Ist Israels Plan ein Anstoß, Gaza als palästinensischen Staat auszurufen?
Historische Chance Zieht sich Israels Regierung unter Benjamin Netanjahu, wie angekündigt, am Ende völlig zurück, hinterließe dies einen völlig entkoppelten Gazastreifen. Er wäre allein nicht existenz-, das Gebiet aber gerade deshalb staatsfähig
Israelischer Panzer am Grenzzaun zu Gaza, nahe des Kibbuz Be’eri, 13. Oktober 2023
Foto: Jonathan Alpeyrie/Bloomberg/Getty Images
Die Hamas und ihre Alliierten zerschlagen, Gaza in Gänze als Kriegsschauplatz betrachten und sich dann komplett aus den verwüsteten 360 Quadratkilometern zurückziehen – so die Matrix des Drei-Stufen-Plans, wie ihn der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant am 21. Oktober vorgelegt hat. Eine Exit-Strategie der besonderen Art, die Krieg und Nachkrieg gleichermaßen umfasst.
Danach befindet man sich gegenwärtig noch in der ersten Phase, um den Gegner und seine Infrastruktur aus der Luft und am Boden zu bekämpfen, es folge als zweiter Akt der Truppeneinsatz „gegen Nester des Widerstandes“. Stufe drei gelte einem „völlig neuen Sicherheitsregime“ für Gaza, das auf eine „Aufhebung der Verantwortung Israels für
für das alltägliche Leben im Gazastreifen und die Einführung einer neuen Sicherheitsrealität für die Bürger Israels“ ziele. Dies legt die Annahme nahe, künftig vollkommen abzuriegeln, was bisher schon kategorisch abgeschottet war. Alle Verbindungen zu kappen, das heiße auch, so Gallant, weder Wasser, Strom noch Waren in das betreffende Gebiet zu liefern.Diskreditierte Palästinensische AutonomiebehördeWas die Frage aufwirft, wer tut es dann, und wer übernimmt die administrative Verantwortung? Doch wohl kaum die abgewirtschaftete Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die für eine Mehrheit der Palästinenser als Marionette Israels diskreditiert ist. Die PA hat durch friedfertige Passivität jahrelang nichts erreicht, um eine permanente Landnahme israelischer Siedler in der Westbank aufzuhalten und den Palästinensern dort ein weitgehend rechtloses Dasein zu ersparen.Doch zurück zu Gallants Agenda. Was sie durchzieht, ist das Momentum einer „Stunde Null“, eingeläutet durch die Bekanntgabe, die Hamas existiere nicht mehr, und einen anschließenden Gaza-Rückzug. Alles sonst kann sich Benjamin Netanjahu nicht leisten. Sein politisches Überleben ist gesichert, solange dieser Krieg geführt wird – es hängt danach davon ab, wie er endet. Auch wenn das offener ist, als es scheint, könnte Yoav Gallants angekündigte Abkehr ein alternativloser Anstoß sein, Gaza als palästinensischen Staat auszurufen. Der wäre auf Trümmern errichtet, um für alle Zeit das Bewusstsein dafür zu schärfen, was er sich wert sein sollte – politisch kein Nachteil.EU, Arabische Liga, UNDenn sämtliche Regierungen weltweit, Staatenassoziationen (EU, Arabische Liga) und internationale Foren (UN), die derzeit im Wissen um die Folgenlosigkeit ihres Bekenntnisses erklären, sie hätten die Zwei-Staaten-Lösung nicht aufgegeben, müssten demnach Wegbereiter eines solchen Projektes sein: als Schirmherren, Sicherheitsgaranten und Aufbauhelfer. Der Regierung Netanjahu oder deren Nachfolgern sollte es recht sein. Wer sich radikal trennt, überlässt anderen und anderem das Feld. Wird der Gazastreifen aufgegeben, muss er aufgefangen werden. Kriegszerstörung und Hilfsbedürftigkeit der Überlebenden verlangen es.Durch einen Gaza-Staat wäre überdies ein Standard gesetzt, bei dem internationales Recht greift und einen – zumindest formalen – Schutz verspricht. Es kommt hinzu: Bisher haben die Geschosse des letzten Gaza-Krieges immer die Blindgänger des vorletzten aus dem Boden gewühlt. Diesmal allerdings zeigen die Gegner Israels einen ziemlich langen Atem und das strategische Talent, vielen Facetten einer asymmetrischen Konfrontation gewachsen zu sein – von der Geiselnahme über unterirdische Kommandozentren bis zum Vermögen, nach drei Wochen massiver Luftschläge immer noch Raketen abzufeuern, die nicht nur Grenzorte, sondern Tel Aviv treffen.Diese Verwundbarkeit zu tilgen, wird nicht allein davon abhängen, wie viel von der Hamas oder dem Islamischen Dschihad übrig bleibt, sondern von dem, was in und mit Gaza geschieht, wenn die Waffen einmal schweigen. Natürlich wird Israel dann mit aushandeln wollen, wie mit den Konsequenzen seiner totalen Abkehr umgegangen wird.Das Gaza-Jericho-Abkommen von 1994Weil das zu erwarten ist, lohnt es, auf Lösungsansätze zurückzukommen, wie sie 1993/94 nicht nur erwogen, sondern vertraglich vereinbart waren, als schon einmal die Zeichen auf Abzug israelischer Militärmacht aus Gaza und der 65-Quadratkilometer-Region Jericho in der Westbank standen. Um dies zu regeln, gab es im September 1993 eine Prinzipienerklärung zwischen der PLO Yassir Arafats und der Regierung des Premiers Yitzhak Rabin, dazu im Mai 1994 das Gaza-Jericho-Abkommen zwischen den gleichen Partnern. Darin war die Rede von einer „Sicherheitshülle“, die es für die um diese Zeit noch vorhandenen israelischen Siedlungen in Gaza und deren „Verbindungen“ mit israelischem Kernland geben sollte.Da diese Siedlungen seit 2005 aufgelöst sind, spielt das heute keine Rolle mehr, nicht aber ein in den 1990er-Jahren gefundenes Muster, nach „Zwischenlösungen“ bei offenen Fragen zu suchen. Damals bezog sich das auf den Status von Jerusalem, die Flüchtlingsfrage (Rückkehrrechte für die 1947/48 Vertriebenen), die Grenzziehung, Sicherheitsvorkehrungen und den Zeitrahmen für „finale Lösungen“.Nur eines stand für alle Beteiligten von vornherein fest: der Status der Palästinensergebiete würde nach Verhandlungen nicht mehr der vorherige sein. Die Autonomie für Teile des Westjordanlandes brachte das zum Ausdruck, auch wenn daraus keine Vorstufe palästinensischer Staatlichkeit wurde, da sich Israel nie wirklich und unwiderruflich zurückzog. Gaza-Staat in den Vereinten NationenBei einem nun jedoch völlig entkoppelten Gazastreifen wäre das vermutlich anders. Allein nicht existenzfähig, wäre das Gebiet gerade deshalb staatsfähig, weil das gebotene Ausmaß an internationalem Beistand, das Israel mit jeder Artilleriegranate nach oben schraubt, durch einen solchen Status begünstigt und legitimiert wäre. In den Vereinten Nationen könnte Gaza-Staat Anwalt in eigener Sache sein. Versteht sich, dass die Westbank von einer solchen Entwicklung nicht unberührt bliebe. Eben deshalb steht zu befürchten, dass die Verheißung des Yoav Gallant kein letztes Wort, sondern taktische Rhetorik eines Ministers ist, dessen Regierung Rache zur Raison d’être von Politik erhoben hat und damit Gefangener ihrer selbst ist.
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