Hinterbliebene von israelischen Friedensaktivisten wollen nicht auf Rache setzen
Terror in Nahost Die Hamas tötete israelische Friedensaktivisten wie Hayim Katsman. Deren trauernde Angehörige gehören zu den wenigen Israelis, die gegen Rache argumentieren. Sie fordern von ihrer Regierung ein Ende der Kriegshandlungen
Fast 200 Menschen wurden von der Hamas in den Gaza-Streifen verschleppt
Foto: Martin Divisek / picture alliance / EPA
Noy Katsman wusste, dass die Trauerrede für ihren Bruder einige der Trauergäste verärgern würde. Noy wollte aber nicht, dass der gewaltsame Tod an Hayim Katsmann dessen Leben als Friedensaktivist in den Hintergrund drängen würde. Die Gefühle von Trauer und Verlust wegen Hayims Ermordung würden noch dadurch verstärkt, dass Israel in seinem Namen einen Krieg begonnen habe, erklärte Noy, der/die sich als nichtbinär versteht, bei der Beerdigung weiter. In Einklang mit der jüdischen Tradition des Respekts vor den Hinterbliebenen forderte Noy, der Krieg müsse aufhören. „Benutzen Sie nicht unseren Todesfall und unseren Schmerz, um anderen Menschen und anderen Familien Tod und Schmerz zu bringen“, erklärte Noy v
y vor hunderten Menschen, während die israelische Regierung Gaza bombardieren und eine Bodeninvasion vorbereiten ließ. „Ich habe keinen Zweifel: Mein Bruder hätte sich selbst gegenüber den Hamas-Angreifern, die ihn ermordet haben, gegen das Töten und Gewalt gegen unschuldige Menschen ausgesprochen.“Ein Ende von Vergeltungsmaßnahmen zu fordern, ist derzeit in Israel, das wegen des Ausmaßes und der Brutalität der von der Hamas am 7. Oktober verübten Massaker erschüttert ist, unpopulär. An einem Punkt in der Trauerrede zeigten die Trauernden laut und deutlich ihren Ärger und fehlende Zustimmung. Aber hinterher kamen Hayims Freunde, um Noy zu danken: „Einer sagte zu mir: ,Dein Bruder hätte gewollt, dass du genau das sagst.‘“Viele der Ermordeten haben sich für Frieden eingesetztNoy und Hayim gehören beziehungsweise gehörten zu Israels relativ kleiner Gemeinschaft von Linken, Friedensaktivisten und Führern von Menschenrechtskampagnen. Es sind Leute, die im Wesentlichen der Meinung sind, dass ihr Land sich den Weg zum Frieden nicht erkämpfen kann.Von den Massakern am 7. Oktober wurden sie persönlich und politisch besonders hart getroffen, da die Hamas-Kämpfer Ziele überfielen, die historisch Zentren des linken Zionismus waren. Daher hatten viele Linke dort Freunde und Verwandte. „In den betroffenen Communities im Süden, in den Kibbuzim, wo Menschen von der Hamas verletzt, entführt und abgeschlachtet wurden, gab es so viele, die sich für Frieden einsetzten. Da waren so viele, die von einer anderen Zukunft träumten“, erzählte Avner Gvarjahu, der Geschäftsführer von Breaking the Silence (Das Schweigen brechen), einer von israelischen Kriegsveteranen gegründeten Gruppe mit dem Ziel, Verfehlungen des israelischen Militärs in den besetzten Palästinensergebietn zu dokumentieren. „Mitglieder aller führenden Menschenrechtsorganisationen wurden entführt, sind tot oder traumatisiert.