Der amerikanische Film The day after von 1983 beschreibt als Fiktion die Auswirkungen eines Nuklearkrieges in den Vereinigten Staaten und die damit einhergehenden Verwüstungen. Die Infrastruktur ist zerstört, es fehlen Nahrungsmittel und Medikamente, die Menschen irren herum, ihre soziale Ordnung ist zerfallen. Der brutale Angriff der Hamas auf Israel hat einen Krieg ausgelöst, der dieses Szenario den Bewohnern des Gazastreifens auch ohne einen atomaren Schlag immer näher bringt. Angesichts des Vorgehens der Hamas mag eine harte Antwort Israels nachvollziehbar sein. Gleichwohl ist es wichtig, den Krieg möglichst schnell zu beenden und sich bereits heute Gedanken über „die Tage danach“ zu machen. Insofern ist es zu begrüßen, dass Auße
h bereits heute Gedanken über „die Tage danach“ zu machen. Insofern ist es zu begrüßen, dass Außenminister Antony Blinken jüngst vor einem US-Senatsausschuss erste Eckpunkte für die Zukunft dieses Gebietes skizzierte.Pflicht der BesatzerDemnach soll die Hamas keine Rolle mehr spielen, vielmehr eine „effektive und neu belebte Palästinensische Autonomiebehörde“ die Regierungsgewalt übernehmen. Da dies Zeit bräuchte, könne übergangsweise eine Friedenstruppe aus den arabischen Ländern Gaza verwalten. Die USA beabsichtigten nicht, sich daran zu beteiligen, und auch Israel wolle das 2005 schon einmal geräumte Gebiet nicht regieren. Ziel bleibe eine Zwei-Staaten-Lösung.Es ist allerdings zweifelhaft, ob, wie und wann diese Vorstellungen umsetzbar sind. Zunächst dürfte das Problem Hamas nicht so einfach aus der Welt zu schaffen sein. Die Vorstellung einer vollständigen Zerschlagung erscheint angesichts ihrer Verankerung in der Bevölkerung von Gaza und der internationalen Unterstützung schwer umsetzbar. Selbst das Ausschalten der Führungsspitze dürfte nicht einfach sein. Der zwischen Hamas und Israel geführte asymmetrische Krieg tendiert zu einer längeren Auseinandersetzung. Er wird nur unter Anwendung massiver Gewalt zu gewinnen sein. Das dadurch erzeugte Leid würde zu einer weiteren Radikalisierung der Palästinenser, auch in der Westbank, führen. Im Ergebnis wäre die Hamas vielleicht militärisch geschlagen, an ihre Stelle träten dann aber andere Gruppen.Sollte es dennoch gelingen, die Hamas oder ihre Führung weitgehend auszuschalten, müsste jemand im Gazastreifen ein Mindestmaß an Ordnung aufrechterhalten. Eigentlich wäre das die vom Völkerrecht vorgegebene Pflicht der israelischen Streitkräfte als Besatzer. Deren dauerhafte Präsenz an diesem Ort scheint freilich unerwünscht zu sein, weil dies die israelische Armee binden und permanenten Gefahren durch Anschläge aussetzen würde. Also erscheint die Idee, für eine Interimszeit ein Friedenskorps aus arabischen Ländern zu stationieren, plausibel. Doch welches Land würde dafür Truppen bereitstellen?Jordanien fällt aus, weil dort viele Palästinenser leben. Ägypten müsste aufgrund der langjährigen friedlichen Koexistenz mit Israel eigentlich teilnehmen, doch sind die ägyptischen Militärs den Palästinensern in Gaza wegen deren Nähe zu den Muslimbrüdern in tiefer Abneigung verbunden. Als weitere Kandidaten gelten die Vereinigten Arabischen Emirate und Marokko, die beide mit Israel sogenannte Abraham-Abkommen abgeschlossen haben und über professionelle Armeen verfügen, die den Kern von Friedensverbänden stellen könnten. Saudi-Arabien wäre ebenfalls gefragt – und sei es, um für die Finanzierung aufzukommen.Die Rolle der Palästinensischen AutonomiebehördeDoch ergibt das Ganze nur dann einen Sinn, wenn die Palästinensische Autonomiebehörde übernehmen kann und will. Beides trifft gegenwärtig nicht zu. Ihr fehlen die Ressourcen und die Akzeptanz, um Gaza effektiv zu kontrollieren und zu führen. Sie wird das nur können, wenn eine akzeptable politische Lösung für das Palästinaproblem auf die Tagesordnung kommt. Dabei darf es sich nicht wie üblich nur um ein bloßes Bekenntnis handeln. Es müsste vielmehr ein dynamischer Prozess vorangetrieben werden. Dazu gehört auch der Wiederaufbau Gazas, vor allem seine Einbindung in ein regionales Wirtschaftsprojekt. Jedoch dürfte die gegenwärtige israelische Rechtsregierung für einen solchen Prozess nicht zu haben sein. Der radikale Flügel dieses Kabinetts will Gaza ganz oder teilweise annektieren. Man redet einem „Großisrael“ das Wort und befeuert damit den Zulauf für jene extremistischen Kräfte, die ein „Großpalästina“ anstreben. Unter diesen Umständen fällt es wahrlich schwer, an eine friedliche Zukunft für die Zivilbevölkerung Gazas zu glauben.So weit entfernt eine Zwei-Staaten-Regelung auch zu sein scheint, sie bleibt die beste Lösung angesichts der Tatsache, dass die Ziele der das jeweilige Existenzrecht negierenden Extremisten auf beiden Seiten nur wieder auf Krieg und Vertreibung hinauslaufen. Israel steht vor der Wahl zwischen einer permanenten Belastung durch Gaza und das Palästinaproblem oder der ernsthaften Wiederbelebung einer Zwei-Staaten-Option.Hier sind hauptsächlich die USA gefragt, entsprechenden Druck auszuüben. Die Frage ist nur, ob sie dazu bereit sind. Einerseits will Washington fest zu Israel stehen, das nicht nur sein Vorposten in der Region ist, sondern auch über Einfluss innerhalb der USA verfügt. Andererseits kann Joe Biden Israel keine „carte blanche“ ausstellen. Er war bisher zwar relativ distanziert gegenüber Benjamin Netanjahus Rechtskoalition, müsste sie nun aber stärker an die Kandare nehmen: aus humanitären Gründen, um einen regionalen Flächenbrand zu verhindern und seine Wahlchancen für 2024 zu wahren. Israel war wohl noch nie so abhängig vom Partner in Washington wie heute – vielleicht ist das eine letzte Chance. Es war ein Fehler Bidens, den Ansatz der Trump-Administration einfach fortzusetzen und auf bilaterale Abkommen zwischen Israel und den arabischen Staaten unter weitgehender Missachtung des Palästinaproblems zu setzen. Diesen Fehler muss Washington dringend korrigieren, wenn „der Tag danach“ nicht, wie im Film, dystopische Züge annehmen soll.Placeholder infobox-1