Israel/Hamas: Der Wettlauf des militärischen Zynismus in Gaza erreicht einen Gipfel
Analyse Die Hamas wollte mit ihrem Terror eine brutale Reaktion provozieren, Israel übertrifft diese Erwartungen, in Gaza wie im Westjordanland. Strategisch herrscht nun ein Patt. Hoffnung stiften einzig Whistleblower aus Militär und Geheimdiensten
Menschen versuchen einer Frau Trost zu spenden, die ihre bei einem israelischen Luftschlag getötete Tochter in Händen hält. Rafah im Süden des Gazastreifens, 1. Dezember 2023.
Foto: Mohammed Abed/AFP/Getty Images
Aus dem sicheren Katar hat jüngst der Hamas-Stratege Khalil al-Hayya der New York Times recht offen erklärt, was das Ziel des brutalen Angriffs vom 7. Oktober auf den Süden Israels gewesen ist: Die Provokation eines Gegenschlags, der bitte so hart ausfallen möge, dass die Palästina-Frage weltweit wieder auf die Agenda rückt. Die Empörung über die erwartbare Bomben-Apokalypse sollte so groß werden, dass bestenfalls arabische Staaten zu den Waffen griffen, zumindest aber Israel weltweit an Rückhalt verlöre – und der Druck der Straße so groß werde, dass jegliche Entspannungs- oder gar Annäherungstendenzen seitens arabischer Staaten Makulatur würden.
Israel greift nun massiv den Süden Gazas an
Seither liegt die
egliche Entspannungs- oder gar Annäherungstendenzen seitens arabischer Staaten Makulatur würden.Israel greift nun massiv den Süden Gazas anSeither liegt die Initiative bei Israel. Es ist nach der Logik dieses Kalküls zu einer Kriegsführung herausgefordert, die das von der Hamas eingepreiste Maß an Brutalität noch übertrifft: Auf dass die Gewalt am Ende auf die Hamas selbst zurückfalle, indem sie von innen einknickt oder die Straße ihre Empörung auch oder zuerst auf diejenigen richtet, die diese aktuelle Runde des Tötens und Sterbens kühl und berechnend heraufbeschworen haben.Diesen Wettlauf in Sachen Zynismus sollte im Hinterkopf haben, wer sich den aktuellen Nachrichten aus Gaza aussetzt – um über hilflose moralische Empörung hinauszukommen. Denn Israel „liefert“ in einer Weise, der zuzuschauen menschlich schwierig ist. Aus dem Waffenstillstand sind die Israel Defence Forces nahtlos in den Krieg zurückgekehrt – offenbar auf nochmals höherer Eskalationsstufe. Massiv greifen die IDF nun auch den Süden des Gazastreifens an, in den zu flüchten der Zivilbevölkerung von Gaza-Stadt bislang stets nahegelegt worden war.„Kollateralschäden“Es ist klar, dass dort wie in solchen Konflikten überhaupt massenhaft Nicht-Militante getötet werden. „Chirurgische Eingriffe“, die nur legitime Ziele treffen und „Kollateralschäden“ minimieren, sind unmöglich. Das weiß man seit den Kriegen gegen Rest-Jugoslawien und den Irak, in deren Kontext diese Unworte in Umlauf kamen. Erst recht muss das gelten, wenn ein so dicht und teils so chaotisch besiedeltes Gebiet wie Gaza unter Feuer liegt.Neu hingegen ist das gesicherte Wissen darum, dass das Treffen auch nicht-militärischer Ziele in der israelischen Kriegsführung eben nicht als Unfall angesehen wird, sondern Teil des Plans sein kann. Gegenüber dem investigativen Online-Magazin +972 haben israelische Militär- und Geheimdienstleute die Strategie der IDF erläutert. Auf der Ziel-Liste stünden nicht nur „Family Homes“, wenn auch nur ein Bewohner als Militanter gilt, sondern auch „Power Targets“. Das seien Universitäts-, Bank- und Verwaltungsgebäude sowie Büro- und Wohnhochhäuser. Angriffe auf solche Ziele sollten bewusst die Gesellschaft treffen, auf dass diese „zivilen Druck“ auf die Hamas ausübe.Die „Frohe Botschaft“ der Künstlichen IntelligenzDas ist – so sehr solche Vergleiche hinken – im Grunde nichts anderes als das „Moral Bombing“ im Zweiten Weltkrieg, wenn auch noch längst nicht in damaliger Dimension: Der Schrecken der Bomben soll so groß werden, dass der Wunsch, dass das aufhört, den Hass auf die Bomber überwiegt. Solche Pläne entstehen nicht über Nacht. Sie lagen schon vor dem 7. Oktober in den Schubladen.Umso abgeschmackter wirkt Israels Public Diplomacy, die den Anschein einer „fairen“, Unbeteiligte möglichst schonenden Kampagne zu erwecken versucht. Jetzt wird von Internetkarten und Flugblättern mit QR-Codes berichtet, die den Weg an vermeintlich sichere Orte wiesen, wenn man denn Strom und Netz hätte. Den Gipfel des militärischen Zynismus markiert derweil der Name jener Künstlichen Intelligenz, die – nach welchen Kriterien auch immer – Angriffsziele für die IDF auswirft: „Habsora“ – englisch: „The Gospel“, also Evangelium oder frohe Botschaft.Dieses automatisierte Identifizieren zu treffender Ziele, das Israel in Gaza erprobt, wird Schule machen. Es übertrifft nicht nur technisch menschliche Möglichkeiten, sondern verspricht auch, nach und nach einen Faktor auszuschalten, der nach der Logik des Krieges eine ewige Schwäche ist – den menschlichen Skrupel.Fakten schaffen im WestjordanlandGanz so weit ist es aber noch nicht. Während die Menschen in Gaza mit Überleben beschäftigt sind, wenden sich jetzt, an einem kritischen Punkt des Krieges, jene Militär- und Geheimdienstleute an die Öffentlichkeit, die von „Power Targets“ berichten. Ist hier das Fünkchen Hoffnung zu finden, das man derzeit haben kann? Dass die zynische Wette zwischen der Hamas und Israels rechter Regierung an menschliche Grenzen stößt?Ansonsten sieht es trübe aus, nämlich nach einer Art Patt. Weder wendet sich die Arabische Straße gegen die Hamas noch greift der arabische Raum zur Waffe gegen Jerusalem. Israel gerät unter Druck, aber nicht dort, wo es wichtig ist, also im Westen – und die erzislamischen Saudis haben ihre Annäherung an den jüdischen Staat eher auf Eis gelegt denn abgeblasen. Die Siedler nutzen die Chance, im Westjordanland Fakten zu schaffen, was stets die Autonomiebehörde schwächt, den zweiten Hauptfeind der Hamas. Diese aber wird überleben, egal was geschieht – und sei es zunächst nur im Golf-Exil. Traurig, aber wahr: So kann es eine Weile weitergehen.
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