“Hayim war einer der früheren Soldaten der israelischen Armee IDF, die für Breaking the Silence ausgesagt hatten. Die Gruppe ist in israelischen Schulen verboten, wurde von vielen in der Regierung verunglimpft und war wegen ihrer Arbeit Brandanschlägen ausgesetzt. Hayim war Wissenschaftler und forschte zur religiösen Rechten in Israel. Er verbrachte zudem viel Zeit in palästinensischen Siedlungen in den besetzten Hügeln von Südhebron, dem südlichsten Teil der Westbank, und bot ihnen durch seine Anwesenheit etwas Schutz vor dem israelischen Militär, der Polizei und israelischen Siedlern in der Region.Friedensaktivisitin Vivian Silver wurde nach Gaza veschlepptZu den Opfern aus den Kibbuzim in unmittelbarer Nähe des Gaza-Streifens gehörten auch Schlomi and Schachar Matias. Das Paar gehörte zu den Gründern einer bilingualen Schule, die Kinder auf Hebräisch und Arabisch unterrichtete unter dem Motto „jüdisch-arabische Bildung für Gleichheit“.Unterdessen wurde Vivian Silver, Gründungsmitglied der Gruppe Women Wage Peace (Frauen schaffen Frieden), als Geisel nach Gaza verschleppt. Sie hatte unter anderem auch den Transport von Palästinenser:innen organisiert, die die seltene Erlaubnis erhielten, den Gaza-Streifen für eine medizinische Behandlung zu verlassen. Es wird davon ausgegangen, dass weitere Mitglieder der Gruppe bei ihr sind, darunter Oded und Jochka Lifschitz, beide über achtzig.„Das einzig Machbare ist eine politische Lösung“Im Klima der Wut und der verbreiteten Unterstützung für Krieg versuchen Aktivist:innen unter den Angehörigen von Toten und Vermissten wie Noy einen Weg zwischen Trauer und öffentlicher politischer Aussage zu finden. „Ich war dort“, schreibt Ziv Stahl, die Geschäftsführerin der Menschenrechtsgruppe Jesh Din, die im Editorial für die linke Tageszeitung Haaretz davon berichtete, wie sie sich zusammen mit einem verletzten Familienmitglied stundenlang in einem Schutzraum versteckte. „Ich habe kein Bedürfnis nach Vergeltung. Nichts wird die zurückbringen, die gestorben sind. Alle militärische Macht auf der Welt wird keine Verteidigung und Sicherheit bringen. Das einzig Machbare ist eine politische Lösung.“Für diejenigen, deren Verwandte in Gaza als Geiseln gehalten werden, ist es eine zusätzliche Qual, die israelischen Luftangriffe auf den Streifen zu beobachten. Neda Heiman, die sich ebenfalls bei Women Wage Peace engagiert, hat seit Samstag früh keinen Kontakt mehr zu ihrer 84-jährigen Mutter, Ditza Heiman. Später sah Heiman auf einem Video, wie ihre Mutter von bewaffneten Hamas-Kämpfern gezwungen wurde, auf einen Lastwagen zu steigen, der dann Richtung Gaza fuhr. „Ich bleibe dennoch überzeugt, dass nur eine politische Lösung die Probleme beenden kann“, erklärt sie. „Gaza zu bombardieren, kann keine permanente Lösung sein. Wir waren schon dort. Das wurde probiert.“Dieser Botschaft wird in Israel allerdings nur wenig Sende- oder Sprechzeit eingeräumt. Noy gab mehr als 20 Interviews zu der Trauerrede, über Hayims Arbeit und den Aktivismus der Geschwister. Von israelischen Medien gab es keine einzige Anfrage. Dennoch fand Noy Trost darin, dass online positive Rückmeldungen sowohl von Israelis als auch von Leuten kamen, die sagen, sie seien in Gaza. „Ich wollte Ihnen nur sagen, wie leid es mir tut, was mit Ihrem Bruder geschehen ist. Und ich möchte Ihnen sehr danken, dass Sie uns nicht tot sehen wollen wie alle anderen“, schrieb jemand.Nicht nur der Geheimdienst hat versagtEin Land, das sein Militär und seinen Geheimdienst für einen der gefürchtesten und effektivsten der Welt hielt, ist durch deren katastrophales Versagen am Boden zerstört. Aktivist:innen argumentieren, dass die Wurzeln für das Versagen der Sicherheitsdienste am 7. Oktober in einem viel tiefergehenden Versagen liegen: nämlich in der politischen Vision. Werde das nicht angegangen, sind sie überzeugt, wird Israel niemals sicher sein.