionen der Lehrkräfte, damit gestalten sie den Sprechraum.Hassoun: Es gibt so viele Perspektiven, aus denen über den Nahost-Konflikt gesprochen wird. Bei unseren Trialogen geht es darum, unterschiedliche Meinungen stehenlassen zu können, solange sie nicht menschenverachtend oder demokratiefeindlich sind.Hoffmann: Mit den Jugendlichen sprechen wir darüber: Was hat der Holocaust eigentlich für eine Stellung, wenn es um die Gründung Israels geht?„Es geht darum, dass beide Identitäten gleichzeitig stattfinden können, die palästinensische und die jüdische“Da geht es also um die deutsche Perspektive auf den Konflikt?Hoffmann: Da geht es um eine Reibung, die durchaus auch in der israelischen Gesellschaft vorhanden ist: zwischen jüdischen Menschen, die aus arabischen Ländern eingewandert sind und von der Shoah selbst nicht betroffen waren – und aber neben Jüdinnen und Juden leben, deren Angehörige die Shoah erlebten. Da kann man ja durchaus Parallelen ziehen zu einer postmigrantischen Gesellschaft, die sich mit der Erinnerungskultur, wie wir sie hier in Deutschland definieren, vielleicht gar nicht so identifizieren – aber vielleicht selbst Völkermorde in ihrer Familiengeschichte mitbringen, die sie stärker prägen. Genau hier ist die Multiperspektivität gefragt.Hassoun: Es geht um Verständigung und Empathie. Dass beide Identitäten gleichzeitig stattfinden können, die palästinensische und die jüdische. Und wir zumindest in Deutschland gemeinsam leben und unsere Meinung sagen, ohne uns spalten zu lassen.Hoffmann: Wir brauchen Begegnungen, in denen die Schmerzen, die wir als deutscher Jude mit israelischen Wurzeln, aber auch als Palästinenserin haben, Platz haben können. Vor Kurzem haben zwei Jugendliche in einem Workshop angefangen zu weinen. Den Raum dafür brauchen wir.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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