Pro-Palästinensische Demonstrationen in Berlin: Finden wir wieder zusammen?
Neukölln Die Sonnenallee war im Oktober wegen den pro-palästinensischen Demonstrationen oft in der Berichterstattung. Doch was denken die, die dort arbeiten oder leben über den Nahostkonflikt? Ein Besuch nach Abzug der medialen Aufmerksamkeit
Palästinensische Flaggen hängen an den Türen der hell erleuchteten Geschäfte, Aufkleber mit dem Schriftzug „Free Palestine” zieren Ampelmasten. Auf dem engen Gehsteig manövrieren die Menschen gekonnt zwischen den Gemüseauslagen der arabischen Supermärkte und den Tischen der zahlreichen Baklava-Läden und Imbisse.
Erkennungszeichen Kufija
Zwei Frauen, vielleicht Anfang 20, kämpfen sich durch den Novemberregen. In den Händen halten sie Stapel mit Flyern für eine pro-palästinensische Demonstration. In einem Falafel-Imbiss werden sie schon an der Tür mit dem Victory-Handzeichen und „Free Palestine“ begrüßt, sie dürfen die Flyer auf die Theke legen. Das Erkennungszeichen ist die Kufija, das Pali
ie Kufija, das Pali-Tuch, mit dem sich die Träger*innen auch auf der Straße erkennen und grüßen.Aber reden wollen die Frauen nicht. Bei den Wörtern „Journalistin“ und „Fragen“ stockt das freundliche Lächeln, nicht nur bei ihnen. Die Spätkauf-Verkäuferin, die gerade Zigarettenpackungen in die Regale hinter der Theke einräumt, antwortet durchaus: „Alles normal hier.“ Dann fixiert sie ihren Blick wieder auf die Packungen.Die Normalität auf der Sonnenallee im Berliner Stadtteil Neukölln schaut so aus: Sechs Polizeibusse stehen an der Straßenecke, Polizisten patrouillieren über den Gehsteig. In Gruppen von drei, vier Mann besuchen sie auch die Läden.Konfiszierte Palästina-FlaggenKameras und Mikrofone finden sich keine mehr. Die etwa fünf Kilometer lange Straße, die Neukölln und den Bezirk Treptow miteinander verbindet, ist nicht mehr so im Fokus der Öffentlichkeit wie noch vor einem Monat.Am 7. Oktober, als die Hamas brutal Israel überfällt und über 1.200 Menschen ermordet, feiert das inzwischen verbotene palästinensische Netzwerk Samidoun diese Nachricht mit dem Verteilen von Baklava auf der Sonnenallee. In den Tagen darauf werden alle weiteren Demonstrationen und kleinsten Aktionen, wie das Zeigen der Palästina-Flagge, als israelfeindlich ausgelegt und polizeilich „als Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ verboten. Die Lage ist daraufhin angespannt: Die Polizei ist massiv in diesem Bereich von Neukölln unterwegs und gründet unter anderem eine „Bearbeitungsstraße“, wo mehrere Beamte an Tischen sitzend konfiszierte Palästina-Flaggen registrieren. Dazu kommt, dass Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) es den Schulen ermöglichte, palästinensische Symbole wie das Tragen der Kufija zu unterbinden, weil es den Schulfrieden gefährde.Mehrere Nächte lang kommt es zu Ausschreitungen auf der Sonnenallee, genau hier, Ecke Reuterstraße. Es brennen Mülltonnen und Barrikaden, Polizisten werden mit Böllern und Steinen beworfen. Von einem „Bumerang-Effekt“ schreibt der Tagesspiegel, ausgelöst von dem Verbot pro-palästinensischer Demonstrationen. Nun gab die Berliner Innensenatorin Iris Spranger (SPD) die Zahlen bekannt: Von 116 Demonstrationen seien 22 verboten worden.Wo Antisemitismus beginntDie Verbote sind mittlerweile gelockert, fast täglich finden in Berlin und auch bundesweit pro-palästinensische Demonstrationen statt. Auch wenn es größtenteils friedlich zugeht, finden sich die Shoah verharmlosende Plakate auf Demonstrationen wie zuletzt am vergangenen Wochenende, etwa: „Palästina hat es satt, den Mord an den 6 Mio. Juden zu bezahlen“. Zudem werden nun Parolen wie „From the river to the sea, Palestine will be free“ durch das Bundesinnenministerium untersagt.Der Islamwissenschaftler Rami Ali von der Berliner