Aner Shapiro war ein Linker: Granaten der Hamas warf er mit bloßer Hand zurück

Meinung Aner Shapiro war ein Anarchist, der gegen die Regierung von Benjamin Netanjahu protestierte. Er glaubte an die menschliche Gemeinschaft. Am 7. Oktober stellte er sich schützend vor einen Luftschutzbunker
Ausgabe 44/2023
Persönliche Gegenstände blieben nach dem Massaker der Hamas auf das Supernova Music Festival in der Wüste liegen
Persönliche Gegenstände blieben nach dem Massaker der Hamas auf das Supernova Music Festival in der Wüste liegen

Foto: Alexi J. Rosenfeld/Getty Images

Der Soldat Aner Shapiro war für ein paar Tage auf Kurzurlaub, den er auch dafür nutzte, gänzlich unbewaffnet und in Zivil das Supernova-Festival zu besuchen, nahe dem Kibbuz Re’im – als in den frühen Morgenstunden die ersten Raketen einschlugen und viele noch glaubten, es handle sich um einen „normalen“ Beschuss aus Gaza, der bald vorbei sein würde. Und Aner?

Wie sein Großcousin, der Filmemacher Emanuel Cohn, in den sozialen Medien berichtet, fand der 22-Jährige mit etwa 20 Festivalbesuchern Zuflucht in einem kleinen, halboffenen Luftschutzbunker: „Aber es kehrte keine Ruhe ein. Im Gegenteil. Von allen Seiten stürmten plötzlich bewaffnete palästinensische Terroristen heran, warfen mit Handgranaten um sich und metzelten mit Maschinengewehren jeden Festivalbesucher nieder, der in ihrer Reichweite lag.“

Die Terroristen nahmen sechs Geiseln mit

Aner habe den Ernst der Lage sofort begriffen, die Leute im Bunker beruhigt und aufgefordert, zusammenzurücken; er werde am Eingang Wache stehen. Was sich nun ereignete, so Cohn, werde als eine der mutigsten Taten eines Einzelnen in die Geschichte Israels eingehen: „Eine Granate kam herangeflogen. Innerhalb von vier Sekunden würde sie explodieren. Aber Aner packte sie mit der Hand und warf sie zurück. Und noch eine! Und noch eine! Ganze sieben Granaten, die auf dem Weg in den Bunker waren, wurden von Aner mit bloßer Hand aufgefangen und zurückgeworfen. Die achte Granate schließlich bezwang ihn.“

Schwer verletzt habe er am Eingang gelegen, ohne Aussicht auf medizinische Hilfe. Sein Freund Hersh Goldberg-Polin, einige Schritte hinter ihm, verlor durch die Explosion eine Hand. Minuten später drangen Hamas-Terroristen in den Bunker ein, nahmen Hersh und fünf andere als Geiseln mit. Doch etwa die Hälfte der Menschen, die sich mit Aner im Bunker versteckt hatten, haben überlebt, teilweise verletzt oder indem sie sich tot stellten, bis die israelische Armee sie befreite. Es gebe sogar ein Foto, erzählt Cohn, das einer der Überlebenden aus dem Inneren des Luftschutzbunkers gemacht hat, darauf Aner Shapiro, wie er am Eingang des Bunkers wacht.

Das Trauma

Am 7. Oktober 2023 hat die Hamas 1.400 Menschen abgeschlachtet. Seit der Shoa sind nie so viele Juden an einem Tag ermordet worden.

Auch die in Deutschland lebenden Juden und Jüdinnen durchleben gerade ein Trauma. Den sicheren Rückzugsort für jüdische Menschen in aller Welt gibt es nicht mehr. Im Internet haben sie die Videos gesehen, von gefangenen jüdischen Frauen, deren Hosen infolge schwerster Misshandlung voller Blut waren. Sie haben gesehen, wie die Leichen Ermordeter von arabischen Zivilisten bespuckt wurden, wie entführte israelische Kinder von palästinensischen Kindern und Erwachsenen schikaniert wurden. Sie haben die Freudentänze in der Sonnenallee in Berlin-Neukölln gesehen. Schon am nächsten Tag haben sie hierzulande militante Linke erlebt, die sich mit dem „antikolonialen Befreiungskampf“ der Hamas solidarisieren.

Anders aber als die Faschisten der Hamas war Aner Shapiro ein Linker. Mit Hunderttausenden Israelis hat er gegen Benjamin Netanjahus Justizreformpläne demonstriert. Emanuel Cohn sagt, Aner habe an die Kraft des Individuums und menschlicher Gemeinschaften geglaubt und daran, dass sie sich selbst entfalten können, auf der Basis absoluter Freiheit und jenseits staatlicher Kontrolle. Ein „Anerchist“ sei er gewesen. Möge ihm die Erde leicht sein.

Karsten Krampitz hat soeben das Buch Pogrom im Scheunenviertel. Antisemitismus in der Weimarer Republik und die Berliner Ausschreitungen 1923 im Verbrecher-Verlag veröffentlicht.

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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