Israel/Palästina: Ägypten, Jordanien und das Gaza-Szenario einer zweiten Nakba
Auf der Flucht Ägyptens Präsident As-Sissi erteilt Überlegungen eine Absage, die 2,3 Millionen Palästinenser im Gazastreifen in Richtung Sinai zu vertreiben. Auch Jordanien fürchtet, dass eine Devise der Ultrarechten in Israel wahr wird. Was will Katar?
Gaza-Hilfskonvoi mit dem Gesicht von Ägyptens Präsident as-Sisi, 300 Kilometer östlich der Grenze, 16. Oktober
Foto: Khaled Desouk/AFP/Getty Images
Der Krieg im Nahen Osten, bislang noch auf den Gazastreifen beschränkt, wird in der arabisch-islamischen Welt naturgemäß anders wahrgenommen als im Westen. Während die hiesige Wahrnehmung rund um Staatsräson, Solidarität mit Israel und Antisemitismus kreist, fürchten die Staaten in der Region eine humanitäre Katastrophe, den Flächenbrand und nicht zuletzt eine weitere „Nakba“, deutsch: „Katastrophe“. Als Nakba wird im Arabischen die vorsätzliche und gezielte Vertreibung von rund drei Viertel der palästinensischen Bevölkerung im Zuge der israelischen Staatsgründung 1947/48 bezeichnet.
Damit einher gingen furchtbare Massaker, die in der kollektiven arabischen Erinnerung präsent bleiben. Aus dieser Pe
dieser Perspektive sind die jetzigen Bilder von Tod und Zerstörung im Gazastreifen die Fortsetzung historischer Erfahrungen mit Israel. Im westlichen und besonders im deutschen Verständnis ist der jüdische Staat hingegen Heimstatt der Holocaust-Überlebenden, den zu kritisieren sich weitgehend verbietet, erst recht nach dem brutalen Überfall der Hamas. Gleichzeitig glauben viele Deutsche, sie hätten die richtigen Lektionen aus der jüngeren deutschen Geschichte gelernt, indem sie sich möglichst vorbehaltlos hinter jede israelische Regierung stellen, so rechtsextrem sie auch sein mag.Die Schizophrenie der arabischen MachthaberIn der arabischen Lesart jedoch ist Israel in erster Linie eine vom Westen alimentierte koloniale Siedlermacht, die eine zweite Nakba plant. Das führt zu einer gewissen Schizophrenie. Die meisten arabischen Machthaber haben sich mit Israel arrangiert, streben eine Normalisierung und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen an. Nur müssen sie Rücksicht nehmen auf die Stimmung in ihrer jeweiligen Bevölkerung, die derzeit explosiv ist. Allein wegen der hohen Opferzahlen in Gaza: Stand 23. Oktober wurden 5.087 Palästinenser getötet und 15.273 verletzt, 62 Prozent von ihnen Frauen und Kinder.Sichtbar wurde diese Schizophrenie beim Gipfeltreffen arabischer und westlicher Staaten plus Russland und China in Kairo am 21. Oktober, zu dem Vertreter Israels nicht geladen waren. Ägypten hat bereits 1979 einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen und in der Folgezeit den seit dem Sechstagekrieg 1967 israelisch besetzten Sinai zurückerhalten. Washington zahlt Kairo seither jährlich Milliardenbeträge, die vor allem der ägyptischen Armee zugutekommen, dem eigentlichen Machthaber im Land. Jordanien hat 1994 diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen.Dennoch gehören Ägyptens Präsident Abd al-Fattah as-Sisi und Jordaniens König Abdullah II. zu den schärfsten Kritikern Israels. As-Sisi erteilt allen Überlegungen eine Absage, die 2,3 Millionen Palästinenser aus Gaza in Richtung Sinai zu vertreiben, und warnt vor der „Liquidierung der palästinensischen Sache“. Offenbar spielt man in der israelischen Führung durchaus mit der Option, die Bewohner von Gaza ganz aus dem Küstenstreifen zu verdrängen – weshalb die dortigen Palästinenser aufgefordert wurden, in Richtung Süden zu fliehen. Irgendwann, so womöglich das Kalkül, werden Hunderttausende die Grenze zu Ägypten bei Rafah schlichtweg überrennen, aus Hunger, Durst und Todesangst. As-Sisi weiß das. Westliche Staaten würden ihm sicherlich zusätzliche Milliardenbeträge zahlen, um die Flüchtlinge irgendwo im Sinai anzusiedeln, voraussichtlich in tristen Zeltstädten. Das aber wäre für Ägypten destabilisierend, der Widerstand würde sich erneut formieren und Israel nicht zögern, auch hier militärisch zu intervenieren, wie schon im Libanon.Arbeitsteilung Israel/KatarVerschärft sich der Krieg, sieht auch Jordanien düsteren Zeiten entgegen. Aufgrund seiner geografischen Lage hat das Land in den vergangenen Jahrzehnten Millionen Flüchtlinge aufnehmen müssen: aus Palästina, dem Irak und Syrien. Aus Sicht israelischer Rechtsextremisten und messianisch inspirierter Siedler braucht es keinen palästinensischen Staat. Es gebe doch schon einen: Jordanien. 