Humboldt-Universität hält das Verbot für falsch. Der Slogan, „seit Jahrzehnten in verschiedensten Kontexten und mit diversen Bedeutungsebenen verwendet“, werde so auf eine einzige interpretative Bedeutungsebene – „nämlich eine ausschließlich antisemitische und zerstörerische“ beschränkt, so Ali.Ging es den Rufenden wirklich um die Infragestellung des Existenzrechts Israels? Oder um die Freiheit aller Palästinenser in dem Gebiet? Wie stark ist der Antisemitismus in der arabischstämmigen Community? Über wen genau sprechen wir hier?, fragt Ali zurück. Es seien ja mehrere Gruppen, die hier zusammengefasst würden: Zugewanderte, meist syrische Geflüchtete, oder jene, deren Eltern bereits in einem arabischen Land geboren wurden, die selbst aber seit mehreren Jahrzehnten hier lebten. Doch seien gewisse Tendenzen in Herkunftsländern nicht von der Hand zu weisen: Antisemitismus werde oft in Form von „Kritik“ an Israel präsentiert, was „in vielen dieser Länder de facto Staatsräson ist“. Es sei kaum möglich, dort aufzuwachsen, ohne ein klares Bild von Israel als Feind und Unterdrücker zu haben. „Dementsprechend schwierig ist es auch, in weiterer Folge zwischen Israel und Juden und Jüdinnen zu unterscheiden – nicht nur deshalb, weil das Bild von Israel gleich Juden auch von offizieller israelischer Seite perpetuiert wird“, meint Ali.Ein US-Journalist ist entsetztUnweit der Sonnenallee wohnt seit neun Jahren Ben Mauk, preisgekrönter US-Journalist, der unter anderem für das The New York Times Magazine und die London Review of Books schreibt. An einem der Abende, als es besonders knallte, sei er „mit dem Presseausweis in der Hand“ von einem Polizeibeamten mit Pfefferspray besprüht worden. Er erzählt, dass ihn nicht nur die allgemeinen Verbote der pro-palästinensischen Versammlungen verstört hätten, die auch von jüdischen Gruppen angemeldet wurden – sondern auch das brutale Vorgehen der Polizisten: „Ich sah, wie Polizisten friedliche Demonstrierende schubsten, schlugen, sie festnahmen und ihnen Pfefferspray ins Gesicht sprühten.“ Er klingt entsetzt. Solch ein brutales Niederschlagen von Protesten hätte er zuletzt als Berichterstatter über autoritäre Regierungen gesehen.Mauk sagt, sein jüdisches Erbe sei untrennbar mit der Wertschätzung allen menschlichen Lebens und der Solidarität mit unterdrückten Menschen verbunden, auch mit den unterdrückten Palästinensern. „Ich werde hier nicht sitzen und Ihnen erzählen, dass es keinen Antisemitismus in Neukölln gibt. Ich würde auch nicht sagen, dass ich keine Angst habe, ich nehme Antisemitismus sehr ernst“, sagt Mauk. Aber er kenne die Daten. „Und die zeigen, dass mehr als 80 Prozent der antisemitischen Straftaten im rechtsradikalen Spektrum eingestuft werden.“Auch wenn die Straftaten seit dem Nahost-Krieg noch nicht erfasst wurden, verzeichnete die Polizei im dritten Quartal dieses Jahres eine Zunahme. Waren es im Vergleichszeitraum im letzten Jahr 306 antisemitische Straftaten, so waren es im dritten Quartal dieses Jahres 540.Was hat sich in seinem Kiez seit Anfang Oktober verändert? Die Proteste für Palästina hätten nicht erst vor einem Monat begonnen, sagt Mauk, das hätte er schon in den Jahren zuvor erlebt. Was sich aber geändert habe, sei die Antwort der deutschen Politik. So initiierte er zusammen mit 100 weiteren jüdischen Intellektuellen, die in Deutschland leben, einen offenen Brief, veröffentlicht in der taz. „Als Jüdinnen und Juden lehnen wir diesen Vorwand als rassistische Gewalt ab und bekunden unsere volle Solidarität mit unseren arabischen, muslimischen und insbesondere palästinensischen Nachbarn“, ist dort zu lesen.Laut Schätzungen leben etwa 40.000 Menschen mit palästinensischer Herkunft in Berlin, viele kamen im Zuge des libanesischen Bürgerkriegs, der 1975 ausbrach.Free Palestine ist nicht