Noch bevor Israel einer Million Palästinenser die Order gab, ihre Häuser zu verlassen und nach Süden zu fliehen, zog Lubna mit ihren vier Kindern und allem Besitz, den sie tragen konnten, zum Haus einer Freundin. Es liegt in der Stadt Chan Yunis, nahe der Grenze zu Ägypten. Die Familie konnte sich zunächst ein Zimmer teilen. Als jedoch immer mehr Menschen aus dem Norden des Gazastreifens ankamen, war das vorbei. „Wir sind nicht mehr die einzige Gastfamilie im Haus, es gibt inzwischen noch andere. Jetzt schlafen sieben Frauen mit ihren Kindern in einem Zimmer, während die Männer alle draußen übernachten“, so Lubna. „Es gibt keinen Strom und so gut wie kein Wasser. Dazu die Bombeneinschläge, ständig und überall. Un
Und wenn ich ‚überall‘ sage, dann heißt das überall.“ Das Haus ihrer Freundin sei mehrfach nur knapp verfehlt worden.Neben den ständigen Luftangriffen ist der Wassermangel die größte Entbehrung. Der Gazastreifen ist seit zwei Wochen von der Treibstoffversorgung abgeschnitten, sodass die Generatoren für den Betrieb von Entsalzungsanlagen oder Wasserpumpen ausfallen. Selbst wenn mehr Hilfskonvois aus Ägypten durchkämen – Israel hat durchgesetzt, dass sie keinen Treibstoff transportieren dürfen, damit dieser nicht von der Hamas oder anderen bewaffneten Gruppierungen verwendet werden kann.Ein Ende der katastrophalen Wasserknappheit ist daher nicht in Sicht. Viele Menschen sind bereits schwer dehydriert. „Jeder hier hat weniger als einen Liter pro Tag“, klagt Lubna. Das von den Vereinten Nationen empfohlene absolute Minimum zum Überleben liegt bei 15 Litern pro Person und Tag. „Wir leben nur von Konserven, die zur Neige gehen. Da es kein Wasser zum Reinigen des Geschirrs gibt, verwenden wir Plastikteller und -löffel. Als ich meine Periode hatte, war es extrem schwierig, wenigstens ein bisschen Wasser zu finden, sodass ich mich reinigen konnte.“Lubna ist mit vier Kindern geflohen – ihrer 17-jährigen Tochter Salma, der 14-jährigen Ghena, dem elfjährigen Suliman und dem erst achtjährigen Ahmad. Sie sind auf einem stetig kleiner werdenden Raum zusammengedrängt und wissen nie, ob die nächste Bombe nicht diejenige sein wird, die ihre Zuflucht zerstört. Lubna beschreibt ihre Kinder als „ruhig und ausgeglichen“. Sie würden ihr nie Ärger machen. Doch das habe sich in den vergangenen zwei Wochen voller Aufregung und Angst total verändert. Sie würden viel schreien und seien hyperaktiv. „Schon deshalb sollten wir, so schnell es geht, zu unserem normalen Leben zurückkehren.“ Angesichts der drohenden Bodenoffensive israelischer Truppen wohl eine ferne Hoffnung.Placeholder image-1Weil auch der Süden ständig beschossen wird, fragen sich viele der Vertriebenen, ob sie zu Hause nicht sicherer oder zumindest keinen größeren Risiken ausgesetzt wären. Das UN-Hilfswerk für Katastrophenhilfe berichtet, dass einige der Geflüchteten ihre Unterkünfte im Süden wieder verlassen hätten und zurück in den Norden gezogen seien. „Jeder denkt darüber nach, was man am besten tun sollte, um zu überleben“, sagt Lubna. Wie sie verließ auch Khadija mit ihrer Familie das Zuhause im Norden. Sie landete in einem Gebäude, wo sich im Schnitt mittlerweile 25 Personen eine Wohnung teilen. „Als uns klar wurde, dass wir den Norden verlassen mussten, zogen wir erst in die Nähe eines Krankenhauses, weil wir glaubten, da am besten geschützt zu sein, doch das war ein gewaltiger Irrtum“, erzählt Khadija. Dort schliefen die Lebenden zwischen den Toten oder in den Operationssälen.Also machten sie sich auf den Weg nach Süden. „Dieser Tag wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Es waren Hunderte von Menschen, die unter der prallen Sonne in eine Richtung liefen. Ich sah eine Frau, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hatte und mit ihrem Mann das Baby in eine Kiste legte, weil sonst nichts da war. Ich sah behinderte Kinder, alte Menschen, alle zu Fuß.“Khadijas Familie hält augenblicklich mit 30 Personen in einer Wohnung aus. Auch sie fühlen sich in Chan Yunis nicht sicher. „Wir führen ein Leben, bei dem wir den einfachsten Lebensbedürfnissen nicht nachkommen können. Kein Wasser, kein Strom, kein Essen. Bitte beenden Sie diesen Krieg.“20 Trucks passierten am zurückliegenden Wochenende dank eines von US-Präsident Joe Biden drei Tage zuvor mit der israelischen und ägyptischen Regierung ausgehandelten Deals die Grenze nach Gaza. Was schließlich unterwegs war, stellte ein wahrlich lächerliches Maß an Hilfe dar. Die Lastwagen transportierten Güter für eine medizinische Notfallversorgung, aber weder Lebensmittel noch Wasser noch Treibstoff. Für Hunderttausende in den Zeltlagern und anderen Behelfsunterkünften erwies sich das als keine wirklich wirksame Unterstützung. Und das in einer Situation, in der es keinerlei Anzeichen für eine Feuerpause, geschweige denn Frieden gibt.Michael Ryan, Notfalldirektor der Weltgesundheitsorganisation WHO, erklärte dazu, die Hilfe müsse von nun an „Tag für Tag eintreffen“. Ein erster Konvoi von 20 Lastwagen sei nicht mehr „als ein Tropfen auf den heißen Stein in der aktuellen Not“. Wie Ryan haben Hilfsorganisationen gewarnt, dass die Güter, die in den Gazastreifen sollen, für eine verzweifelte Bevölkerung nicht ausreichen und zu spät kommen.Auf dem „Friedensgipfel“ in Kairo am Samstag verlangten denn auch UN-Generalsekretär António Guterres und andere Diplomaten einen „humanitären Waffenstillstand“. Freilich waren weder Israelis noch hochrangige US-Beamte vor Ort, um sich diese Bitte anzuhören. Guterres nannte das Leben im Gazastreifen einen „schrecklichen Albtraum“. Mehr als zwei Millionen Palästinenser könnten schon bald in eine Lage geraten, in der das keine zutreffende Beschreibung mehr ist, weil alles noch viel schlimmer werden kann, als es schon ist.