60 Prozent der dortigen Bevölkerung sind Palästinenser, Vertriebene oder deren Nachkommen aus den Kriegen von 1947/48 und 1967. Palästina ist Jordanien, so die Devise der Ultrarechten in Israel. Kommt es zum Flächenbrand in der Region, dürfte die Regierung Netanjahu geneigt sein, auch einen Exodus der Palästinenser aus der Westbank Richtung Jordanien ins Auge zu fassen. Offiziell aus Sicherheitsgründen.Hinter den politischen Kulissen spielt Katar eine wichtige Rolle. Doha unterhält gute Beziehungen zur Hamas, aber auch zu Israel und vor allem zu den USA. Die Freilassung der ersten Geiseln aus Gaza hat die dortige Regierung erreicht. Die Hamas ist 1987 aus der ägyptischen Muslimbruderschaft hervorgegangen, die wiederum seit dem Putsch von General as-Sisi 2013 massiv verfolgt wird. Auch deswegen wird Kairo niemals zulassen, dass die Hamas in Ägypten Einfluss gewinnt. Doha dagegen unterstützt ebenso wie Ankara die Muslimbrüder und somit auch die Hamas – als Gegengewicht zum wahhabitischen Staatsislam in Saudi-Arabien, wo die Muslimbrüder ebenfalls verfolgt werden.Katar handelt mit Wissen und Billigung Israels wie der USA. Seit 2012 bestreitet das Emirat einen wesentlichen Teil des palästinensischen Staatshaushalts im Gazastreifen, der von der Hamas regiert wird – mit grünem Licht aus Israel, das nach internationalem Recht als De-facto-Besatzungsmacht für die Versorgung Gazas zuständig ist. Diese „Arbeitsteilung“ trägt Katar hierzulande den Vorwurf ein, „Terrorsponsor“ zu sein.Washington wandelt auf einem schmalen Grat. Dort steht man „felsenfest“ (Joe Biden) auf der Seite Israels, doch die Warnungen des US-Präsidenten, Israel müsse das humanitäre Völkerrecht achten, sind Ausdruck tiefer Besorgnis vor einer Eskalation der Lage. Denn je grauenvoller die Bilder von Tod und Zerstörung im Gazastreifen sind, umso mehr Massenproteste wird es weltweit geben. Die Macht der Bilder könnte auch in Deutschland die „Staatsräson“ durchaus erschüttern. Vor allem aber haben amerikanische Entscheider augenscheinlich verstanden, dass sich der Globale Süden wie schon im Ukraine-Krieg keineswegs die Sicht des Westens zu eigen machen und sich „felsenfest“ an die Seite Israels stellen wird. Die Glaubwürdigkeit westlicher Politik droht einmal mehr Schaden zu nehmen.Der GAU: ein Übergreifen des Krieges auf den Iran, der die Hisbollah unterstütztSollte Israel tatsächlich eine Großoffensive im Gazastreifen einleiten, könnte die Hisbollah vom Südlibanon aus den Norden des Landes angreifen. Der GAU wäre ein Übergreifen des Krieges auf den Iran, der die Hisbollah unterstützt. Dann käme es zu einem unkontrollierbaren Flächenbrand. Unter anderem würden die Ölpreise explodieren, mit allen Folgen, die sich daraus nicht zuletzt auch für die ohnehin schon angeschlagene deutsche Wirtschaft ergäben. Überall in der Region wäre der Nährboden bereitet für weitere gewalttätige und terroristische Gruppen, die zum Dschihad gegen den Westen, gegen die Unterstützer Israels aufrufen. Im politischen Washington ist man sich dieser Szenarien bewusst, nicht zuletzt aufgrund eigener Erfahrungen im „Krieg gegen den Terror“ nach den Anschlägen von 9/11. Die Bundesregierung dagegen agiert als bloße Interessenvertretung Israels: Nachdem sie das Verlangen nach einer Waffenruhe aus humanitären Gründen beim EU-Treffen in Luxemburg zunächst klar ablehnte, rang sich Außenministerin Annalena Baerbock nun doch zu einer solchen Forderung durch.Wie wenig Berlin oder Tel Aviv die katastrophale Lage der Menschen im Gazastreifen kümmert, zeigt sich bereits auf symbolischer Ebene: Gerade einmal 20 LKW mit Hilfsgütern durften bisher von ägyptischer Seite aus in das Kriegsgebiet fahren, am Tag des Gipfels in Kairo. 20 Trucks für 2,3 Millionen Eingeschlossene.Der Kern des Problems bleibt die ungelöste Palästina-Frage. Die Kriegsführung Israels im Gazastreifen gefährdet die politische Stabilität im Nahen Osten. Am Tag des Gipfels in Kairo demonstrierten 100.000 Menschen in London gegen die Belagerung und Zerstörungen. Am 18. Oktober gingen 10.000 in Washington auf die Straße – organisiert von der Jewish Voice for Peace. „Nicht in unserem Namen“, skandierten sie, oder: „Schluss mit der israelischen Unterdrückung der Palästinenser.“ 500 überwiegend jüdische Demonstranten wurden bei einem Sit-in im Kapitol festgenommen. Kein Thema in hiesigen Medien. Die brutale Gewalt der Hamas hat eine Tragödie provoziert. Die israelische Regierung schreibt sie fort und riskiert dabei ein Armageddon.
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