„Man sieht, wie dieser Schmerz benutzt wird, in eine negative Richtung zu gehen, die uns nichts weiter verspricht als mehr Schmerz, mehr Blut, mehr Verlust“, beklagte Alon-Lee Green von der israelischen Graswurzelbewegung Standing Together (Zusammenstehen), in der sich jüdische und palästinensische Bürger:innen Israels gemeinsam engagieren. „Als Staat haben wir das Recht, unsere Bürger:innen dagegen zu verteidigen, abgeschlachtet zu werden. Aber wir müssen uns die sehr fundamentale Frage stellen: Und was dann? Wir erobern den Gazastreifen und was dann?“Israels rechter FlügelSeit Jahrzehnten ist die Linke eine schwindende Kraft in der israelischen Politik. Bei Wahlen im Jahr 1992 erhielten zwei linke Parteien, die Arbeitspartei und Meretz, zusammen fast die Hälfte der Stimmen. Bei den letzten Wahlen schaffte es Meretz nicht ins Parlament, und der Anteil der Arbeitspartei an den Wählerstimmen lag nur noch im einstelligen Bereich. Innerhalb von 20 Jahren hat Israels rechter Flügel nach und nach einen breiten, wenn auch widerstrebenden Konsens darüber zerschlagen, dass der Weg zu langfristiger Sicherheit in einer Verhandlungslösung mit den Palästinensern zur Bildung von zwei Nachbarstaaten besteht.2003, als die zweite Intifada wütete, argumentierte sogar der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon, dass Israel nicht ewig palästinensisches Land besetzt halten könne. Er, der als Hardliner galt und die Siedlungen in Gaza und der Westbank unterstützte, setzte sich für Israels Rückzug aus Gaza ein, der dann 2005 auch erfolgte. Kurze Zeit später erlitt Scharon einen Schlaganfall.Netanjahu festigte seine Macht unter anderem mit dem Argument, Israel könne den Gazastreifen unter Kontrolle halten und die Besatzung des Westjordanlandes handhaben. Die Unterstützung für eine Zwei-Staaten-Lösung bröckelte, während Israel Brücken zu Staaten in der Region aufbaute, die sich früher geweigert hatten, seine Existenz anzuerkennen. In jüngeren Wahlumfragen rangierte auf der Liste der Sorgen der Wähler:innen Sicherheit weiter unten – ganz oben stand die Wirtschaft.Viele der Überlebenden und Hinterbliebenen des Massakers sagten, sie fühlten sich von einer Regierung verlassen, die wusste, dass sie in den Gebieten in der Nähe von Gaza nur wenige Wähler:innen besaß. Unter Netanyahu wurden die finanziellen Mittel für das Militär und die Aufmerksamkeit in Richtung Westbank und der Siedlungsaußenposten dort verschoben, die für seine Wähler:innen und Verbündeten Priorität haben.Vier von fünf Israelis machen Netanjahu verantwortlich für die MassakerDie Warnungen der Aktivist:innen wurden nicht gehört, doch teilen heute mehr Menschen ihren Ärger und ihre Frustration. Eine jüngste Umfrage der Jerusalem Post ergab, dass rund vier von fünf Israelis Ministerpräsident Benjamin Netanjahu für die Massaker verantwortlich machen. Die meisten denken zudem, er solle zurücktreten, wenn der Krieg vorbei ist. Weniger klar ist, ob sie nur Netanjahu als Person hinterfragen oder auch das Sicherheitsmodell, das er vertritt.„Über ein Jahrzehnt lang haben wir uns Märchen erzählt. Wir meinten, die Tatsache ignorieren zu können, dass wir Millionen Menschen durch Zwang kontrollieren. Das Pulverfass ist jetzt explodiert“, erklärte Gvarjahu von Breaking the Silence. „Die Vorstellung, dass wir eine Besatzung ignorieren können; ignorieren, dass Millionen in Gaza ohne Rechte leben, Millionen in der Westbank ohne Rechte“, ist für den Friedensaktivisten eine Wurzel des Problems: „Wir stehen an einem historischen Moment, der das entweder zementiert oder uns die Chance bietet dazu beizutragen, den Lauf der Dinge zu ändern. Das ist die größte Herausforderung, vor der wir stehen.“
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.