HamasGegenüber der Kreuzung, wo die Filiale einer bekannten arabischen Hähnchengrillkette den Eingang zur Reuterstraße markiert, sitzt ein 29-jähriger Palästinenser in einem Café, das frische Säfte und arabischen Kaffee anbietet. Seinen Namen will er nicht nennen. Den Bistrotisch zieht er dicht an sich heran.Seit zehn Jahren lebe er mit einer Kettenduldung in Berlin. Kettenduldung ist eine Aufenthaltsform, die in Deutschland viele Palästinenser als formal „Staatenlose“ innehaben: Sie erlangen keinen sicheren Aufenthaltsstatus, sondern bekommen wiederholt bescheinigt, dass sie vorerst nicht abgeschoben werden – also: „geduldet“ sind. Mit einer Duldung erhielt man bisher keine Arbeitserlaubnis.Seit Kurzem sei er Vater, berichtet der junge Mann. Seit dem 7. Oktober habe er oft deutsche Nachrichten verfolgt, seine Frau sei Deutsche. Er ist erstaunt darüber, dass so einseitig berichtet werde. In den sozialen Medien könne er sich anders informieren. Er zeigt das Tiktok-Video des deutschsprachigen Accounts eines Muslims: „Wenn ich als Muslim einen Fehler mache, ist das mein Vergehen, nicht das meiner Religion. Denn der Islam ist perfekt.“Angst vor muslimfeindlichen ÜbergriffenEr habe Angst vor muslimfeindlichen Übergriffen, sagt der Mann: Seine Schwester, eine Lehrerin, werde im Alltag oft angegangen, weil sie einen Hijab trage. „Wie kann man nur glauben, dass ich für die Hamas bin?“, fragt er. Die Parole „Free Palestine“ würde nur die Besetzung der palästinensischen Gebiete im Westjordanland anprangern. Er und viele andere seien auch bei der Hamas sehr vorsichtig, niemand wisse, wer sie seien, weil sie ihre Gesichter verhüllten.Unweit der Reuterstraße bereiten hinter einer Imbisstheke zwei Männer den Tag vor. Geschnittenes Gemüse liegt bereits in der Auslage, der Shawarma-Spieß brutzelt vor sich hin. Beide wollen ihren Namen nicht nennen, nur so viel: Sie seien vor ein paar Jahren aus Syrien geflüchtet.Der Jüngere ist einen Kopf größer als sein Kollege, hochgewachsen und um die 30 Jahre alt. Sein Kollege ist etwa zehn Jahre älter, mit blitzblauen Augen und silbrigem Haar. Angesprochen darauf, wie sie die Sonnenallee in der jüngsten Zeit erleben, antwortet der Jüngere, während er mit einem umfunktionierten Schlagbohrer lautstark eine Suppe püriert: „Wollt ihr die Wahrheit hören oder nicht?“ Natürlich die Wahrheit. Nicken. Er könne verstehen, dass die demonstrierenden Jugendlichen vielleicht Familie in Gaza hätten. Aber in einem freien Land könne man doch ohne Gewalt demonstrieren. „Zeran“ nennt er die Randalierer: Taugenichtse.Blumen und Humus auf der SonnenalleeDer ältere Mann steigt ins Gespräch ein und erzählt von Freunden aus dem Ausland, die ihn fragen, was für ein Krieg in seiner Straße in Deutschland ausgebrochen wäre. Er muss kurz lachen. Er erzählt dann, dass das geschäftsschädigend gewesen sei, die Auseinandersetzungen mit der Polizei an der Ecke. Viele Kunden trauten sich wegen der schlechten Presse kaum noch in die Sonnenallee.Verständnis für die Situation der Palästinenser hat auch „Urneuköllnerin“ Jenny, wie sie sich nennt, in einem der ältesten Geschäfte an der Allee. Der Blumenladen ist seit 90 Jahren ein Familienbetrieb, schon in dritter Generation. Sie sei aber nur Angestellte, sagt die zierliche Frau in den Dreißigern mit dem braunen Pferdeschwanz. Wenn sie Familie in Gaza hätte, würde sie sich auch Sorgen machen und ihre Trauer ausdrücken wollen, erzählt sie.Zum Schluss empfiehlt sie den Imbiss gegenüber, für den „besten Hummus der Stadt“. Ob sie Angst habe vor weiteren Ausschreitungen? „Nein.“ Sie fühle sich sicher in Neukölln, wo sie aufgewachsen sei, sie lebe gern hier. „Hier geht immer die Sonne auf“, sagt sie und wischt noch einmal über die Theke im Laden.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.